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PISTOLE GEGEN SPRAYDOSE
Auch Wiens Sprayer bewegen sich auf dem schmalen Grat
zwischen Illegalität und Anerkennung
Als du aus dem Fastfood-Laden rauskommst, stehen da fünf Streifenwagen.
Die Gendarmen stellen dich mit gezogenen Pistolen, legen dir Handschellen an
und bringen dich in Untersuchungshaft. Dein Verbrechen: Du hast auf einen ÖBB-Waggon
ein Graffiti gemalt.
No names
So ist es zwei Wiener Sprayern, die hier weder mit ihren Namen noch mit ihren
Tags (= Künstlernamen) bezeichnet werden wollen, vor zwei Jahren in Graz
ergangen. Der damals noch unbescholtene 19-jährige Writer 1 (W1) fasste
acht Monate auf Bewährung aus, W2, heute 25, lebt seither mit 24 Monaten
auf Bewährung, 100.000 Schilling Schulden – und zwei Zivilgerichts-Prozessen
über die Summe von 3,8 Millionen an Schadenersatz in Aussicht.
Wie man damit zurande kommt? – Manchmal gar nicht, manchmal vergisst man’s,
sagt W2. W1 fügt hinzu: Wenn man das Sprühen ernst nimmt, dann nimmt
man das in Kauf. W2 arbeitet auf jeden Fall nur mehr legal – beim nächsten
Vergehen müsste er für mindestens zwei Jahre ins Gefängnis. Obwohl,
sind sich beide einig, die illegal beschriebenen Graffitis sind oft die besten.
Weil man schnell und unter Druck arbeitet. Und was für ein Gefühl,
wenn eine U-Bahn in die Station einfährt und alle sehen deinen Namen!
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So fing das auch an im New York der 70er Jahre. Angeregt durch - Reviere abgrenzende
- Namen der Gangs an den Häuserwänden, begannen zu dieser Zeit einzelne
Jugendliche ihre eigenen Namen an die Wände zu schreiben. Das erste Tag
war „THOR 191“ oder auch „TAKI 183“. Im Wettkampf um
den bekanntesten und geachtetsten Namen entwickelten die Writer bald unzählige
Stile der Buchstabengestaltung, und mittels Spraydose wurden die Schriftzüge
bald zu großflächigen Schriftbildern ausgestaltet. Eine neue Kunstform
hatte sich entwickelt, eingebettet in die HipHop-Kultur, welche der Anonymität
der Großstadt mit öffentlichen, kreativen Lebenszeichen entgegentritt.
Mit Breakdance, Rap, DJing und Graffiti Writing werden innerhalb dieses Genres
alle Bereiche der künstlerischen Ausdrucksformen abgedeckt.
Vandal-Ex
Doch in den öffentlichen Debatten wird Graffiti meistens nur mit Vandalismus
gleich gesetzt - ein chemisches Mittel gegen Graffiti trägt auch den Namen
„Vandal-Ex“ - und gegen illegale Sprayer wird auf der ganzen Welt
hart vorgegangen. Wieso eigentlich? Wieso wird hier ein Kampf Pistole gegen
Spraydose geführt, noch dazu, wo man es hier mit jungen Menschen um die
20 zu tun hat? Eine Erklärung lautet, die Bilder seien wie "Zeichen
an der Wand" (gemeint ist das biblische Menetekel, also eine unheilvolle
Warnung), welche diejenigen besonders beunruhigen, die sie nicht verstehen.
Oder: Jugendliche bringen etwas Eigenes zustande, haben - ohne Hilfe der älteren
Generation - sogar eine neue Kunstform geschaffen.
Und warum gefährden diese Jugendlichen ihre Existenz? Der deutsche Writer
DAIM erklärt es so: Zu schockieren und zu provozieren, von seinen Leuten
respektiert zu werden, sich ausgedrückt zu haben, kreativ gearbeitet zu
haben – das ist etwas, das man in unserer Gesellschaft sonst kaum bekommt.
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Gesprayt wird weltweit. Sorgsam wählt man einen Namen wie TKID, MASON oder
LOOMIT für sich, und dann macht man sich auf die Suche nach seinem persönlichen
Stil: die Form der Buchstaben und wie man sie verbindet. Was Außenstehenden
simpel erscheint (- vor allem, wenn sie es nichts selbst ausprobiert haben),
ist für Sprayer ein Prozess, der nie aufhört. Ein Fulltimejob, sagt
W1. Es heißt, sprayen zu lernen ist wie ein Instrument zu lernen. Man
braucht Geduld und Ausdauer. Anfänger zeigen ihre Arbeiten Sprayern mit
Erfahrung, welche sich wiederum mit Sprayern der vorherigen Generation auseinandersetzen.
