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Mir
wird schwindlig vor lauter Leut’
Es war der vorletzte Samstag vor Weihnachten und er ging Geschenke einkaufen.
– Herr Doktor,
Herr Doktor, mir geht’s nicht gut. Mir geht’s sogar gar nicht gut.
Wenn ich unter die Leut’ geh’, krieg’ ich so komische Gefühle.
– Wie sehen denn diese Gefühle aus, Herr … öh …
Karner?
– Na, eng is’ es, eng! Mir wird richtig schwindlig vor lauter Leut’.
– Und haben Sie eine Ahnung, wo das herkommt, womit das zusammenhängt?
– Naja schon. Schau’n Sie, Herr Doktor, ich hab’ da zu Weihnachten,
also vor Weihnachten so ein Erlebnis g’habt.
– Na dann setzen Sie sich einmal hin und berichten in aller Ruhe.
– In Ruhe? In Ruhe berichten? Davon in Ruhe berichten?
– Versuchen Sie’s doch einmal.
– Nein, nix, mir wird gleich wieder schwindlig.
– Nun, dann probieren wir einmal folgenden aus: Sie setzen sich an den
Tisch dort, ich geb’ Ihnen Papier und Kugelschreiber, und Sie schreiben
sich die Sache vom Herzen.
– Und Sie?
– Was: ich?
– Was tun Sie?
– Ich schau’ Ihnen zu.
– Nein! Schau’n Sie mir nicht zu!
– Also gut, versprochen: Ich schau’ Ihnen nicht zu.
Und Herr Karner setzt sich hin und schreibt:
Nachdem ich zum 496. Mal gegen meinen Sohn im DKT verloren hatte, beschloss
ich, ihm diesmal zu Weihnachten nicht wieder ein Brettspiel zu schenken, sondern
das, was er sich wünscht: ein Computerspiel.
Doch anstatt zum kleinen Händler ums Eck zu gehen, mich beraten zu lassen,
ein Spiel zu kaufen und nach höchstens fünfzehn Minuten wieder daheim
zu sein, glaubte ich in einem Großkaufhaus vielleicht ein Schnäppchen
machen zu können. Ausnahmsweise hatte ich nur bis zum vorletzten Einkaufssamstag
gewartet. Aber natürlich fuhr ich mit dem Auto, weil die tolle Einkaufsstraße
von mir aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln etwas umständlich zu
erreichen ist. Eine halbe Million andere taten das auch. Und es ging sehr friedlich
zu – wenn man in die stehenden Autos nicht hineinsah.
Jedenfalls hatte ich nach mehreren Stunden – in denen ich alle Weihnachtslieder,
die ich kenne, mit ordinären Texten versehen, immer wieder sang –
einen Platz in einem Parkhaus ergattert. Es gehörte zwar nicht zu dem Kaufhaus,
in das ich gewollt hatte, aber man kann nicht alles haben.
Sobald ich aus meinem Auto gestiegen war, wurde ich von einem Menschenstrom
erfasst – jeder Fünfte hatte auch noch eine Weihnachtsmann-Mütze
auf!, – und durch so ziemlich jeden Gang in so ziemlich jedem Stockwerk
dieses Kaufhauses geschoben. Doch weil ich sowieso noch alle Geschenke für
alle meine Lieben brauchte, fand ich das anfangs ganz in Ordnung. Erst als ich
entdeckte, dass ich nirgendwo stehen bleiben konnte, wenn ich endlich etwas
Passendes erblickt hatte, wurde mir langsam anders. Es war nicht so, dass ich
aggressiv geworden wäre, ich hätte nur jeden umbringen können,
der mich berührte.
Nach zwei, drei Ewigkeiten kam ich auf diese Weise in die Spielwarenabteilung.
Was waren dagegen die paar Stunden, bis ich zu den Computerspielen gelenkt worden
war! Hastig ergriff ich ein paar Spiele und wollte mir im Weitergeschoben-Werden
eines aussuchen. Doch plötzlich ging ein Ruck durch die Menge, ich stolperte
– und alle Spiele fielen zu Boden. Als ich mich nach ihnen bücken
wollte, schob sich die Menschenmasse wieder zusammen, und ich war heilfroh,
mit dem Leben davonzukommen. Erst als ich wieder in der Lage war, unser aller
Ausdünstungen einzuatmen, kam mir zu Bewusstsein, dass ich diese Weihnachten
vielleicht nicht mehr an den Computerspielen vorbeikommen würde.
Da erblickte ich an der nächsten Ecke einen Korb mit Sonderangeboten –
mit nur mehr einem Computerspiel drinnen. In einem letzten Anflug von Verzweiflung
drängte ich mich durch die Menschen, ich sah, wie eine Frau nach dem Spiel
griff, ich stürzte nach vorne, ich entriss ihr das Spiel – und verschwand
in der Menge.
Dann ließ ich mich zu einer Kassa treiben. Dort strich ein zombi-artiges
Wesen mit dem Laserstift über Strichcodes, las eine Zahl ab, nahm Geldscheine
entgegen, gab Geld heraus. Ein anderes zombi-artiges Wesen schnappte die Spiele,
welche sich neben ihr stapelten, stopfte sie mechanisch in Plastiksäcke.
So geschah es auch bei mir.
Völlig erschöpft hing ich in der Menschenmasse und nachdem ich mehrmals
gefleht hatte, man möge mich doch zu meinem Auto bringen, stand ich irgendwann
tatsächlich davor. Ich weiß nicht mehr, wie ich aus der Garage kam,
wie ich durch den Stau kam, wie ich nach Hause kam. Als ich in der Nähe
meines Wohnhauses eingeparkt hatte, kam ich wieder zu mir. Ich sah das Einkaufssackerl
neben mir auf dem Beifahrersitz liegen, ich griff nach dem Spiel, zog es heraus
– und hielt ein DKT in der Hand. Die Verkäuferin musste sich geirrt
haben. Ich hatte keine Kraft mehr zu weinen.
– Und, geht es Ihnen jetzt besser, Herr … öh … Karner?
– Naja, ein bisserl schon.
– Wollen Sie noch etwas dazu sagen.
– Im Moment nicht, Herr Doktor.
– Dann sagen Sie mir, rein interessehalber, was haben Sie mit dem DKT
gemacht?
– Umgetauscht. (In Tränen ausbrechend) AM LETZTEN EINKAUFSSAMSTAG!
– So ist’s gut, Herr Karner, nur heraus mit der Wut; mit der Hilflosigkeit;
mit dem Schmerz.
© Werner Schuster
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