Alkoholsüchtige sind meistens Menschen
Diese Seite soll Hilfe für ehemalige Schluckspechte sein (und für die, die es werden wollen)
Sie gibt Information für Erste Hilfe bei Rückfällen:
Warum ich wohl den Namen Fassl gekriegt hab?
In vielen
Suchtbehandlungen ist zu beobachten: Patienten und Angehörige, aber auch manche
Therapeuten scheuen davor zurück, sich mit dem Thema Rückfall zu befassen und
die in der Therapie erreichten Veränderungen auch unter ungünstigen
Bedingungen auf ihre Standhaftigkeit zu überprüfen. Erst ganz allmählich
setzt sich die Erkenntnis durch, dass eine Therapie nur dann Sinn macht, wenn
man der Möglichkeit eines Rückfalls realistisch ins Auge sieht und gezielte Maßnahmen
zur Verhütung wie zur Begrenzung von Rückfallen entwickelt und ausgiebig
trainiert. Doch warum ist der Rückfall für viele ein Tabuthema?
Angst der Angehörigen.
Die meisten Angehörigen von abstinent lebenden Alkohol- und Medikamentenabhängigen
haben insgeheim große Angst plötzlich von einem Rückfall überrascht zu
werden. Zu oft sind sie in der Vergangenheit enttäuscht worden, als dass sie so
ohne weiteres an dauerhafte Abstinenz glauben könnten. Viele werden auch noch
nach einer längeren Zeit der Abstinenz automatisch unruhig, wenn sich ihr
Partner wieder „wie früher“ verhält, seine früheren Trinkkumpanen
besuchen will oder sich einfach erheblich verspätet. Entsprechend möchten
viele Angehörige das Thema Rückfall gar nicht anfassen, um keine schlafenden
Hunde zu wecken.
Zweifel der
Betroffenen. Die Einstellung der Betroffenen selbst ist hierzu sehr
unterschiedlich. Manche sind verbittert, dass man ihnen trotz längerer
Abstinenz immer noch nicht wieder voll vertraut. Viele Betroffene überschätzen
sich hierbei: Weil sie während der Therapie ohne Schwierigkeiten abstinent
blieben, gehen sie davon aus, dass das für immer so bleiben wird.
Entsprechend wollen sie sich nicht mit möglichen Rückfallrisiken
auseinandersetzen. Andere befürchten selbst insgeheim einen Rückfall, trauen
sich aber nicht, offen darüber zu sprechen, um ihre Umwelt nicht noch
misstrauischer zu machen. Wieder andere nehmen sich gar nicht erst richtig vor,
auf Dauer abstinent zu leben, um bei einem Rückfall nicht so enttäuscht zu
sein, nach dem Motto „Ich habe es ja gleich gewusst«.
Gemeinsam ist aber den
meisten Abhängigen und ihren Angehörigen, dass sie keine rechte Vorstellung
davon haben> was sie eigentlich zur Vermeidung eines Rückfalls
unternehmen können. Stattdessen herrscht oftmals ein blinder Glaube vor, die
Therapie werde schon „irgendwie halten“; wenn der Patient nur wolle, dann
werde er schon nicht trinken. Auch die beiden häufigsten Begründungen zur
Erklärung eines Rückfalls drücken diese Hilflosigkeit der Beteiligten aus:
„Ich weiß auch
nicht, wie es kam. Ich habe halt einfach wieder angefangen zu trinken.“
In beiden Fällen wird
versucht, den Rückfall als unvermeidbares Ereignis darzustellen, auf das man
eben keinerlei Einflussmöglichkeiten hatte. Solche Erklärungen mögen zwar
kurzfristig zur Entlastung von Schuldgefühlen taugen. Langfristig würde dies
aber bedeuten, dass man immer mit einem Rückfall aus heiterem Himmel rechnen
muss, weil es keinerlei wirksamen Schutz davor gibt.
Zum Glück weiß man
aber mittlerweile sehr viel mehr über die Entstehung, aber auch über die Verhütung
von Rückfällen. In diesem Kapitel sollen zunächst das schrittweise
Zustandekommen eines Rückfalls erläutert und darin Möglichkeiten aufgezeigt
werden, wie man sein künftiges Rückfallrisiko gezielt verringern kann.
Nicht selten herrscht
allein schon darüber erhebliche Verwirrung, was überhaupt unter einem Rückfall
zu verstehen ist. Viele sprechen von einem „richtigen Rückfall“ und meinen
damit, dass der Betroffene wieder ganz in sein altes Trinkverhalten mit
schweren Berauschungen oder Entzugserscheinungen zurückgefallen ist.