For the toys
Was die Szene auszeichnet, ist der respektvolle Umgang miteinander. Toys (=
unerfahrene Writer) schwärmen von der konstruktiven Kritik, welche ihnen
die routinierten Künstler angedeihen lassen. Und alle haben die Möglichkeit,
in allen Städten der Welt Gleichgesinnte zu treffen, bei denen man auch
wohnen kann. – Die Zeichen an der Wand sind also bloß die Oberfläche
einer globalen Subkultur.
„Die einzigen, die sich an so was freuen und denen das taugt, das sind
die ’Künstler‘ selber und die ’Szene‘“, schreibt
eine Firma, die sich auf Graffiti-Entfernung spezialisiert hat, und setzt voller
Schadenfreude fort: „Wir entfernen so ziemlich alle Graffiti. Und zwar
rasch und meist spurlos. Das hat den Vorteil, dass wir den Malern die Freude
verderben. Denn wenn die nicht damit angeben können, war das ganze nur
ein Haufen Arbeit, und die Spraydosen sind auch nicht billig.“
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Doch man muss ja nicht unbedingt illegal sprayen. Im Gegenteil, die legalen
Wände sind oft sehr frequentiert. 20 bis 30 Dosen braucht man für
ein Graffiti, und es dauert mehrere Stunden bis Tage zur Herstellung. Doch leider
ist der Platz limitiert, wodurch man in die Verlegenheit kommt, andere Graffiti
zu überschreiben (W1: "Man sollte nie etwas Schlechteres über
etwas Besseres schreiben"). Außerdem ist die Illegalität doch
ein besonderer Kick.
My piece
Da stehen sie dann, nachts in dunkler Kleidung an zum Teil (lebens-)gefährlichen
Plätzen, tragen Handschuhe und Gesichtsmasken (zum eigenen und zum Schutz
vor Polizisten), übertragen ihr "piece" aus ihrem Skizzenbuch
auf eine Wand oder einen Zug, haben vielleicht Aufpasser dabei und Helfer, welche
die großen Flächen aussprühen. Anschließend wird das Graffiti
fotografiert – da es unter Umständen sehr bald wieder verschwunden
sein kann. Tip von W1 und W2: Fotos und Negative sollte man nicht zu Hause aufbewahren.
Bei einer Hausdurchsuchung würde man sonst leicht auffliegen.
Sie wissen, wovon sie reden: Gegen die illegalen Sprayer wurde 1993 eine Sonderkommission
der Staatspolizei ins Leben gerufen wurde. Diese landete 1994 einen großen
Schlag gegen Wiens Writer. Etliche Künstler wurden zu mehrmonatigen (vorerst
bedingten) Haftstrafen und Schadensersatzleistungen in Millionenhöhe verurteilt.
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1994 wurde auch die Wiener Graffiti Union (WGU) gegründet. Ursprünglicher
Zweck war es, leichter an legale Sprühflächen heranzukommen und weiters
als Anlaufstelle für potentielle Auftraggeber zu fungieren. Bald hatte
sich der Aufgabenbereich der WGU auf die Vermittlung von Rechtsbeistand und
verstärkte Öffentlichkeitsarbeit ausgeweitet.
Und so leben die Künstler im Graubereich zwischen Illegalität und
Anerkennung: Ganz legal konnte etwa W2 während seiner Untersuchungshaft
im Grazer Gefängnis den Spazierhof und den Mutter-Kind-Hof mit seinen Werken
besprayen. Und die Wiener Linien haben 1998 Wiener Writer beauftragt, vier Graffitis
in der U3-Station Ottakring zu malen (- in Solidarität mit den auf Schadenersatz
geklagten Writern erklärten sich die Künstler bereit, einen Teil ihres
Honorars zur Schadenswiedergutmachung zur Verfügung zu stellen). 1998 fand
auch die Ausstellung „Graffiti Writing - Kunst und Kommunikation im Öffentlichen
Raum“ am Westbahnhof statt, mit gezählten 800.000 Besuchern.
Union
Letztes Jahr hat sich die Wiener Graffiti Union im Kabelwerk einquartiert. Der
Plan, ein Hip Hop Zentrum mit Ateliers, Office, Veranstaltungshalle, Archiv,
Studios, Trainingsräumen einzurichten, konnte zwar noch nicht verwirklicht
werden, doch ab Dezember sollen dort regelmäßig Graffiti-Ausstellungen
stattfinden, inklusive Katalogen und Videos. Den Anfang machen DISCOM und KERAMIK.
Sonst sind die Werke der Wiener Writer an Wänden entlang der Schnell- und
U-Bahnlinien („illegal“) bzw. am Donaukanal Höhe U4 Schottenring
(„legal“) zu besichtigen. Und wer die Zeichen an der Wand verstehen
will, braucht bloß einen der anwesenden Künstler zu fragen. ###
© Augustin 2000
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