Vom Lesen und Schreiben, vom Denken und Tun

Karl Reitter ist ein Philosoph und Marxist, der sich nicht durch gewollte Originalität auszeichnet, sondern durch Präzision des Denkens. Das ist umso bemerkenswerter, als Originalität im akademischen Betrieb (aber beileibe nicht nur dort) zu einer Voraussetzung beruflichen und sozialen Überlebens geworden ist, obwohl sie nichts mehr mit besonderen und überraschenden persönlichen Eigentümlichkeiten zu tun, sondern nur die Form einer ökologischen Nische angenommen hat, in der dann auf Teufel komm raus der eigene Platz verteidigt wird, Alleinstellungsmerkmale mit Hingabe und auch nötigenfalls mit Intrige und Wut gehütet werden wie eine Brut Nestlinge oder ein Wurf Junger, und dies alles, weil dem Verdacht entgegengetreten werden muss, man sei ja gar nicht so ununterscheidbar von den anderen.

Wenn ich also sage, Karl Reitter ist nicht gewollt originell, so soll das nicht heißen, dass er eigener Gedanken nicht fähig wäre, auch wenn das besprochene, von ihm geschriebene Buch „Heinz Steinert und die Widerständigkeit seines Denkens. Seine Auseinandersetzung mit Kapitalismus, Kulturindustrie und den Schriften von Adorno, Max Weber und Foucault“ hauptsächlich das Denken eines anderen vorstellt. Es heißt auch schon gar nicht, dass er nur wiedergibt, was vor ihm ein anderer geschrieben hat, dass er nur treu referiert, was er gelesen hat. Im Gegenteil: Karl Reitter verweigert zwar das Posieren in Originalität und ist sich nicht zu schade, das Denken eines anderen zu präsentieren und zu erläutern, aber er tut dies auf durchaus persönliche Art und Weise und schließt sich selbst dabei nicht aus.

Er zeigt sich mit seinem eigenen Stil, was das Schreiben betrifft: präzis im Gedanken, wie schon vorher betont, präzis aber auch in der Darstellung, die vom Publikum Aufmerksamkeit und Konzentration verlangt, aber nicht im Geraune akademischer Kunstsprache daherkommt. Ihm geht es darum, dass die Konzentration und Aufmerksamkeit sich auf den Inhalt des Texts beziehen kann und nicht auf Grammatik, Satzbau und Kenntnis zahlreicher Fremdworte.

Und er zeigt sich mit seiner eigenen Beziehung zur Lektüre Heinz Steinerts. Auf dieses persönliche Herangehen stoßen wir schon im ersten Kapitel. Ich will nicht Vorwort sagen, obwohl es kurz wie ein solches gehalten ist; Karl Reitter bezeichnet es auch nur mit einer Nummer und einer Überschrift wie alle anderen Abschnitte des Buchs. In diesem ersten Kapitel „Warum ich Heinz Steinert so schätze“ macht uns also Karl Reitter sowohl mit Heinz Steinert als auch mit sich selbst vertraut. Es zeigt sich schon hier auf diesen ersten Seiten, was uns durch das Buch begleiten wird: was Reitter an Steinert schätzt und wo er ihn kritisiert, wo er nachfragt oder ergänzt – nicht ergänzt, sondern ergänzen müsste oder könnte, denn Steinert ist schon tot und Kerl Reitter verkneift es sich, darüber zu spekulieren, wie Steinert geantwortet hätte, hätte er ihn gefragt. Das Buch ist also von einem Respekt getragen, der zu etwas findet, das mehr als schiere Kritik und weniger als begeistertes Lob ist.

Wir können, wenn wir dieses Buch lesen, zwei Autoren begegnen, die in einem leider einseitigen Dialog stehen könnten, aber weil Steinert schon tot ist, tritt Karl Reitter in einen Dialog mit seinen LeserInnen. Dieser Dialog ist zwar auch etwas einseitig, weil Karl Reitter LeserInnen anspricht, die er zwar nicht sieht, denen er aber die Argumentation und das Werk Steinerts nahebringen will. Dabei greift er auch zu persönlichen Hinweisen. Das liest sich dann beispielsweise so, wenn er über Steinerts Darstellung von Adornos Musik- und Kulturtheorie schreibt (Reitter, S. 40):