Gelegentliches Trinken kleiner Alkoholmengen zählt für sie dann nicht, nach
dem Motto: „Das war doch noch kontrolliert.“ Andere denken bei einem Rückfall
eher an die berühmte Schnapspraline „Ein Tropfen Alkohol, und Du bist
automatisch wieder voll drin.“
Ein Rückfall ist das
bewusste Einnehmen von Alkohol oder Medikamenten mit Suchtpotential in jeglicher
Form in einer Zeit der Abstinenz.
Oft fängt der Betroffene
tatsächlich sofort nach dem ersten Schluck wieder an, Alkohol oder Medikamente
in größeren Mengen zu sich zu nehmen.
Manchmal gelingt es ihm
aber zunächst, nur wenig oder selten Alkohol bzw. Medikamente zu nehmen. Es
kommt zu einer allmählichen Steigerung, bis der Betroffene nach einer gewissen
Zeit wieder in seinem „alten Fahrwasser“ ist. Man spricht hierbei von einem so genannten
„schleichenden Rückfall“.
Andere Betroffene berichten
schließlich von einem einmaligen „Ausrutscher“. In einer bestimmten
Versuchungssituation haben sie Alkohol getrunken bzw. Medikamente genommen. Das ist
dann für längere Zeit der einzige Vorfall gewesen.
Oft hört man, dass
das Rückfallrisiko mit zunehmender Abstinenzdauer stetig steige, weil der
Betroffene allmählich übermütig werde und die schlimmen Erinnerungen an
seine Trinkzeit immer mehr verblassen würden. In ähnlicher Weise befürchten
manche Therapeuten, dass die Therapieeindrücke im Laufe der Zeit wie bei einem
Farbanstrich langsam abblättern könnten. Die wissenschaftliche Untersuchung
vieler tausend Rückfälle ergab in Wirklichkeit genau das Gegenteil: Je länger
eine Person abstinent bleibt, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls.
Innerhalb der ersten drei Monaten nach Beendigung einer Therapie besteht das
allergrößte Rückfallrisiko Dann gibt es nochmals relativ viele Rückfälle
innerhalb des ersten Jahres. Danach werden Rückfälle immer seltener. Je länger
also jemand abstinent lebt, umso größer ist seine Chance, für immer abstinent
zu bleiben.
Mit der Abstinenz verhält
es sich ähnlich, wie wenn man sich plötzlich im Ausland von Rechtsverkehr auf
Linksverkehr umstellen muss: Die ersten Kilometer enthalten das größte
Unfallrisiko. Allmählich fährt man aber immer besser und sicherer. Dann
sind es nur Kreuzungen, bei denen man mit der Vorfahrtsregelung
Schwierigkeiten hat. Spätestens nach 100-200 Kilometern fährt man links
genauso gut wie früher rechts.
Der Verlauf des Rückfallrisikos
über die Zeit. In den ersten drei Monaten ist das Rückfallrisiko am höchsten
Bei
Verkehrssituationen, etwa wenn einem ein Fahrzeug auf der eigenen Straßenseite
entgegenkommt, wird man weiterhin automatisch nach rechts anstatt nach links
auszuweichen versuchen.
Offenbar lernen die
Betroffenen etwas in der Anfangsphase der Abstinenz. Die Frage ist, was lernen.
sie und kann man dies nicht schon während der Behandlung gezielt trainieren?
Einige Zeit glaubte
man, dass es bestimmte Eigenschaften, Einstellungen oder
Lebensumstände einer Person sind, die darüber entscheiden, ob
jemand im Anschluss an eine Suchtbehandlung abstinent bleibt oder wieder rückfällig
wird. Um dies zu ergründen, hat man Personen, die erfolgreich abstinent lebten,
mit solchen verglichen, die nach einer Behandlung wieder rückfällig wurden.
Die Ergebnisse hierzu waren allerdings sehr widersprüchlich. Aus ihnen lassen
sich keine guten Vorhersagen ableiten, welche Personen ein hohes Rückfallrisiko
haben und welche ein eher geringes.
Vielmehr sind offenbar
die Ereignisse nach der Entlassung aus einer Suchtbehandlung
entscheidend. Anstatt danach zu fragen, wer rückfällig wird und wer nicht, ist
es sinnvoller, wenn der Betroffene sich selbst fragt: In welchen Momenten bin
ich stärker rückfallgefährdet und in welchen bin ich eher nicht gefährdet.
