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DIE
TÜR BLIEB OFFEN
Für Eilige: Gert Voss kehrt nicht ans Burgtheater zurück
und er spielt den Jedermann, weil Peter Stein ihn darum gebeten hat. Außerdem
hat er sich das Rauchen abgewöhnt.
© Nikolaus
Similache
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In gar nicht grauer Vorzeit war ich einmal Hospitant am Wiener Burgtheater,
genauer gesagt im Jahre 1988 bei Peter Zadeks Inszenierung von William Shakespeares
„Der Kaufmann von Venedig“. Besucher der ersten Vorstellungs-Serie
erinnern sich sicher an die „automatische“ Schiebetür –
das war ich, d.h. ich habe sie auf- und zugezogen. Immer wenn Gert Voss als
Shylock im achten Bild auf den Aufzug zustürmte, und ich ihn warten lassen
sollte, sah er/Shylock so ungeduldig auf die Tür, also mich, dass ich sofort
öffnete. Jeden Abend nahm ich mir vor, ihn heute länger zappeln zu
lassen. Nie ist mir das gelungen.
Ich hatte damals selbst Erfahrungen als Regisseur gesammelt gehabt und darunter
gelitten, dass manche Schauspieler ihr Unvermögen oder ihre Unsicherheiten
mit die Proben behindernden Allüren kompensieren. Voss war für mich
dann wie die Erfüllung von etwas, von dem ich bis dahin nur träumen
hatte dürfen: Ein diszipliniert arbeitender Künstler, der sich, seine
Begabung und seine Erfahrungen uneitel zur Verfügung stellt.
Ich war vor Liebe nicht blind, hatte in seinen letzten Rollen, wenn auch auf
hohem Niveau, so doch manche Ähnlichkeiten bemerkt (eine kraftvolle, angespannte
Art, seine Stimme und seine Körper zu verwandeln), war fasziniert, wie
er diese seine Kraft unter Zadek nach und nach immer flüssiger, selbstverständlicher
einsetzte. Ich war der Ansicht, dass er bei den Proben eine Entwicklung als
Schauspieler durchgemacht hatte, und sah mich bei den Vorbereitungen für
dieses Gespräch bestätigt: 1991 behauptete Voss in einem Interview,
Zadek hätte ihn gezwungen, sich von „allen Tricks“ zu verabschieden.
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Seltsame Spiegelung: Noch während ich auf Voss’ Salzburger Domizil
während der „Jedermann“-Proben und -Aufführungen zugehe,
öffnet sich die Eingangstür wie von selbst, und wohlwollend lächelnd
bittet mich Gert Voss hinein.
Mephisto
Wir setzen uns, er bietet mir Tee an, zieht eine Zigarette aus der Packung –
und ich bin gespannt, ob er sie anzünden wird. Erst im Mai hatte er in
der Wiener Stadtzeitung „Falter“ erklärt, er habe sich das
Rauchen abgewöhnt, weil es ihm nur darum gegangen sei, etwas in der Hand
zu haben. Das Feuerzeug bleibt am Tisch liegen und zuallererst will Voss etwas
von mir wissen: Wie denn die Mnouchkine-Inszenierungen bei den Wiener Festwochen
gewesen wären. Die hätte er sich gern angesehen, sagt er und erzählt
von Mnouchkines „Mephisto“-Produktion im Jahre 1980 mit je einer
Bühne vor und hinter den Zuschauern, für die Zeit vor und während
der Machtergreifung Hitlers. Man hat sich immer wieder auf seinem Sitz umdrehen
müssen, und es ging mehr um ein Künstlerschicksal im Dritten Reich
als um einen Mitläufer, erinnert er sich, und am Schluss wurden die Namen
von Menschen auf eine Wand projiziert, welche sich in der Emigration umgebracht
hatten – er habe vor Erschütterung gar nicht applaudieren können,
obwohl die Aufführung so toll gewesen ist. – Mit wie wenig Mitteln
lässt sich doch herrliches Theater machen ...
Bleiben wir im Bild: Eine Tür zu Gert Voss geht auf und ich lasse ihn erfreut
weiter sinnieren. – Theater in der heutigen Zeit, gegen die „Geistes-Verschmutzung“
durch die ständige Information, der man ununterbrochen ausgesetzt ist,
das muss sich doch auswirken – ob Theater da überhaupt noch Sinn
habe. Daheim würden die Leute vor dem Fernseher sitzen und weiterzappen,
wenn sie’s gerade nicht interessiert – ob dieselben noch die Konzentration
für Theater aufbringen können?