Steinert hat wohl so manche Nacht mit großem Vergnügen in Jazz-Kellern verbracht, als Jugendlicher selbst am Schlagzeug gewerkelt und später versucht, Saxophon, das Jammer- und Klageinstrument schlechthin nach Adorno, zu erlernen. Die zeitgleiche Generation hatte mit Adornos Jazz-Kritik nicht so viele Probleme. „Ich denke, die meisten von denen, die noch Adorno lesen, sind ohnehin, mehr oder weniger ungebrochen, in der ,Hochkultur‘ zu Hause und können die Zurückweisung von ,populärer‘ Kultur zumindest gut verstehen.“ Spätere Generationen müssen sich schwerer tun. „Ich denke, viele von den anderen, die Adorno in der wichtigen Rezeptionsphase in den 60er Jahren geschätzt haben, mögen auch Jazz und haben ein mehr oder weniger positives Verhältnis zur Rock-Musik. Ihnen ist Adornos Jazz-Theorie peinlich.“ (H. Steinert, Adorno in Wien, S. 26) Der Schreiber dieser Zeilen ist mit Hippie-Musik aufgewachsen. Ich nehme daher nochmals einen anderen Standpunkt als Steinert ein – aber dazu später. Adornos Schrift über den Jazz wäre schon deshalb sehr wichtig, „weil sie Ausgangspunkt und wichtiges Material-Beispiel für seine Vorstellung von ,Kulturindustrie‘ war.“ (H. Steinert, Die Entdeckung der Kulturindustrie. Oder: Warum Professor Adorno Jazz nicht ausstehen konnte, S. 26)

Wir sehen schon, worauf die ganze Sache hinausläuft. Karl Reitter bringt uns Heinz Steinert auf eine sehr persönliche Art nahe. Dazu gehört auch, dass er eine Auswahl aus dessen Werken heranzieht, die er selbst getroffen hat und die er auch begründet. Begründet mit Übereinstimmungen der Gedanken und Theorien, der Kritik und der Erfahrungen des akademischen Betriebs wie auch der verschiedenen politischen und kulturellen linken Milieus, aber auch mit seinen eigenen spezifischen Interesse. Und er beschreibt darüber hinaus auch, warum Steinert kein so genannter Star des Fachbetriebs wurde, und verbindet dies mit einer Kritik an eben diesem Betrieb mit seinen Eitelkeiten und inhaltlichen Schwächen.

Das Buch ist vor allem deswegen zu empfehlen. Ohne verbiestert zu sein, mit dem Karl Reitter eigenen feinen Humor, der hin und wieder sarkastisch, nie aber verletzend werden kann, ohne pessimistisches Jammern erzählt es von einem Denken und Agieren, das widerständig ist und nie bloß um des Denkens selbst willen geschieht. Sehr schön exemplifiziert das Karl Reitter an Steinerts Kritik an Foucault. Steinert deckt begriffliche und historische Ungenauigkeiten des „Herrn F.“ auf und Karl Reitter kontrastiert dies durch Verweise auf Steinerts politisches Engagement für eine gefängnislose Gesellschaft (Reiter, S. 132).

Steinert wäre aber nicht Steinert gewesen, hätte sich seine Kritik am Konstrukt Kriminalität auf das bisher Dargelegte beschränkt. Bisher habe ich skizziert, was das Justiz- und Gefängnissystem nicht ist; nämlich ein wirksamer Schutz gegen Verletzungen an Leib und Leben und gegen Verlust von Hab und Gut. Aber was ist das Straf- und Gefängnissystem nun tatsächlich? „Strafrecht ist die Darstellung von Herrschaft mit Menschenopfern.“ (Steinert 1988; 1) Das kam nun wohl etwas unvermittelt. Ich versuche eine schrittweise Herleitung und wähle als Einstieg Steinerts Kritik am Konzept des humanen Strafvollzugs: So etwas kann es nach Steinert nicht geben. Strafvollzug soll schädigen und schädigt. „Um Abolitionist zu sein, muss man die Idee der Gefängnisreform aufgeben.“ (Steinert 1987; 150)

Karl Reitter stellt Heinz Steinerts Werk und Wirken an Hand einiger Themenkomplexe dar: Adorno und sein Begriff von Kulturindustrie ebenso wie die Dialektik der Aufklärung; Steinerts Begriff und Analyse von Kapitalismus; Strafvollzug; Max Webers „unwiderlegbare Fehlkonstruktion“. Das Buch weist abschließend ein höchst genaues „Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten Steinerts“ auf sowie kurze biografische Angaben. Gerade das Verzeichnis aber führt auch Arbeiten an, die über den strengen Begriff der Wissenschaftlichkeit hinausgehen und zu Kunst, Politik und Philosophie führen, was ich auch für das Tun und Leben Karl Reitters in Anschlag bringen möchte. Nicht zuletzt deswegen sei die Lektüre des Buchs angeraten.