Hierbei zeigte sich, dass es nicht so sehr schwere Schicksalsschläge oder
Krisensituationen sind, die zu einem Rückfall führen. In solchen
Ausnahmesituationen sind viele Betroffene auf der Hut und entwickeln ungeahnte Stärken, um sich
oder anderen zu beweisen, dass sie es auch „ohne“ schaffen. Häufig werden
vielmehr ganz alltägliche Situationen, die bereits oft problemlos bewältigt
wurden, plötzlich zu Rückfallsituationen. Es muss dem Betroffenen vor einem
Rückfall auch nicht unbedingt schlecht gehen. Es kann ein ganz normaler Tag
sein, an dem er wieder „anfängt“.
Allerdings fallen auch
solche Rückfälle nicht einfach vom Himmel. Vielmehr konnte man mittlerweile
eine ganze Reihe typischer Rückfallrisikosituationen identifizieren.
Die häufigsten RückfalIsituationen
Unangenehme Gefühlssituationen
(a B. Langeweile, Einsamkeit, Angst, Depression)
Ärger- und
Konfliktsituationen (z. B. am Arbeitsplatz oder in der Familie)
Soziale Verführung
(z. B.: Kumpels fordern einem zum Mittrinken auf oder ein Arzt empfiehlt ein
Beruhigungsmittel)
Allein 60 Prozent aller
Rückfälle ereignen sich in diesen drei Situationen. Die übrigen 40 Prozent
aller Rückfälle ereignen sich in folgenden Situationen:
Angenehme Situationen
(z. B. Erfolgserlebnisse, Verliebtsein), Geselligkeit (z. B. Kneipenbesuch,
Parties, Familienfeier)
Körperliche
Beschwerden (z. B. Schmerzen, Schlafstörungen)
Versuch, kontrolliert
zu trinken, plötzliches Verlangen (z. B. beim Anblick eines Biergartens).
Für jeden Abhängigen
sind allerdings ganz unterschiedliche Risikosituationen bedeutsam. Meist sind es
Situationen, die früher eng mit einer angenehmen Alkoholwirkung verknüpft
waren.
Die häufigsten Risikosituationen für einen Rückfall:
Soziale Verführung, unangenehme Gefühlszustände, Konfliktsituationen.
Häufig ist es kein
reiner Zufall, dass man als Betroffener in eine Risikosituation „geraten“
ist. Vielmehr gehen den meisten Rückfällen eine Reihe so genannter scheinbar
harmloser Entscheidungen voraus. Sehr oft ist es dem Betroffenen selbst gar
nicht bewusst, dass er sich durch Unaufmerksamkeit, Selbstüberschätzung,
Bequemlichkeit immer mehr in Gefahr begibt. Die Lebenspartner sind dagegen
viel eher misstrauisch, wenn ein Abstinentlebender zum Beispiel beschließt:
Ab einem bestimmten
Zeitpunkt nicht mehr in die Selbsthilfegruppe zu gehen, für mögliche Gäste
stets größere Mengen Alkohol im Haus zu haben,
ein Eis mit Rum-Aroma
oder einen Braten in Burgundersoße zu essen, niemandem zu sagen, dass er
alkoholabhängig ist,
bestimmte unangenehme
Dinge „wie früher“ vor sich her zu schieben,
Konflikte „wie früher“
für sich zu behalten,
nur noch mit seinen früheren
Trinkkumpanen zusammen zu sein
Zu betonen ist, dass
der Betroffene hierbei nicht unbedingt gezielt einen Rückfall plant. Viel
wahrscheinlicher ist vielmehr, dass seine Wachsamkeit nachgelassen hat, so dass
er ungewollt das Risiko eines Rückfalls vergrößert.
Viele Rückfällige
haben in der Erinnerung den Eindruck, dass Sie „einfach wieder“ getrunken
haben. Sie können sich an nichts anderes erinnern. Das ist auch kein Wunder,
denn wenn in einer Risikosituation das so genannte Suchtgedächtnis der
Betroffenen aktiviert wird, dann laufen viele Prozesse im Gehirn und Körper
vollkommen automatisiert ab:
Die Wahrnehmung ist
auf Suchtmittel und damit zusammenhängende Gegenstände, Geräusche oder Gerüche
fixiert,
der Handlungsspielraum
und die Problemlösefähigkeiten sind eingeschränkt, Stimmung und körperlicher
Zustand sind verändert.
Selbst wenn die
Betroffenen von diesen Veränderungen nichts mitbekommen, so konnte doch in
wissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt werden, dass sie es dadurch erheblich
schwerer haben können, in einer Risikosituation abstinent zu bleiben.
