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MIT
GESPITZTEM BLEISTIFT
1993 hat er seinen ersten Urlaub seit 31 Jahren genommen. Drei Wochen hätte
er dauern sollen. Alle waren mit nach Griechenland gekommen: seine Frau, seine
zwei Töchter, seine zwei Hunde, sogar die Putzfrau. – Am zweiten
Tag wußte er nicht mehr, was er tun sollte. Abbruch. Und Mstislav
Rostropowitsch, 68, hat sich geschworen, bis zu seinem Tode nie weder
Urlaub zu machen.
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„Musik“, sagt der Cellist und Dirigent Mstislav Rostropowitsch,
„ist mein Hobby.“ Mit vier Jahren hat er begonnen, von seiner Mutter
Klavier zu lernen. Mit acht Jahren hat ihn sein Vater, Schüler von Pablo
Casals, ihn in das Violoncello-Spiel unterweisen. Mit zehn ging er an eine Musikschule,
mit 13 gab er sein erstes Konzert, mit 19 schloß er seine Cello-, Kompositions-
und Instrumentationsstudien (bei Kozolupow, Schebalin und Schostakowitsch) am
Moskauer Konservatorium mit Auszeichnung ab.
„Musik“, sagt Mstislav Rostropowitsch, „ist mein Hobby.“
Er heimste erste Preise bei Wettbewerben in der Sowjetunion ein und spielte
bald in den USA, in Kanada, in Süd-Amerika, in Japan, Indien, Neuseeland,
Australien und natürlich auch West-Europa. Er gründete ein Duo mit
Swatoslaw Richter, ein Trio mit Emil Gulels und Leonid Kogan. Er war mit Mjaskowskij,
Prokjoffief, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Casals und Britten befreundet,
aber auch mit Bernstein, Sauguet, Boulez und Schnittke. Ungefähr 70 Kompositionen
wurden ihm gewidmet. Seine 7-monatige Konzertreihe „Die Geschichte des
Cellokonzerts“ umfaßte 132 Werke aus drei Jahrhunderten.
Ich treffe ihn Ende April, einen Monat vor der Uraufführung von Alfred
Schnittkes „Gesualdo“, in der Staatsoper, und Rostropowitsch sagt:
„Musik ist mein Hobby, und das teilt sich in vier Richtungen: Cello, Klavierbegleitung,
Unterrichten und Dirigieren.“
Beim Cello-Spielen wird ihm ein mächtiger Ton und ein markanter Rhythmus
nachgesagt. Er hat seine Frau, die Sopranistin Galina Wischnewskaja, 30 Jahre
lang bei Liederabenden begleitet. Obwohl ihn viele darum gebeten haben, sonst
niemand anderen. „Nur über meine Leiche“, soll seine Frau gesagt
haben.
Er war, von 1959 bis 1978, Professor für Cello und Kontrabaß am Moskauer,
von 1963 bis 66 Ehrenprofessor am Leningrader Konservatorium („in St.
Petersburg“, sagt er).
Und er behauptet, wenn er nicht als Cellist bekannt wäre, wäre er
als Dirigent viel mehr anerkannt. Von 1977 bis 1994 jedenfalls war er Chefdirigent
des National Symphonie Orchestra Washington (NSO).
„Musik“, sagt er, „ist mein Hobby.“ Im Juni hat er mittlerweile
von insgesamt 15 zehn Konzerte in Dresden dirigiert, dazu zweimal „Gesualdo“
an der Staatsoper. Im Juli leitet er das EU-Orchester, und arbeitet überhaupt
am liebsten mit jungen Musikern. Aus Pflicht, wie er sagt. Er hatte persönlichen
Kontakt zu Schostakowitsch, zu Prokoffief und zu Britten: „Ich weiß,
wie die Werke dieser Leute gespielt werden sollen. Ich war bei den Proben zu
den Uraufführungen dabei. Die Bogenstriche in der Partitur zu Prokoffiefs
siebenter Symphonie sind von mir. Das muß ich weitergeben.“
Abgesehen davon, hat er zum ersten Mal in seinem Leben („für Bach
war ich nie bereit, und ich bleibe nicht genug bereit“) die Solo-Suiten
Johann Sebastian Bachs aufgenommen. Und zwar „privat“, ohne Plattenfirma;
er bezahlt alles selbst. Wenn er mit den Aufnahmen glücklich ist, wird
er sie herausgeben, wenn nicht, verbrennt er die Bänder. – Und im
Herbst kommen alle 15 Schostakowitsch-Symphonien unter seiner Leitung auf CD
heraus, zur Hälfte mit dem London Symphonie Orchestra, zur Hälfte
mit dem NSO.
