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GOTT HATTE KEINE EILE

„Ich nehme nicht an, daß Sie jene Boulez-Geschichte abermals erzählen wollen“, frage ich den Pianisten Anatol Ugorsky. Erleichtert antwortet er: „Da haben Sie recht. Aber es ist alles wahr.“

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Wahr ist also, daß Ugorsky 1942 im damaligen Leningrad geboren wurde, in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist, daß er mit sechs Jahren ans dortige Konservatorium ging., daß er mit 20 Erstaufführungen von Werken von Alban Berg, Arnold Schönberg, Olivier Messiaen und Pierre Boulez spielte, aber auch Domenico Scarlatti, Johann Sebatsian Bach und Ludwig van Beethoven. Und daß er 1968 nach einem Konzert von Pierre Boulez „zu heftig applaudierte“ und sich deswegen vor einem Komittee verantworten mußte. Er sollte das Verhältnis von Lenin und Schönberg erklären und verweigerte die Auskunft. Worauf man befand, daß jemand, der Boulez liebe, die Jugend nicht richtig erziehen und auch dem gehobenen Konzert-Publikum nicht zugemutet werden könnte. Taxifahrern schon. Ugorsky wurde „zum Liedbegleiter degradiert“ und von der staatlichen Agentur für Konzerte von Bürgern der Sowjetunion verpflichtet, welche ihre Kulturarbeit zu absolvieren hatten.

Vor der Flucht


Dennoch soll er Angebote, mit anderen russisch-jüdischen Musikern zu emigrieren, ausgeschlagen haben, soll zum Insider-Tip geworden sein, dessen Auftritte gestürmt wurden, soll 1982 aufgrund seiner Popularität (und weil die Macht müde geworden war) ans Leningrader Konservatorium berufen worden sein. Erst 1990, als die Pamjat-Bewegung ihn und seine Familie bedrohte, flüchtete er nach Deutschland.

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Noch eine Geschichte, um die ich ihn nicht gefragt habe und welche die deutsch-amerikanische Schriftstellerin Irene Dische erzählt: In einem ostdeutschen Flüchtlingslager entdeckte sie den dort Klavier unterrichtenden Anatol Ugorsky und ließ sich von ihm vorspielen. „Als er fertig war, gab ich ihm meinen Hausschlüssel“ (Dische). Innerhalb von kurzer Zeit kam er bei einer namhaften Schallplatten-Firma unter Vertrag, für die er schon mehrere CDs aufgenommen hat, darunter Beethovens „Diabelli-Variationen“, nach denen Dische einen Roman schrieb, welchen sie Ugorsky widmete.

Gute Einteilung


Für die Einspielung von Olivier Messiaens „Catalogue des oiseaux“ hätte ihm am Tag vor dem Interview ein Schallplattenpreis überreicht werden sollen, doch er gab ein Konzert in Basel, also nahm den Preis seine Frau entgegen. „Eine gute Einteilung“, schmunzelt er, „Ich spiele, und sie erhält die Preise.“

Noch in der Sowjetunion hat er für dieses Werk eine eigene Notenschrift erfunden. Die französische Originalpartitur wäre zwar schön, aber in einem Großformat gedruckt, was das Umblättern beim Spielen erschwere. Also wollte er die Notation komprimieren. Weil aber die herkömmlischje Notenschrift für Messiaens rhythmische Feinheiten unzulänglich ist (etwa bei gleichzeitiger Vergrößerung und verkleinerung der metrischen Werte in beiden Händen, wenn Rhythmen mit den Bruchteilen ihres Wertes multipliziert werden), hat er auch eine besser lersbare und handhabbare entwickelt – mit verschiedenfärbigen graphischen Zeichen. Sein größtes Problem dabei: In Rußland waren keine Buntstifte zu bekommen.