Andere Betroffene
erleben in einer Risikosituation so genannte Rückfallgedanken. In ihnen erinnert
sich ein Abhängiger entweder plötzlich wieder an der angenehmen Wirkungen
seines Suchtmittels nach dem Motto: „Mit Alkohol bin ich viel . . .“ Oder er
findet eine geeignete Ausrede, um sich einen Rückfall zu erlauben (zum
Beispiel: „So ein kleiner Schluck.. .“)
Entscheidend ist, dass
solche Rückfallgedanken häufig mit deutlichem Verlangen nach der angenehmen
Wirkung von Alkohol oder Medikamenten einhergehen. Verlangen kann hierbei
unterschiedliche Formen annehmen:
die eines
unmittelbaren Drangs nach Alkohol oder Medikamenten, der sich auch körperlich
durch Speichelfluss, Herzklopfen oder Durstgefühl ausdrücken kann;
die von an
Entzugserscheinungen erinnernden körperlichen Reaktionen wie Schwitzen, Zittern
oder innerer Unruhe;
die von angenehmen Gefühlszuständen,
als ob man bereits ein Suchtmittel zu sich genommen hätte.
Viele Betroffene sind
über diese unvermittelt auftretenden
Rückfallgedanken und das damit verbundene Verlangen schockiert und sehen darin bereits
einen Ausdruck von Versagen oder
Willensschwäche. Dadurch wird die Rückfallgefahr allerdings nur weiter erhöht.
Mittlerweile
weiß man, dass es nicht so sehr
die Suchtmitteleinnahme an sich ist, die den Betroffenen wieder in sein früheres
Suchtverhalten zurückfallen lässt. Wenn z, ß. ein abstinent lebender Alkoholiker unabsichtlich, d. h. ohne es zu wissen, Alkohol zu sich nimmt, dann
passiert in der Regel überhaupt nichts. Entsprechend sprechen viele
Selbsthilfegruppen in diesem Fall
auch nicht von einem Rückfall.
Entscheidend für den
weiteren Verlauf eines Rückfalls
ist vielmehr, ob der Betroffene einen so genannten Rückfallschock bekommt.
Dieser kann sich wie folgt äußern:
Dem Betroffenen ist
die Stimmung verdorben. Er bekommt Schuldgefühle oder gerät in Panik, weil er
seine Abstinenz gebrochen hat.
Es schießen ihm
Gedanken durch den Kopf. „Jetzt ist eh alles egal, jetzt geht sowieso wieder
alles von vorn los! Da kann ich auch gleich weiter trinken“.
Der Rückfallschock
wird außerdem häufig durch die Enttäuschung und Verzweiflung der Angehörigen
und Bezugspersonen vertieft.
Der Betroffene ist
verzweifelt: „Ich werde es wohl nie schaffen, abstinent zu bleiben.
Die bei Abhängigen
durch das Enzym MEOS (Mikrosomale Ethanoloxidierende System)
sowieso schon stärker ausgeprägte unangenehme
Nebenwirkung von Alkohol wird somit durch den Rückfallschock noch zusätzlich
verstärkt.
Die Wirkung des Rückfallschocks:
Gefühle wie Verzweiflung, Selbstaufgabe,
eigene und fremde Enttäuschung führen dazu, dass die bei Abhängigen infolge
von MEOS sowieso schon stärkere und länger
anhaltende Nebenwirkung von Alkohol bei einem Rückfall nochmals verstärkt
wird.
Verliert der
Betroffene hierdurch noch mehr an Abstinenzzuversicht bzw. Glauben an sich
selbst, trinkt er schließlich weiter, um diesen unangenehmen Zustand
wenigstens kurzfristig erträglicher zu machen. Es ist der Eintritt eines Rückfallschocks,
der die Gefahr birgt, dass ein Abhängiger nach dem ersten Schluck oder Glas
wieder in sein altes Trinkverhalten zurückfällt.
Egal ob es sich um
Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit, um Rauchen, harte Drogen, Übergewicht
oder Spielleidenschaft handelt: Für Rückfälle scheint meistens der in der
folgenden Abbildung dargestellte Verlauf typisch zu sein.
Der typische Verlauf
eines Rückfalls. Die fortschreitende Abnahme von Abstinenzzuversicht lässt den
Betroffenen wieder zum Suchtmittel greifen
Als Betroffener ist
man der Entwicklung eines Rückfalls nicht einfach hilflos ausgeliefert.
Vielmehr gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, um einen Rückfall
aufzuhalten und zur Abstinenz zurückzukehren. Selbst nach dem „ersten
Schluck“ ist erst dann alles verloren, wenn sich der Betroffene selbst
aufgibt. Es empfiehlt sich daher im Rahmen einer Abhängigkeitstherapie,
spezielle Techniken zur Verhütung von Rückfällen zu trainieren.