Zwei Schostakowisch-Konzertzyklen sind auch in Planung: Der eine in St. Petersburg
mit sechs Symphonien und fünf Kammermusik-Werken, der andere in London,
wo fast das ganze Werk des Komponisten aufgeführt werden soll.
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Rostropowitsch, Jahrgang 1927, ist bis Herbst 1998 ausgebucht (unter anderem
mit der „Lolita“-Uraufführung in Stockholm und den Premieren
von „Chowantschtschina“ am Bolschoi-Theater und „Peter Grimes“
in Wien). Dann will er weitersehen.
Sein Bleistiftspitzer
„Ich bin der glücklichste Mensch“, sagt Mstislav Rostropowitsch.
Musik ist, wie gesagt, sein Hobby. Musik ist für ihn aber auch „der
Spiegel der Seele“. Nur die Seele mache die Musik. Er ist sich sicher,
Beethoven hätte nie so komponiert, wäre er nicht ertaubt. „Leiden
ist die wichtigste Sache.“ Leiden, behauptet er, ist für einen Künstler
gewissermaßen der Bleistiftspitzer.
Sein Bleistiftspitzer: 1971 erhielt er Aureiseverbot, weil er den verfemten
Schriftsteller Alexander Solschnizyn in sein Haus aufgenommen hatte. Er durfte
zwar spielen und dirigieren, seine Auftritte wurden aber nicht erwähnt
und nicht besprochen. „Es war eine künstlerische Quarantäne“.
1974 wurde ihm ein zweijähriger West-Aufenthalt bewilligt, der dann bis
1978 verlängert wurde. Im März 1978 wurde ihm die sowjetische Staatsbürgerschaft
und alle sowjetischen Auszeichnungen aberkannt.
Er erfuhr davon im französischen Fernsehen: „Das war der schlimmste
Tag in meinem Leben“. Er war überzeugt, daß er seine Heimat,
seine Freunde nicht wiedersehen würde. Er konnte kaum Englisch und Französisch.
„Es war wie eine zweite Geburt.“ Eine Diffamierungs-Kampagne begann,
gegen die er sich mit Presse-Konferenzen und -Erklärungen zur Wehr zu setzen
versuchte. Erst 1988 behauptete er, die Wunde, die ihm zugefügt worden
war, würde nicht mehr schmerzen.
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Im Februar 1989 wurde Rostropowitsch wieder in den sowjetischen Komponistenverband
aufgenommen. Im Jänner 1990 erhielt er Staatsbürgerschaft und Auszeichnungen
zurück, im Februar gastierte er mit dem NSO in Rußland, wo er 1974
letztmals dirigiert hatte, wurde auf dem Flughafen von Tausenden empfangen und
gefeiert. Er verlangte, die SU-Führung solle sich bei Solschenizyn entschuldigen,
besuchte die Gräber von Schostakowitsch, Oistrach und Sacharow. Im September
1993 dirigierte er das NSO unter freiem Himmel am Roten Platz in Moskau („der
Höhepunkt meiner US-Karriere“), und Boris Jelzin überreichte
ihm die Medaille „Verteidiger der Freiheit Rußlands“ für
„selbstlose Tapferkeit beim Schutz der russischen Demokratie“.
"Ein Schnitt in meinem Herzen"
„Ich bin der glücklichste Mensch“, sagt Mstislav Rostropowitsch.
„Was ich erlebt habe, hat kein Mensch erlebt, aber ich war auf alles vorbereitet.“
Und schließlich habe sich doch alles zum Guten gewendet. Auch in Rußland.
Als er 1991 vom Putsch erfuhr, ist er spontan nach Moskau gefahren. Er hat sich
gedacht, es sei der Welt vielleicht weniger gleichgültig, wenn ihm dort
etwas zustoßen würde, als wenn Tausende Unbekannte stürben.
Aber: „Ich bin kein politischer Mensch.“ Er habe sich für Solschenizyn
und Sacharow engagiert, weil die Freunde waren. Daß er Solschenizyn 1971
in sein Haus aufgenommen habe, war für ihn eine rein menschliche Handlung.
Der zweite Tolstoi oder Dostojewksy hatte kein Dach überm Kopf!
