Sprachkontakt Tschechisch-Deutsch in Wien
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Der
Wiener Großstadtdialekt, aber auch die Umgangs- und Verkehrssprache der Hauptstadt
ist vom Tschechischen nachhaltig beeinflusst worden, wobei der Höhepunkt heute
längst überschritten ist. Mit dem Aussterben der vor dem Ersten Weltkrieg aus
den Ländern der Böhmischen Krone eingewanderten Personen schwinden auch viele
tschechische Ausdrücke, was ich auch selbst konstatieren kann: viel Sprachgut,
das in den 1950er und 1960er Jahren in Wien noch üblich war, ist heute nur mehr
selten zu hören. Dazu kommt, dass in den letzten 30-50 Jahren hauptsächlich
deutschsprachige Inländer (neben
anderssprachigen Ausländern) nach Wien zugezogen sind, so dass auch eine
Verschiebung der Struktur der Wiener Bevölkerung hinsichtlich ihrer Herkunft
eingetreten ist, wobei die Gesamtbevölkerung zurückgegangen ist (von ca. über
2,1 Mill. [1910] auf ca. 1,57 Mill. Einwohner [1993], derzeit ca. 1,87 Mill. [2017]).
Phonologie und Phonetik:
An
Veränderungen im phonologischen System der Wiener Mundart werden dem
Tschechischen zugeschrieben:
(1)
die Monophthongierung der Diphthonge ei, ai
/ai/ und au /au/ > [æ:] und [ɔ:] sowie eu,
äu /oi/ > [œ:] in der
Umgangssprache, zu [æ:] im Dialekt;
(2)
der Verlust des geschlossenen e und o;
(3)
Verschiebung der Drucksilbengrenze
(ähnlich der Kärntner Dehnung);
(4)
Verlust der (fürs Mittelbairische sonst
so typischen) Nasalvokale;
(5)
gerolltes r (nach Steinhauser 1978, 11ff.).
(ad
1) Wurde erstmals vom Wiener Anglisten Luick (1904, 37 u. 76) beobachtet. Diese
Monophthongierung tritt mehrmals in tschechischer und magyarischer
Nachbarschaft auf (vgl. Kranzmayer 1956, 49). Beispiele: [tsæ:t] „Zeit“, [hɔ:s] „Haus“,
(mundartlich) [læ:t] (bzw. umgangssprachlich) [ʹlœ:tε] „Leute“.
(ad
2) Es gibt phonologisch nur ein e bzw. o, die phonetisch
– wie im Tschechischen – offen (also [ε] und [ɔ]) artikuliert werden
(vgl. Kranzmayer 1953, 211ff.).
(ad
3) Die Verschiebung der Drucksilbengrenze in Fällen wie of-fen, wis-sen, Masch[sch]en zu o-ffm, wi-ssn, Ma-sch[sch]n
führt zu einer Längung des Vokals, die allerdings nicht so deutlich ausfällt
wie bei der Kärntner Dehnung. Doch in expressiver Rede können die Vokale mehr
gedehnt werden, z. B. das kann man ja
nicht wissen [de:s kɔ: ma jɔ: nεt wi:sn],
auch vor Plosiven wie z. B. in dieser
Hütte [in dεərə hi: tn] usw.
(ad
4) Das Tschechische kennt keine Nasalvokale, das Mittelbairische (auch
„Donaubairisch“ genannt) jedoch sehr wohl, auf welchem Boden Wien liegt. Da der
1942 zuerst beobachtete Verlust der Nasalvokale nur in Wien, zunächst aber
nicht in der Umgebung auftrat (erst jetzt scheint er sich auszubreiten), ist tschechischer
Einfluss wahrscheinlich. Tschechen sprachen Wörter wie [gε͂:] „gehen“, [a'la͂:] „allein“ und [hi͂:] „hin“ entweder
[gε:n], [a'lain] und [hi:n] oder der Mundart angenähert, aber ohne
Nasalierung, [gε:], [a'la:] und [hi:] aus, was sich dann offensichtlich
ausbreiten und durchsetzen konnte (vgl. Steinhauser 1978, 20f.).
(ad
5) Diese Erscheinung ist m. E. heute rezessiv, aber in früherer Aussprache
wurde offensichtlich nach tschechischer Manier das r auch dort deutlich artikuliert, wo es sonst der r-Vokalisierung unterliegt (erstmals von
Steinhauser im Jahre 1913 beobachtet), z. B. ['gɔ:nər] „Gauner“,
['blε:dər hunt] „blöder Hund“ mit deutlich artikuliertem
wortschließenden -r (Steinhauser
1978, 21f.). Der
Ausgang -er bzw. -ǝr wird heute fast wie -a (genauer [ɐ]) gesprochen.