Jeder Mensch ist immer
wieder mit genau jenen Lebenssituationen konfrontiert, in denen er früher
regelmäßig bzw. automatisch getrunken hat. Es ist vollkommen unrealistisch
anzunehmen, dass ein Abstinentlebender sein Leben derart umgestalten kann, dass
alle Risikosituationen für immer aus seinem Alltag verbannt sind. Außerdem
wird auch ein Leben ohne Suchtmittel nicht immer glatt und problemlos
verlaufen, sondern Krisen, Enttäuschungen oder Rückschläge enthalten.
Für einen Abhängigen
kommt es vielmehr darauf an, dass er nicht völlig ahnungslos und
unvorbereitet in persönlich relevante Risikosituationen „gerät“, in denen
dann seine Abstinenzzuversicht durch automatisierte Rückfallgedanken oder
Verlangen in Frage gestellt wird. Es empfiehlt sich daher, im Rahmen einer
Therapie herauszufinden, auf welche Weise sich in der Vergangenheit ein Rückfall
angebahnt hat:
Welche
Situationsmerkmale kamen zusammen?
Welche scheinbar
harmlosen Entscheidungen gingen voraus?
Welche Rückfallgedanken
haben sich aufgedrängt?
Welcher Art war das
Verlangen nach Alkohol bzw. Medikamenten?
Dadurch wird es für
den Betroffenen möglich, künftig das Herannahen von Risikosituationen frühzeitiger
zu erkennen und sich innerlich auf ihre relevanten Bestandteile einzustellen.
Für diejenigen, die
noch nie in ihrem Leben einen Rückfall erlebt haben, empfiehlt es sich zu überlegen,
was künftig persönlich gefährliche Risikosituationen für einen Rückfall
sein könnten. Denn wie jeder Pfadfinder weiß, ist eine bekannte Gefahr nur
noch halb so groß wie eine unbekannte.
Nicht die Schwere oder
die Dauer einer Suchtmittelabhängigkeit bestimmen somit, ob es dem Betroffenen
gelingt, dauerhaft abstinent zu bleiben. Seine Abstinenzchancen hängen
vielmehr von seiner Einstellung zu Risikosituationen ab: Wer den Anspruch hat,
Risikosituationen vollkommen auszuschließen, oder wer sich ständig von neuen
Risikosituationen überrascht fühlt, lebt mit einem höheren Rückfallrisiko
als derjenige, der seine persönlich relevanten Risikosituationen
kennt und sie als normalen Bestandteil seiner Abstinenz akzeptiert.
Gezielte
Abstinenzgedanken. Wer in eine Risikosituation geraten ist, muss damit rechnen,
dass er automatisch Rückfallgedanken bekommt und/oder deutliches Verlangen nach
Alkohol oder Medikamenten verspürt. Eine solche Situation lässt sich aber
trotzdem abstinent durchstehen, wenn man der drohenden Abnahme an
Abstinenzzuversicht mit gezielten Abstinenzgedanken entgegenwirkt.
Unter
Abstinenzgedanken versteht man zum einen alle persönlich überzeugenden
Argumente oder Gründe dafür, nie mehr zu Suchtmitteln zu greifen.
Beispielsweise
könnte ein Betroffener in einer Risikosituation zu sich selbst sagen: „Wenn
ich jetzt wieder trinke, verliere ich meinen Arbeitsplatz. Wenn ich jetzt
dagegen abstinent bleibe, kann ich stolz auf mich sein, eine solch schwierige
Situation gemeistert zu haben“. Ebenso wichtig sind aber zum anderen
Abstinenzgedanken, die den Betroffenen ermutigen, eine Risikosituation auch
trotz erheblichen Verlangens nach Alkohol abstinent durchstehen zu können.
Hierbei kann es zum Beispiel hilfreich sein, das Verlangen nach Alkohol mit dem
Bild einer maunzenden Katze zu vergleichen: Diese hört irgendwann von selbst
auf zu maunzen, wenn sie trotz anhaltender, erbarmungswürdiger Bettelei
konsequent nicht gefüttert wird. Entsprechend lässt erfahrungsgemäß das
Verlangen nach Suchtmitteln mit der Zeit nach, wenn man ihm in einer
Risikosituation nicht nachgibt. Jede erfolgreich bewältigte Risikosituation stärkt
dagegen die Abstinenzzuversicht bzw. das Selbstvertrauen des Betroffenen und erhöht
dadurch wiederum die Chancen für weitere Abstinenz.
Es empfiehlt sich,
noch während der Therapie für sich selbst zu klären, was später die persönlich
stichhaltigsten Argumente und Selbstermutigungen für die Aufrechterhaltung von
Abstinenz in Risikosituationen sein könnten, und diese auf einem Kärtchen zu
notieren. Um diese Abstinenzgedanken auch in Überraschungs- oder
Stresssituationen sofort parat zu haben, ist es sinnvoll, sie stur auswendig zu
lernen und sich zur Übung mehrmals am Tag leise vorzusagen.
