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DAS STERNTALEREXPERIMENT

Heidemarie Schwermer lebt freiwillig ohne Geld.


Es war einmal ein Mädchen, dem waren Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte.

Wie das Mädchen aus dem Sterntaler-Märchen lebt auch Heidemarie Schwermer ohne Geld. Was zunächst als „Sterntalerexperiment“ für ein Jahr geplant war, entwickelte sich für sie zu einem neuen, geglückten Lebensmodell, das sie nun schon seit sieben Jahren praktiziert.

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Schwermer wurde 1942 im ostpreußischen Memel geboren. Sie war zwei Jahre alt, als ihre Familie in den Westen fliehen musste. Schon als Kind wollte sie Lehrerin werden. Doch da sie ihre pädagogischen Ideale nicht verwirklichen konnte, gab sie diesen Beruf auf und unternahm eine Reise nach Südamerika, wo sie ihren Mann kennen lernte.
1967 nach Deutschland zurückgekehrt, arbeitete sie zunächst abermals als Lehrerin. Nach der Auflösung ihrer Ehe lebte sie mit ihren beiden Kindern mehrere Jahre lang in einem Kunsthaus. 1982 zog sie nach Lüneburg. Sie studierte Psychologie und Soziologie, ließ sich zur Gestalt-Psychotherapeutin ausbilden und richtete sich in Dortmund eine eigene Praxis ein. Doch da sie keine Kassenpatienten behandeln konnte, sondern „nur Menschen mit Geld“, stieg sie auch aus diesem Beruf aus und gründete 1994 die Gib-und-Nimm-Zentrale, einen Tauschring.

Sie lebt nur vom Tauschen


Nach und nach gelang es ihr in diesem Rahmen auf den Einsatz von Geld zum Erwerb von Sachwerten zu verzichten. Nach anfänglichen Fehlschlägen klappte dies so reibungslos, dass sie schließlich noch einen Schritt weiter ging. Inspiriert vom „Sterntaler-Märchen“ begann Schwermer, ihr ganz persönliches „Sterntalerexperiment“: Sie verschenkte ihre Möbel, gab den eigenen Wohnsitz und ihre Praxis auf. Seither lebt sie nur vom Tausch – hütet in Abwesenheit ihrer Freunde deren Häuser; frisches Gemüse gibt’s aus dem Bioladen – dafür räumt sie dort manchmal auf - übriggebliebenes Brot überlässt ihr ein befreundeter Bäcker, der es abends sonst doch nur wegwerfen müsste.

Ein lila Plastikkästchen ist Schwermers wichtigster Besitz. Darin befinden sich Tauschkarten: Namen und Adressen von Menschen, die etwas anbieten, das Heidemarie Schwermer gerade braucht. Etwa eine neue Karte für ihr Handy, ein übertragbares Ticket für die Bahn oder etwas zu essen. Aber vor allen Dingen enthält das Kästchen auch die Namen von Menschen, die genau das brauchen, was die ehemalige Psychotherapeutin anbieten kann: Zuhören, den Hof fegen, Babysitten - alles, nur kein Geld. Davon lebt die agile Frau, davon unterhält sie auch ein Büro.

Aber rosig waren die Zeiten nicht immer: „Ich war schon manchmal verzweifelt: Die meisten Leute verstehen nicht, was ich tue. Negative Reaktionen bekommt sie am meisten von Frauen - wie sie glaubt - weil sie sich getraut hat, aus dem Alltag auszubrechen.“

Doch es ging um mehr als „nur“ ein selbstbestimmtes Leben: „Geld ist heute mehr als ein Tauschmittel“, sagt sie, „es definiert den Wert des Menschen. Habe ich viel, bin ich auch viel wert.“ Ihrer Ansicht nach führt dieser Ansatz aber zu Konkurrenzdruck und Sinnentleerung. „Geld bedeutet oft auch eine Trennung zwischen Menschen. Natürlich ist es angenehm, mit Geld zu bezahlen, aber es isoliert. Die Menschen gehen los, holen sich alles für Geld und haben den ganzen Tag keine Gespräche. Bei mir fängt es schon an, wenn ich nur mal mit der Straßenbahn fahren will. Ich habe die Nummern von fünf Leuten, die übertragbare Tickets haben. Die rufe ich an, frage, ob ich es leihen kann. Ich hole es ab: Kontakt. Ich bringe es zurück: Kontakt.“

Alle Tätigkeiten sind gleichwertig


Im geldlosen Tausch wird zum Beispiel eine Fahrkarte, eine Mahlzeit oder Kinokarte gegen Zuhören, den Rasen mähen oder Babysitten eingetauscht. In Heidemarie Schwermers Sichtweise der Welt sind alle Arbeiten gleichwertig, eine ärztliche Leistung könnte problemlos mit Gartenarbeit vergütet werden: „Die hierarchische Struktur der unterschiedlichen Berufszweige löste sich für mich auf, weil jede Tätigkeit gleichwertig nebeneinander steht.“ Schwermer träumt davon, die Gib- und Nimm-Bewegung auf alle Bereiche auszudehnen, sei es Politik, Wirtschaft, Familien oder andere Strukturen - es geht darum, das Gleichgewicht herzustellen zwischen Natur und Technik, zwischen Haben und Sein, zwischen Überfluss und Armut.

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Sie persönlich muss „keine Kompromisse eingehen, kann jederzeit entscheiden, was ich wirklich und wahrhaftig tun möchte. Ich verlasse eingefahrene, zwanghafte Muster und übe mich in neuer Freiheit. Das ist ein neues Leben für mich. Ich lebe ganz im Hier und Jetzt und bin wesentlicher als in der Zeit, in der ich mich anpassen musste, um anerkannt zu werden. Meine äußere Besitzlosigkeit führt mich in größeren inneren Reichtum. Ich weiß, dass ich jederzeit wieder in ein geregeltes Leben zurückkehren kann, spüre jedoch, dass ich durch mein Experiment in etwas Neues hineinwachse, das mit Vertrauen und Intensität zu tun hat.“

Denn ob sie ihr Leben lang ohne Geld verbringen will, das weiß sie heute noch nicht: "Mir geht es ja nicht um das Geld an sich, sondern um die Rolle, die es bei uns spielt", sagt sie, "ich möchte Anstöße zum Nachdenken geben, über die persönliche Situation und unsere Konsumgesellschaft. Warum ist das höchste Ziel ein guter Job und viel Geld? Ich möchte Mut machen, einen neuen Weg auszuprobieren und das Leben zu führen, das einen glücklich macht."

Ihre Erfahrungen hat Heidemarie Schwermer auch aufgeschrieben - im Buch „Das Sterntalerexperiment“. Für Zweifler: Das Honorar hat sie verschenkt. ###

@ Augustin 2003

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