Das
Wiener „Vorstadt-L“, auch „Meidlinger
L“ genannt, (etwa [ł],
insbesondere im Wort- und Silbenauslaut) wird vielfach auf tschechischen
Einfluss zurückgeführt, doch im Auslaut ist dieses L im Zuge der mittelbairischen L-Vokalisierung
zunächst geschwunden und erst nachträglich unter hochsprachlichem Einfluss
restituiert worden, eben als [ł], z. B. weil basilektal [vœi], umgangssprachlich [vε:ł]. Doch das
tschechische L ist dem
standarddeutschen L ähnlich (aus
slawistischer Sicht ein „mittleres L“).
Nach Kranzmayer (1956, 119) ist dieses Wiener ł „postdental in
bestimmten Gesellschaftsschichten“.
Wortschatz und Grammatik:
Umstritten
ist der tschechische Ursprung von wienerisch setzen wir sich (statt ...uns);
vergleichbare Erscheinungen kommen auch in anderen deutschen Mundarten vor
(vgl. die ausführliche Diskussion bei Steinhauser 1978, 23-31). Sonst umfasst
der tschechische Einfluss insbesondere den Wortschatz, wobei sich zwei Gruppen
unterscheiden lassen:
(1)
schriftsprachliche Lehnwörter (die
größtenteils auch außerhalb von Wien verstanden werden und z. T. auch außerhalb
Österreichs);
(2)
mundartliche, z. T. umgangssprachliche
(in jedem Fall aber nicht schriftsprachliche) Lehnwörter.
Steinhauser
(1978, 105ff.) nimmt noch eine dritte Gruppe „altösterreichischer“ (also nur in
Österreich gebräuchlicher) Lehnwörter an; hier sind sie sub (1) eingereiht.
Von
der Semantik her handelt es sich bei diesem Lehngut um Bezeichnung von Tieren,
Pflanzen, Speisen (Küche, s.u.), Musik und Tanz, aus dem Fuhrwesen, einige
Ausdrücke aus der Sprache der staatlichen Verwaltung und des Militärs sowie
einige durch das Tschechische vermittelte russische Ausdrücke (darunter auch
Ethnonyme). Einige Beispiele hierzu (in Klammer die entsprechende tschechische
Quelle).
(ad
1) Zeisig (čízek), Stieglitz (stehlec, stehlík), Zobel (sobol aus russ. sobol’), Kürschner (zu
alt Kürschen < krzno „Pelz“), Preiselbeere (bruslina), Reizker (ryzek), Kren
„Meerrettich“ (chřen, křen), Polka (půlka), Kummet (chomout), Polák „Pole“
(Polák), Powidl „Zwetschkenmus“ (povidla), Kolátsche, G- „eine
Mehlspeise“ (koláč), Sliwowitz (slivovice), Ainetze
„Gabeldeichsel“ (ojnice) usw.
(ad
2) Strizzi „Zuhälter“ (strýc „Onkel“), schetzkojedno „alles eins“ (všecko
jedno), pomáli „langsam“ (po málu),
Mischformen wie Feschak „Schönling“ (fesch + tschech. -ák), Böhmak (alt)
„tschechischer Dickkopf“ (Böhme + -ák), davon böhmakeln „mit tschechischem Akzent deutsch sprechen“.
Aus der Küchensprache
wären zu erwähnen u.a. Buchtel/Wuchtel „Germgebäck, Hefeküchlein“ (zu
tschech. buchta „aufgegangene Hefemehlspeise“ + bair. Diminutiv -el),
Haluschka „Teigwarenspeise mit Topfen (und Speck)“ (< tschech. haluška
„kleiner Kloß, kleine, dicke Nudel“), Liwanze „eine Mehlspeise,
Küchlein“ (< tschech. lívance pl., zu líti „gießen“; sie
werden als flüssiger Teig in eine Pfanne mit Vertiefungen gegossen und mit Zimt
und Zucker bestreut serviert) oder Skubanki/Stubanki pl., auch -en „eine
Kartoffelspeise (Erdäpfelnockerln, Schupfnudeln)“ (< tschech. škubánky zu
škubati „rupfen, zupfen“), Palatschinken
(< tschech. palačinke <
ungar. palacsinta < rumän. plăcintă).
Dazu kommen
einige Redewendungen mit tschechischen Wörtern, z.B. auf Lepschi gehen „sich
vergnügen, sich herumtreiben“ (zu tschech. lepší „besser“), mit
Familiennamen: erzählen Sie das der Frau Blaschke! „das ist unwahr!“, ich
bin immer der Novak „ich zahle immer drauf“. Durch H. Qualtingers Figur
(recte) Trávníček entstand die Redewendung Travniček täte
sagen...“nach landläufiger Meinung würde ich sagen...“. – Ferner sind viele der
Wiener Familiennamen tschechischer Herkunft.
Nach Schriftenverzeichnis Nr. 163 (Familiennamen
Nr. 293).