Konsequent bleiben.
Das Verlangen nach Suchtmitteln lässt auf die Dauer nach, wenn man ihm in einer
Risikosituation nicht nachgibt
Expositionsübungen:
Damit dies aber nicht alles graue
Theorie bleibt, muss die abstinente Bewältigung von Risikosituationen auch
praktisch geübt werden. Jeder Feuerwehrmann, jeder Katastrophenschützer und
jeder Pilot weiß, wie oft man möglichst realistische Übungen durchführen
muss, damit man für den Ernstfall wirklich gewappnet ist. Entsprechend hat es
sich als sehr nützlich erwiesen, sich noch während der Therapie im Rahmen so genannter
„Expositionsübungen“ bewusst mit relevanten Auslösesituationen
für einen Rückfall zu konfrontieren, um deren abstinente Bewältigung auch
bei aufkommendem Verlangen in der Realität zu üben. Für manchen Patienten
kann es hierbei sinnvoll sein, bewusst seine früheren Trinkkneipen und
Trinkkumpane aufzusuchen.
Für andere mag es
eher darum gehen, sich wiederholt mit dem Anblick und Geruch seines
alkoholischen Lieblingsgetränks alleine auf dem Zimmer zu konfrontieren. Ziel
dieser Übungen ist es einerseits, wiederholt zu erleben, dass selbst starkes
Verlangen nach Alkohol mit der Zeit von alleine abklingt. Zum anderen kann
dadurch möglicherweise auch eine Löschung der im Suchtgedächtnis
gespeicherten Körperreaktionen erzielt werden. Da solche Übungen aber nicht
ohne Risiko sind und sich bei falscher Anwendung sogar negativ auf den
Therapieerfolg auswirken können, sollten sie unbedingt mit einem Therapeuten
genau geplant und abgesprochen werden.
Ablehnungstraining:
Immer wieder wird man als Abstinentlebender von Außenstehenden zum erneuten
Gebrauch von Suchtmitteln gedrängt werden. Bei einem Alkoholiker kann es sich
zum Beispiel um frühere Trinkkumpane handeln, die ihm unbedingt Alkohol
anbieten wollen mit den Worten: „Komm schon, ein Glas wird dich nicht
umbringen.“ Bei Medikamentenabhängigen kann es sich beispielsweise um einen
Arzt handeln, der achtlos ein Medikament mit Suchtpotential verschreiben möchte
mit den Worten: „Das wird Ihnen gut tun.
In einer solchen
Versuchungssituation kommt es darauf an, dass man das Angebot von Alkohol oder
Medikamenten selbstsicher ablehnen kann, ohne sich in eine längere Diskussion
verwickeln zu lassen. Besonders schwierig erscheint das vielen Betroffenen dann,
wenn sie die Sympathie ihres Gegenübers nicht verlieren möchten. Außerdem
hat sich gezeigt, dass hierbei die Verhaltensmöglichkeiten von Abhängigen häufig
durch gleichzeitiges Verlangen oder entsprechende Rückfallgedanken zusätzlich
beeinträchtigt oder blockiert sein können.
Es ist daher sinnvoll,
bereits während der Therapie geeignete Strategien zum Ablehnen von
Suchtmittelangeboten im so genannten „Rollenspiel“ zu üben. Ein Rollenspiel
bedeutet, dass man mit einem Mitpatienten oder Therapeuten eine entsprechende
Versuchungssituation möglichst realistisch durchspielt und dabei die eigenen
Verhaltensmöglichkeiten schrittweise verbessert. Hierbei gilt es auch
insbesondere zu überlegen, wem man eigentlich die Tatsache der eigenen
Abhängigkeit
auf die Nase binden will und wem nicht.
Die bisherigen Möglichkeiten
waren alle darauf ausgerichtet, das Eintreten eines Rückfalls zu verhindern.
Etwas über die Hälfte aller Abhängigen wird allerdings nach einer Behandlung
innerhalb von vier Jahren wieder rückfällig. Aber auch wer rückfällig wurde,
hat die Chance, Schlimmeres zu verhüten, indem er möglichst schnell wieder
„aufhört“ und zur Abstinenz zurückkehrt. Immerhin gelingt es etwa 40
Prozent aller Rückfälligen, ihren Rückfall auf lediglich drei Tage zu
begrenzen. Dies ist allerdings nicht einfach, weil man als Betroffener bei einem
Rückfall, ähnlich wie bei vielen anderen Unfällen, meist unter einer Art
Schock steht, „versagt“ zu haben.
