"Differenz/Wiederholung 5" zählt zu einer Serie von mittlerweile sechs Stücken, in denen sich Bernhard Lang in verschiedenen kammermusikalischen und Ensemble-Besetzungen mit einer für ihn seit Jahren bestimmenden Kompositionsform auseinandersetzt. Die Wiederholung ist für ihn zum dominierenden musikalischen Faktor geworden. Der Titel der Stücke nimmt auf Gilles Deleuzes Schrift "Difference et repetition" Bezug, die für Bernhard Lang eine wichtige theoretische Grundlage für seine kompositorischen Überlegungen darstellt.
Das kompositorische Verfahren kann als Bewegungsmeditation verstanden werden. Das musikalische Objekt entsteht gewissermaßen in pointillistischer Art, indem es erst durch verschiedene Ableitungen und deren Wiederholungen Gestalt annimmt. Das Objekt bildet also eine Menge aus Wiederholungen und ist selber wiederum Gegenstand für Wiederholungen. Kompositorisch vollzieht sich sowohl das Heranführen an das Objekt als auch dessen substantielle Behandlung in Loops (Schleifen).
Bernhard Lang verwendet keine einfachen Muster, aus denen sich Wiederholungen ableiten, sondern die Objekte sind bereits selbst hochkomplex. Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zum Minimalismus, der sich der Repetition kleiner Rhythmus- oder Melodiemodelle bedient. Die Phasenverschiebung bei Steve Reich etwa bleibt für Bernhard Lang vorhersehbar. Er hingegen sucht das Unvorhersehbare, die Irritation. Er löst die mechanische Wiederholung, die er als "tote Wiederholung" betrachtet, von der differenten (also: "lebendigen") Wiederholung ab. Die differente Wiederholung ist von Nervosität und nicht von Kontemplation gekennzeichnet. "Es geht um das Abtasten einer möglichen Ästhetik der Schleifen (,Loop Aesthetics'), die sich aus einer freien Bewegung zwischen mechanischen Repetitionen und differenzierten, unterbrochenen und verschobenen Scratch-Loops ergeben könnte." (Bernhard Lang in einer Beschreibung von "Differenz/Wiederholung 5"). Scratch-Loops übernahm Lang von der DJ-Technik: Ganze Teile des Objekts werden verschoben und in den Wiederholungsprozeß eingegliedert.
In Bernhard Langs Kompositionen ergibt sich der reizvolle Widerspruch zwischen einer Klarheit, die Wiederholungen schaffen können, und der Komplexität dessen, was wiederholt wird. Eine Welt, in der sich alles gleichzeitig bewegt, erscheint Lang als wichtiges Motiv der Polyphonie. In der Phänomenologie der differenten Wiederholung, die der Komponist derzeit - mit der "Phänomenologie" des Philosophen Edmund Husserl als theoretischem Hintergrund - erforscht, erkennt er Gesetzmäßigkeiten. Analog zu dem Bild, daß man einen Tisch sieht, auch wenn man seine Unterseite nicht sieht, ergeben für Bernhard Lang Wiederholungen die Möglichkeiten, ein musikalisches Objekt aus verschiedenen Blickwinkeln und in verschiedenen Abfolgen zu betrachten, wodurch es schließlich in seiner Ganzheit begreifbar wird. Einen spannenden Vorgang bildet das allmähliche Herankommen an das Objekt.
Bernhard Lang, aus Linz gebürtig, studierte an der Universität Graz
Germanistik und Philosophie und an der Musikhochschule Graz Klavier, Jazztheorie
und Komposition. Zu seinen Lehrern zählten Andrzej Dobrowolski, Gösta
Neuwirth und Hermann Markus Preßl. Von Georg Friedrich Haas ließ
sich Bernhard Lang in mikrotonale Kompositionstechniken einführen. 1989
begegnete er bei den Darmstädter Ferienkursen John Cage und Helmut Lachenmann,
im selben Jahr erhielt er einen Lehrauftrag an der Musikhochschule Graz. Vor
mehr als zehn Jahren begann er seine Arbeit am Programm CADMUS (Computer Aided
Design for Musical Applications) zur computerunterstützten Komposition.