Auch als er nach dem Fall der Berliner Mauer dort Cello spielte, war das keine
politische Aktion. Denn „die Mauer war immer wie ein Schnitt in meinem
Herzen“. Ein Schnitt, der immer schmerzte. 1989 ruft ein Freund an, er,
Rostropowitsch, soll rasch den Fernseher aufdrehen. Er habe zuerst gar nicht
erkannt, was los sei. Als er erkannte, daß da Menschen auf und bei der
Berliner Mauer stehen, mußte er weinen (sagt er mit Tränen in den
Augen). „Noch ein Geschenk in meinem Leben.“
Er ruft seinen Freund zurück, dieser solle ihn am nächsten Tag nach
Berlin fliegen. Vier Kommandanten mußten für den Flug die Bewilligung
geben, aber niemand hat gewußt, daß er komme, mit seinem Cello komme.
Er wollte nichts als Gott danken, ganz privat.
In Berlin besteigt er ein Taxi. Wohin? – Zur Mauer, egal wo. Als er angelangt
ist, weiß er, daß er einen Fehler begangen hat: Wo er bisher aufgetreten
war, ist immer ein Stuhl gestanden. Er hat keinen dabei. Also muß er einen
organisieren. Sein Freund borgt einen Stuhl aus, und der Mann fragt: „Ist
das nicht Rostropowitsch? Jetzt weiß ich, wofür Sie einen Stuhl brauchen.“
Und ist mit dem Stuhl gekommen – und seinen Freunden.
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Rostropowitsch sitzt also vor der Mauer und spielt. Hinter ihm ist auf der Mauer
eine Micky Mouse aufgesprayt. Er kommt sich vor wie auf einem surrealistischen
Gemälde.
Ein Soldaten-Arsch berühren
„Ich muß ein bißchen ausholen“, sagt Mstislav Rostropowitsch.
Am 9. Mai 1945, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, hätten in Moskau
alle in den Straßen gefeiert. Jede habe Brot, Wodka, Wein mitgebracht,
was er halt noch bessesen habe. Es sei wie das Finale der Neunten Beethoven
gewesen. Man habe Soldaten gefangen und sie auf den Schultern durch die Straßen
getragen. Und jeder habe versucht – „entschuldigen Sie“, sagt
er zur Dolmetscherin – den Arsch eines Soldaten zu berühren.
Vor zwei Jahren war er mit seinem Orchester in Riga. Hinter die Kulissen sei
plötzlich ein armer alter Mann gekommen und habe zu ihm gesagt, er sei
hiergeblieben und es gehe ihm schlecht. Rostropowitsch habe ihm Moment nicht
gewußt, was er antworten sollte. Doch als der Mann weggegangen war, habe
er sich gedacht, vielleicht war das der, dessen Arsch ich berührt habe.
Und er wollte „zurückzahlen“.
Also ist er in St. Petersburg zum Bürgermeister – einem Freund –
gegangen und habe zu ihm gesagt: Ich muß ein Haus bauen für unsere
Veteranen, gib Land. Und der Bürgermeister gab das Land. Mit Sammlungen
bei zwei Konzerten wäre genug Geld für 100 Wohnungen zusammengekommen,
und am 9. Mai 1995 ist das „Haus für unsere Landsleute“ eröffnet
worden.
Das Fest in Moskau vor 50 Jahren wäre nicht gegen, aber auch nicht für
die Deutschen gefeiert worden. Und 1989 in Berlin wäre er dann Zeuge des
Fests der Deutschen gewesen. – Er sagt zu den Umstehenden, sie sollen
auch an die Leute denken, die ihr Leben gelassen haben, und spielt eine Bach-Sarabande
zum Gedenken an diese Toten. In seinem Rücken die aufgesprayte Micky Mouse.
Und vor ihm weint ein junger Mann.
Rostropowitsch kommt zurück aus dem Jahre 1989. Er sei dann sofort nach
Paris zurückgeflogen, sagt er, sieht auf die Uhr und erschrickt: „Was,
schon so spät?“ Er springt auf, packt die Partitur von Schnittkes
„Gesualdo“ ein und drängt zum Aufbruch. Ein paar Fotos noch,
ein Autogramm für die (Mutter der) Dolmetscherin, mit der er im Stiegenhaus
noch ein bißchen plaudert. Draußen vor der Oper aber hat er es dann
eilig. Er ist sich wohl seinem Hobby widmen gegangen. ###
© Festwochen 1995
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