Notfallplan:
Alles hängt
jetzt davon ab, dass man über einen einfachen und vor allem fest eingeprägten
Notfallplan verfügt. Es empfiehlt sich daher, gegen Ende einer Abhängigkeitsbehandlung
gemeinsam mit dem Therapeuten und den nächsten Bezugspersonen geeignete
Schritte für diesen Fall zu vereinbaren. Diese sollten auf einem Kärtchen
notiert werden, das man immer bei sich trägt.
Insbesondere ist zu
entscheiden, wen man als erstes über einen Rückfall informiert. Nicht immer
ist hierfür der eigene Lebenspartner geeignet, weil er unter Umständen den Rückfallschock
durch eigene Verzweiflung oder Vorwürfe ungewollt vergrößert. Mitglieder
einer Selbsthilfegruppe oder Therapeuten in einer Suchtberatungsstelle können häufig
etwas gelassener reagieren und damit wirksamer helfen, den Rückfall zu überwinden.
„Erste Hilfe“. Ähnlich wie bei einem Verkehrsunfall ist es besonders
wichtig, sich bei einem Rückfall zunächst jeglicher Ursachenforschung zu
enthalten und stattdessen alle Aufmerksamkeit darauf zu richten, weiteren
Schaden durch die Absicherung der Unfallstelle zu verhindern und überlebenswichtige
Maßnahmen einzuleiten. Bei einem Rückfall bedeutet dies, zuallererst die verloren gegangene
Abstinenzzuversicht wiederzugewinnen, damit der Betroffene die
nächste Versuchungssituation wieder abstinent bewältigen kann. Erst wenn
keine weitere Gefahr mehr droht, d. h. der Betroffene seinen Rückfall
gestoppt hat, können die Beteiligten darangehen, das Zustandekommen eines Rückfalls
zu klären. Therapeutische Behandlung
für Rückfällige. Sollte ein Abhängiger nach einem Rückfall erneut
therapeutische Hilfe aufsuchen, so muss er häufig in seiner Abhängigkeitsbehandlung
nicht wieder ganz von vorn anfangen. Die in seiner ersten Behandlung gewonnen
Erkenntnisse oder die während seiner Abstinenz entwickelten Fähigkeiten und
gemachten Erfahrungen sind durch den Rückfall ja nicht einfach ausgelöscht
worden, sondern können vielmehr ein äußerst nützliches Fundament für den
nächsten Abstinenzversuch bilden. Die meisten Abhängigen brauchen in diesem
Sinne mehrere Anläufe, bevor sie zu lebenslanger Abstinenz finden. Auch in
Österreich werden daher zunehmend Behandlungsangebote entwickelt, die sich
speziell an rückfällige Alkohol- und Medikamentenabhängige und ihre Angehörigen
wenden.
In der Forschung über
die Wirkungsweise von Schmerzmitteln sind entsprechende Auswirkungen von
Erwartungen als sog. „Placebo-Effekt“ bekannt. Die tatsächlich erlebte
Wirkung von Alkohol ist somit einerseits immer durch die Wirkungserwartung des
Betroffenen beeinflusst, andererseits bestätigt
natürlich die tatsächlich erlebte Wirkung von Alkohol wiederum die
ursprünglichen
Wirkungserwartung usw.
Durch diesen Kreislauf von Erwartungen
und erlebter Wirkung können sich im Rahmen einer Abhängigkeitsentwicklung bei
jedem Betroffenen ganz unterschiedliche, persönliche
Trinkmotive bezüglich Alkohol entwickeln. Der
Betroffene rechnet mit der Zeit in für ihn wichtigen Situationen immer fester
mit "seiner" Alkoholwirkung. Unwillkürlich wird er in diesen
Situationen immer häufiger oder mehr Alkohol trinken, zumal wenn er glaubt,
diese Situationen ohne Alkohol nicht so erfolgreich bewältigen zu können. Das
bedeutet, dass sein Alkoholkonsum mit der Zeit immer enger
an bestimmte Auslösesituationen gekoppelt wird.
Nun werden vielleicht
einige Leser einwenden, dass Alkohol doch häufig gar keine positive Wirkung
erzeugt hat. ]e mehr Alkohol jemand trinkt, desto unangenehmer ist in der
Regel die Alkoholwirkung insbesondere im Nachhinein. Hier unterliegt ein Abhängiger
mit der Zeit einem tragischen Erinnerungsirrtum: Während Alkohol tatsächlich eine Zweiphasenwirkung hat, setzt sich im Kopf des
Betroffenen eine lineare Wirkungserwartung fest. Er erinnert lediglich die
positive Anfangswirkung und kommt zu der Überzeugung, je mehr Alkohol, desto
besser die Wirkung.