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In seine Heimat zurückgehen will Ugrosky auch nach dem Ende des Sowjet-Systems nicht mehr. Und begründet es biblisch, während ihm der Schalk aus den Augen sieht: Immer wieder habe er gerufen, „Eile mich, Gott, zu retten!“ Aber Gott habe keine Eile gehabt. Schließlich sei jedoch eine Stimme erklungen: „Steh auf, Anatol Ugorsky, und fliehe ins Ägyptenland.“ Und dort bleibt er jetzt. Vor einigen Monaten hat man ihn zu Konzerten in Rußland eingeladen, aber nach dem Überfall auf Tschetschenien habe er die Reise wieder abgesagt. „Vielleicht fahre ich einmal privat nach St. Petersburg – Freunde besuchen.“

Das westliche Publikum


Mittlerweile hat er sich an das westliche Publikum gewöhnt („entweder es ist erkältet und hustet oder es ist gesund und still“). Bei den Pflichtkonzerten in Rußland sind die Zuhörer unvorbereitet, desinteressiert und laut gewesen – und Ugorsky hat gelernt, nur für sich zu spielen, in Versenkung, Abgeschiedenheit und Trance. Im Westen kam die Stille plötzlich von außen. Ihm hat der Lärm gefehlt.

In seiner Versunkenheit geht er, wie er sagt, Einfällen nach. Um dies zu erläutern, holt er weit aus: Ein Werk ist für ihn nicht auf seinen „Text“ reduzierbar. Der Komponist schreibt diesen Text, welcher ein Werk enthält – und keine Zeichenfolge. Und es sei im Prinzip unwichtig, ob der Komponist weiß, was er tut. Auf alle Fälle kann man den Text auf verschiedene Arten und Weisen erfassen. Die Kunst der Interpretation lebt in diesem Zwischenraum zwischen Text und Werk.

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„Text-Treue“ hält Ugorsky für einen unglücklich gewählten Begriff. Wie ein literarisches Werk beim Lesen entstehe, so entsteht ein musikalisches beim Spielen. Oder: Kunst würde im Museum aufbewahrt; das sei die Voraussetzung für die Kommunikation des Betrachters mit der Kunst. „Und das Podium ist alles andere als ein Museum.“

Schöne Einfälle


Für Ugorsky existiert „eine Dimension der Glaubwürdigkeit“: „Wenn ich beim Spielen einem Einfall nicht nachgehe, werde ich unglaubwürdig, weil ich mir selbst nicht vertraue. – Den Einfällen nachzugehen, ist Kunst.“ Sich auf der Grenze zwischen Freiheit und Willkür zu bewegen, stellt für ihn keine Gradwanderung dar, „weil meine Einfälle so schön sind“.

Es gebe Vergleiche von verschienen Interpreten, die ein Werk spielen. Ugorsky würde gern einmal einen Vergleich zwischen verschiedenen Interpretationen desselben Stücks durch denselben Interpreten anstellen. – Es sei heute bei CDs üblich, daß man die Aufnahmen zusammenschneide. Sein Tonmeister wurde einmal gefragt, wie das bei Anatol Ugorsky wäre, bei dem sich Atmosphäre und Tempo doch immer erheblich unterscheiden würden. Der Tonmeister habe gemeint, Ugorskys Musiksprache würde gewisse Konstanten beibehalten, sodaß schließlich doch alles mit allem zusammenpasse. „Das zu hören, hat mich gefreut. Denn genau das strebe ich an.“

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Kritiken liest er äußerst selten, höchstens manchmal auf Reisen „als eine Art Unterhaltungsliteratur“. Denn was soll man zum Beispiel davon halten, wenn ein Kritiker Seiji Ozawa den Rat gebe, er solle doch bedenken, daß Brahms Erbe von Beethoven sei. Oder wenn eine CD-Besprechung so aussehe: Der frühe und der späte Skrjabin wäre ja kein richtiger Skrjabin, und jener Pianist würde den mittleren und eigentlichen Skrjabin viel zu wenig als Skrjabin spielen. Und die Benotung von Aufnahmen, wie in der Schule! – Bei der Kritik einer seiner Aufnahmen wäre statt der zuvergebenden Punkte ein großes Fragezeichen gestanden. Darauf ist er stolz.

Erziehung


Wenn gelobt würde, wären die Kritiken auch besser geschrieben. Ihn wundert das nicht: Schließlich lebt man doch davon, was einem gelungen ist. Und aus Fehlern lernt man nicht so gut wie aus Gelungenem. Ugorsky demonstriert seine Überzeugung und greift nach den Gläsern und Tassen am Tisch: Man kann einem Kind immer auf die Finger klopfen, damit es eine bestimmte Tasse verwende. Und natürlich funktioniert das. Wenn man aber in diese Tasse zum Beispiel einen besonders guten Kakao gibt, wird das Kind diese Tasse sogar gerne nehmen.

Er lächelt mich an, und ich weiß: Den Unterschied kann er Klavier spielen. ###

© Festwochen 1995

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