Die Faszination für Musikarten, in denen Wiederholung und Repetition eine
dominante Rolle spielen, reicht in die Bereiche von Techno und Hiphop hinein.
Besucher von Bernhard Lang werden in seiner Platten- und CD-Sammlung zu 80 Prozent
Produkte aus dem Pop, Rock und Jazz finden. Bruchstücke und Anklänge
aus diesen Musikrichtungen finden sich auch in Bernhard Langs "Differenz/Wiederholung"-Stücken.
Manche Passagen im 2. Stück der Serie erscheinen wie ein aufgebrochener
Rap. Direkte Zitate aus dem Populärbereich oder Wiederholungen von vertrauten
akustischen Erscheinungen wird man in Bernhard Langs Musik allerdings vergeblich
suchen, vielmehr geht es ihm um eine differenzierte und möglichst komplexe
Ausformung akustischer Wahrnehmungen und musikalischer Einfälle.
Im Werkverzeichnis Bernhard Langs finden sich zwei Hommagen an Martin Arnold
(für Tonband und für Symphonieorchester). In den Streifen des österreichischen
Experimentalfilmers Martin Arnold entdeckte Bernhard Lang eine große musikalische
Qualität. Martin Arnold bearbeitet vornehmlich Sequenzen aus SW-Filmen
Hollywoods in Schleifentechnik, nicht nur die Bilder, sondern auch die Geräusche,
woraus optische und akustische Wiederholungen entstehen. Diese Technik versucht
Bernhard Lang in einem musikalischen Kontext anzuwenden.
In der Serie "Differenz/Wiederholung" komponierte Bernhard Lang
für folgende Besetzungen:
Nr. 1 für Flöte, Violoncello und Klavier,
Nr. 2 für drei Sänger, großes Ensemble und Bandzuspielung,
Nr. 3 für Flöte, Violoncello und Akkordeon,
Nr. 4 für Posaune, Viola und Klavier,
Nr. 5 für Flöte, Oboe, Klarinette, Saxophon, Horn, Trompete, Posaune,
Schlagwerk (2 Spieler), Klavier/Synthesizer, Violine, Viola, 2 Violoncelli,
Kontrabaß und Bandzuspielung,
Nr. 6 für E-Viola und Live-Eletronik.
"Differenz/Wiederholung 5" hat den Charakter eines Prologs für das Werk "Das Theater der Wiederholungen", das Bernhard Lang für das Opernhaus Graz komponiert (Uraufführung 2002) und zusammen mit Martin Arnold auf die Bühne bringen wird. "Das Theater der Wiederholungen" stellt einen Anklang an Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit" dar und beinhaltet Texte von Marquis de Sade, William Burrows und Augenzeugenberichten aus Straf- und Konzentrationslagern. "Differenz/Wiederholung 5" leitet in rein musikalischer Weise zur Oper hin und bezieht sich nicht auf textliche und dramaturgische Aspekte. In der Bandzuspielung zu "Differenz/Wiederholung 5" ist versteckt der Charakter der dreiteiligen Ouvertüren-Form enthalten. Bernhard Lang verarbeitet darin Material aus der Sinfonia von Claudio Monteverdis Oper "Orfeo", und zwar im speziellen eine Passage, in der Zinken zum Einsatz kommen. Die Passage wird keineswegs als Monteverdi-Zitat erkennbar, vielmehr bildet Bernhard Lang aus dem Zinkklang ein Signal, das als Sample im Mischklang mit der live spielenden Trompete des Ensembles die Komposition eröffnet. Monteverdis "Orfeo" stellt für Bernhard Lang den symbolischen Auftakt zum abendländischen Musiktheater dar (Material aus Monteverdis Sinfonia verwendete auch György Ligeti im Autohupen-Vorspiel seiner Oper "Le Grand Macabre"). Für Bernhard Lang befindet sich das Musiktheater in seiner heutigen Form in einem Endzustand. Der Hinweis auf einen Anfang (Monteverdi) schließt immer auch das Bewußtwerden eines Endes ein. Aus der Verbindung von Bandzuspielung und Ensembletrompete und der sich wieder lösenden Verbindung entwickeln sich die Wiederholungsprozesse. Das Signal kommt zum Schluß neuerlich vom Band und bildet die Überleitung zur Oper.
Rainer Lepuschitz, 2000