Lineare
Wirkungserwartung und tatsächliche Zweiphasenwirkung: Während der Abhängige
nur die positive Anfangswirkung von Alkohol erinnert, hat Alkohol in
Wirklichkeit eine unangenehme Nachwirkung, die mit erhöhtem Konsum zunimmt.
Dass auf diese Weise
die persönlich angenehme Wirkung von Alkohol oder Medikamenten eine immer
wichtigere Rolle in seinem Leben zu spielen beginnt, wird manchem Abhängigen
erst deutlich, wenn er versucht, abstinent zu leben.
In eben jenen
Situationen, in denen er an eine angenehme Wirkung seines Suchtmittels gewöhnt
ist, wird er sich „ohne“ unsicher, hilflos, fremd oder einfach unwohl fühlen.
Man spricht in diesem Fall von der Entwicklung einer psychischen Abhängigkeit:
Ähnlich wie uns bereits der Anblick oder Duft eines guten Essens automatisch
das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen kann, können frühere
Trinksituationen auch nach längerer Zeit der Abstinenz plötzlich eine Reihe körperlicher
Reaktionsweisen wie veränderte Hauttemperatur, veränderten Herzschlag,
vermehrte Speichelproduktion und veränderte Aktivität der Nervenzellen im
Gehirn auslösen. Wissenschaftler haben diesen automatischen Vorgang, der bei
etwa der Hälfte aller Alkoholabhängiger auch nach langer Abstinenzzeit unverändert
festzustellen ist, als Suchtgedächtnis bezeichnet. Das Belohnungszentrum im Gehirn des Menschen ist nämlich nicht nur für
Lust und Unlustgefühle zuständig, sondern auch ganz wesentlich an vielen Gedächtnisprozessen
beteiligt. Die Ausschüttung bestimmter Botenstoffe, z.B. Dopamin im
Belohnungszentrum, sorgt dafür, dass bestimmt Reize vom Menschen verstärkt
wahrgenommen werden und dadurch unwillkürlich eine besondere Anreizfunktion
bekommen. Nicht immer erleben die Betroffenen hierbei eindeutiges Verlangen nach
Alkohol. Entscheidend ist aber, dass sie beim unmittelbaren Anblick oder Geruch
von Alkohol wie auch bei bestimmten Stimmungen, Orten oder Personen, die mit
Erinnerungen an die positive Wirkung von Alkohol verbunden sind, erheblich in
ihrer Konzentrationsfähigkeit und sozialen Geschicklichkeit beeinträchtigt
sein können und dadurch in diesen Momenten ein erhöhtes Risiko für einen Rückfall
haben.
Dieses Risiko ist natürlich
nochmals erhöht, wenn die Betroffenen hierbei deutliches Verlangen nach Alkohol
erleben. Tritt Verlangen auch nach langer Abstinenz unvermittelt auf, so ist es
nicht mehr die Folge des Endorphinmangels zu Beginn
der Abstinenz. Dieses Verlangen ist vielmehr eine im Suchtgedächtnis
gespeicherte automatische Reaktion des Körpers auf bestimmte
Situationsmerkmale, die früher mit dem Trinken von Alkohol verbunden waren (so genannte
„Trigger“), für die man als Betroffener nichts kann. Verlangen ist insofern
kein Ausdruck von fehlender Abstinenzmotivation oder mangelndem Therapieerfolg.
Entscheidend ist aber, wie man über Verlangen nach Alkohol als Betroffener
denkt und wie man damit umgeht.
Die mit dem Suchtgedächtnis
einhergehenden physiologischen Reaktionen sind übrigens dafür
verantwortlich, dass dann in diesen Situationen die Wirkung von Alkohol schwächer
ist als sonst. Zunächst müssen diese Reaktionen überwunden werden, bevor die
eigentliche Alkoholwirkung einsetzen kann. Dieser Effekt erklärt auch, warum
z.B. bei Drogenabhängigen der tödliche „goldene Schuss“ meistens dann
eintritt, wenn sie ihren Stoff in einer fremden Umgebung einnehmen, in der ihr Suchtgedächtnis
nicht mobilisiert wird.
Zufriedene Abstinenz wird für einen Alkohol- oder Medikamentenabhängigen daher erst möglich, wenn er herausgefunden hat
in welchen Situationen ihm die
Wirkung seines Suchtmittels zur Gewohnheit geworden ist, worin
für ihn hierbei die angenehme Wirkung von Alkohol oder Medikamenten bestand und
wie er eben diese Situationen auch bei starkem Verlangen nach der angenehmen
Wirkung von Alkohol oder Medikamenten sicher abstinent bewältigen kann.
Literaturtipp:
„Ollas wos i was
über den Suff“
von Günter Fassl
jetzt auf CD erhältlich.