Film sei ja noch o.k., da gehe man eigens hin, unter Leute, aber daheim, so
allein vor dem Fernseher, sich berieseln lassen … – Abgesehen davon,
dass Theater immer krankgebetet werde, sei ihm dies alles erst in Berlin bewusster
geworden, weil dort bei der Kultur gespart wird. Wien sei ja kulturell gut bestellt
gewesen, wäre es immer noch.
Obwohl, wenn Mangel herrsche, sei die Phantasie doppelt gefordert. Und natürlich
ist Kultur Luxus, aber wie wenig frisst doch Theater!
Und es habe überhaupt keinen Sinn, die Möglichkeiten, die der Film
hat, nachahmen zu wollen, das kann doch nur schiefgehen. Nein: Das ist doch
das Herrliche am Theater, dass man weiß, dass da oben nur gespielt wird.
Und dann, selten, vergisst man das, alle, die, die zuschauen, und die, die spielen
– und dann ist Theater unschlagbar. Und das ist unwiederbringlich. Theater
hat sein Anrecht, gerade weil es unperfekt ist.
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Bei Proben würden sich manchmal solche Sternstunden ereignen. Meistens,
wenn man etwas Wichtiges im Stück entdecke. Und manche Regisseure wüssten,
dass dies unwiederholbar sei, dass man das nicht krampfhaft wiederbeleben könne,
und sagen dann: „Vielleicht kommt’s wieder“.
Angestiftet
Vielleicht kommt Gert Voss wieder ans Burgtheater, wurde vor einem Jahr gerüchteweise
verbreitet. Soll ich ihn das jetzt fragen? Riskieren, dass die „Tür“
zufällt? Ich erinnere ihn einmal vorsichtig an seine Aussage, das Schönste
am Theater sei das Ensemble. Und schon knarren die Türangeln, gewissermaßen.
Ein Ensemble, antwortet er, ist zum Beispiel beim „Iwanow“ entstanden.
Ein Ensemble wird von einem Regisseur „angestiftet“. Ein Ensemble
ist etwas, wo es keine Einzelkämpfer gibt, wo sich jeder unterordnet, dem
Stück, der Regie, den Kostümen, dem Licht … Und manchmal entstehe
ein Hausensemble, geprägt durch eine leitende Persönlichkeit, wie
an den Münchner Kammerspielen zum Beispiel immer wieder. Oder am Berliner
Ensemble zu Brechts Zeiten. Oder auch, unter Peymann, in Stuttgart und Bochum.
Beim Burgtheater erinnere man sich doch eher an bestimmte Schauspieler, nicht
an ein Ensemble.
Was soll’s: Kehren Sie zurück? – Nein, sagt er, er kommt jetzt
einmal nur für das Tabori-Stück nach Wien, er hat seit jeher immer
nur Stückverträge abgeschlossen. Vor der „Richard III.“-Premiere
habe er nicht gewusst, ob er in Wien bleiben werde. Und auch danach hätte
er nicht geglaubt, dass es sieben Jahre würden. Aber das hätte er
auch in Bochum nie gedacht.
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Ich erinnere mich an seine privaten Tränen, als er bei den „Kaufmann“-Proben
von der Schachtel erzählte, in der ihm nach der „Richard III.“-Premiere
Menschenkot zugeschickt worden war. Er vielleicht auch? Denn so etwas wie ein
Luftzug schiebt die imaginäre Tür wieder weiter auf.
Unkommerziell
Voss sagt, er stelle nach jeder Produktion seinen Beruf in Frage, ziehe Billanz.
Eine Ex-DDR-Schauspielerin habe ihm einmal erzählt, wie toll die Zeiten
gewesen wären, als sie noch unkündbar waren. Für ihn wäre
das, ohne jetzt jemanden verurteilen zu wollen, schrecklich, eine Verletzung
seines Berufes, wie er ihn versteht.
Nach dem Kinofilm „Der Kopf des Mohren“ gebe es für ihn natürlich
die Option, auch selbst einmal einen Film zu drehen. Aber er würde es nicht
machen, um davon zu leben. Da müsste er ja kommerziell denken, und das
läßt sich mit seinen Vorstellungen nicht vereinbaren. Da könne
er ja gleich eine Fernseh-Serie drehen. Damit werde man reich. So viel könne
er am Theater nie verdienen. Aber als Schauspieler kann er das nicht machen,
einen Typen darstellen, der Quoten-gemäß ist. Und noch reicher werde
man durch sogenannte Daylies. Dabei wäre nicht einmal Zeit für eine
zweite Klappe. Wenn sich einer verspricht, dreht man den Satz bloß noch
einmal in Großaufnahme. Erfahrene Theater-Schauspieler könnten so
kaum arbeiten, am besten würden sich dafür junge eignen, die bloß
ihren Typus verkörpern.
Am Theater aber erfinde man Figuren. Sein Ideal ist, einen anderen Körper
zu finden, eine andere Stimme, einen anderen Gang, eine andere Bewegung der
Hände, einen anderen Ausdruck in den Augen. Das sei ein langer Prozess.
Während im Film von Anfang an alles klar sei. Da würde man auch mitten
in der Handlung zu drehen beginnen. Einen Film machen der Regisseur und der
Kameramann. Am Theater herrsche mehr „Distance“. Im Film müsse
man ansehen, was einem gezeigt wird, während man sich’s im Theater
aussuchen könne, also auch den beobachten, der gerade nicht spricht. Am
Theater wisse man auch, was kommt, weil man das Stück oft kennt, im Film
nicht. Und man solle sich einmal im Kino umdrehen: Lauter aufgerissene Kindermünder.
Mit Film könne man im Publikum viel mehr Gefühle wecken.
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Er habe mit Herrmann Lause gelernt. Und für sie beide war als Studenten
– und das gilt für ihn zum Teil immer noch – großes Theater,
wenn ein Schauspieler etwas wie noch ein letztes Mal spielte. Danach hätten
sie damals alles beurteilt.
Schwäche
Voss lacht auf: Branko Samarowksi und er hätten den Satz „Dezenz
ist Schwäche“ geprägt. Obwohl er, Voss, am Anfang seiner Laufbahn
irrsinnig schüchtern gewesen sei. Er habe sich seinem Beruf mit furchtbar
vielen Ängsten genähert, sich geniert. Er hätte sich am Theater
nicht von Anfang an wohl gefühlt, sagt er, sehr lange gebraucht, obwohl
er diesen Beruf wollte. Aber dann sei er auf intelligente Leute gestoßen,
die ihn in seinen Vorstellungen von Theater bestätigt hätten.
Vorher wäre immer etwas nicht vertretbar gewesen, nicht vertretbar vor
dem Stück, nicht vertretbar vor dem Publikum, nicht vertretbar vor der
Presse, vor den Politikern, vor den Geldgebern und so weiter. Er habe lange
gebraucht, bis er wusste: Alles ist vertretbar. – Und dennoch hält
er Scham bei einem jungen Schauspieler für berechtigt und wichtig. Schließlich
würde man am Theater als Figur erleben, was man selbst doch nie erlebt
haben kann.
So leid es mir tut, das ist mein Stichwort: Und was erlebt der Jedermann? („Türe“
zu.) – An dem fasziniert ihn, wie bei so vielen anderen Rollen auch, dass
da ein Mensch in eine Situation gebracht wird, aus der er nicht mehr herauskommt.
Und wie dieser versucht, sich zu wehren. Er hat andere „Jedermann“-Stücke
gelesen und bemerkt, dass die noch holzschnittartiger sind als das von Hofmannsthal.
Er möchte die Einfachheit und Naivität des Jedermann beglaubigen,
den er ganz theatralisch, nicht psychologisch umsetzen will.
Den Domplatz hält er für eine unsterbliche Theaterkulisse, in der
eine Art von Unwirklichkeit erzeugt würde, wie man sie sich auf dem Theater
oft wünsche. Dort würde heuer „alles neu“ gemacht, Bühne,
Kostüme, Musik, Besetzung – und Inszenierung. Was er sicher nicht
will, ist mit dem „Jedermann“ ein römisch-katholisches Glaubenbekenntnis
abzulegen. Das bisher übliche „Vater Unser“ am Schluss, das
nicht von Hofmannsthal, sondern eine „Erfindung“ von Moissi ist,
wird gestrichen.
Der Theologe Eugen Drewermann, meint er, sollte den „Jedermann“
einmal inszenieren, oder man hätte seinerzeit Luis Bunuel damit beauftragen
sollen. Er fände es auf jeden Fall toll, wenn man die Geschichte auch einmal
kirchenkritisch erzählen könnte, aber: „Mal sehen, was wir rausholen“.
Zwei Stunden sind vergangen, zwei Zigaretten nicht geraucht. „Haben Sie,
was Sie wollten?“ Gert Voss bringt mich hinaus, verabschiedet sich freundlich.
Ich mache ein paar Schritte, schaue zurück. Er winkt mir noch zu, verschwindet,
und wirklich schließt sich die Tür wie automatisch. Zu früh?
Diesmal nicht. ###
© SIM-Verlag 1995
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