Sie wollen uns nichts mehr erzählen. Alles ist rätselhaft und dann wieder doch nicht. Die Welt kann sie nicht mehr verstehen, aber das finden sie gerade gut. Ist Tocotronic der Ruhm zu Kopf gestiegen? Ihre neue Platte heißt "K.O.O.K.", ein Titel, der nicht mit Bedeutung geizt, aber dabei auch mit Ambiguität spielt. Zugelassen sind eine Million Lesarten, weil es hier darum geht, das richtige Verstehen auszuschließen. Wie Marius Müller-Westernhagen immer sagt: "Freiheit".
Daß "K.O.O.K." weit davon entfernt ist, auf ganzer Linie positiv aufgenommen zu werden, dürfte die letztmonatige Basic-Division in diesem Heft schon deutlich gezeigt haben. Fakt ist, daß "K.O.O.K." das bisher vielfältigste und komplexeste Tocotronic-Album ist. Fakt ist, daß die Band weg wollte vom dilettantischen Charme der Anfangstage. Fakt ist auch, daß durch die Abschaffung jener Koketterie, die früher die Texte bestimmte, eine Stimmung erzeugt wird, die man sowohl als angenehm ernsthaft, aber durchaus auch als ausgesprochen blasiert empfinden kann. Beispiel: "Let There Be Rock", die erste Singleauskopplung des Albums (mit AC/DC-Zitat sowie der "The Final Countdown"-Fanfare der 80er-Jahre Verbrecher Europe), bei der sich selbst erklärte Tocotronic-Sympathisanten angewidert abwandten. Nicht zuletzt durch das gelangweilt-borniert wirkende Auftreten der Band im dazugehörigen Videoclip haftet Tocotronic erstmals ein unangenehm herablassender, fast denunzierender Schlauberger-Gestus an. Wie man als Hörer mit den 'neuen' Tocotronic umzugehen hat, ist schwer zu sagen. Es gibt genug Gründe, sie zu mögen und es gibt ebensoviele, sie zu hassen. Viele Menschen fühlen sich durch ihre Texte berührt, andere fühlen sich mittlerweile eher provoziert, den Hamburgern eine reinzuhauen. Mario Lasar hat sich im Gespräch mit der Band dem Rätsel ohne Lösung namens "K.O.O.K." noch einmal genau angenommen. Herausgekommen ist folgendes:
Toco-Bassist Jan Müller meint, man brauche sich gar nicht entscheiden, wie der Titel am besten zu verstehen sei, "eben weil so viele Sachen drinstecken. Es kann auch völlig frei bleiben." Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow ergänzt: "Wie ein Geheimcode, den jeder mit Bedeutung füllen kann. Die Idee dazu war, daß die letzten Platten doch recht eindeutige Statements hatten, und wir das ein bißchen aufbrechen wollten." 'Veränderung' ist ein zentrales Stichwort des neuen Tocotronic-Albums. In der Welt der populären Musik ist das nichts Besonderes, weil sie von ständig wechselnden Trends lebt. Das Interessanteste ist immer identisch mit dem Neuesten. Bei Tocotronic entspricht die Veränderung hingegen einer Reaktion auf die Art und Weise, wie ihre Musik vom Publikum wahrgenommen wird. Wie der LP-Titel bereits ankündigt, fallen auch die neuen Texte weniger eindeutig aus als zuvor. Sie erscheinen weitaus geschlossener und privater und wollen offenbar keine Unmittelbarkeit mehr kommunizieren. Dirk: "Der Geschlossenheitscharakter war auf jeden Fall sehr stark angestrebt, auch in der Musik. Das war die erste Platte, bei der wir uns vorher schon sehr lange überlegt hatten, wie sie klingen soll und wie die Texte sein sollen. Mit dem Privaten bin ich mir nicht ganz so sicher, weil für uns eigentlich ein Stück wie 'Meine Schwester' von der letzten Platte der totale Schritt ins Private war, wo das Private fast schon schmerzhaft offengelegt wurde. Wir dachten, daß das eigentlich schon ein Schritt zu weit sei. Im Grunde berührt das ein Themenfeld, das so'n bißchen knifflig ist, denn wenn man zu sehr ins Private geht, wird es unter Umständen leicht beliebig. Überspitzt gesagt, ist es auch sehr privat darüber zu singen, was man morgens für'n Frühstück gegessen hat, aber es ist einfach vollkommen irrelevant. Privatheit um der Privatheit willen wollten wir bei der Platte möglichst vermeiden und eigentlich eher universelle Sachen einbeziehen." Jan: "Wir wollen Privatheit schon darstellen, aber eben nicht mehr so auf'nen Präsentierteller legen wie bei 'Meine Schwester', wo jeder sagen kann: 'Das kenn' ich auch.' Diesmal sollte es eher rätselhaft bleiben." Dirk: "Wenn zum Beispiel von 'ich' die Rede ist, was sowieso schon relativ selten vorkommt, muß es auch nicht unbedingt zwingend das eigene Ich sein." Es handelt sich also insofern um private Texte, als daß man sich nicht immer sofort darauf beziehen kann, man nicht so einfach Zugang findet. Dirk: "Genau, das war unsere Absicht. Auch aus dem Grunde, daß bei uns einfach eine Übersättigung stattgefunden hat, was die Reaktionen betrifft. Wenn man sehr oft von Leuten hört, wie sehr sie sich mit einem identifizieren, obwohl das teilweise sehr persönliche Sachen sind, dann denkt man irgendwann: 'hoffentlich endet das nicht mal als identifikationsstiftende Dienstleistungsmaschine, die es immer wieder aufs Neue schaffen muß.'"
Erste Schritte in Richtung identifikationsvermeidender Texte wurde bereits auf dem Album "Es ist egal, aber" von 1997 gemacht. Zwar bedienten sich Tocotronic weiterhin des ihnen eigenen Haß-Vokabulars, doch die Objekte, auf die der Haß projiziert wurde, blieben unbenannt. Auf der neuen Platte erreichen diese Distanz stiftenden Kunstgriffe ein noch weiteres Ausmaß. Ein markantes Beispiel bildet in dieser Hinsicht der Song "Die neue Seltsamkeit". Bereits die Tatsache, daß der Text im Konjunktiv steht, rückt ihn in die Nähe des Fiktiven oder eines Erlebnisberichts, dessen Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist. Inhaltlich geht es um die Ankündigung einer Art Ausnahmezustands, der die Verhaltensweise aller Menschen ändert. Der Autor der als Info-Material deklarierten Bestandsaufnahme von "K.O.O.K.", der mit der Band befreundete Filmdozent Drehli Robnik, merkt an, daß sich der genannte Text "auf einen politischen Umsturz, den Beginn eines Krieges oder einer Masseneuphorie ebenso beziehen kann wie auf eine Währungsumstellung oder einer Invasion von Außerirdischen." Tocotronic installieren auf diese Weise Leerstellen, die an die Vorstellungskraft der Hörer appellieren. Mehr denn je wird der Versuch unternommen, eine Sprache zu finden, die nicht den Anspruch hat, Realität abzubilden und somit Bedeutung festzuschreiben. Statt dessen laden Tocotronic dazu ein, die Bedeutung ihrer Texte selbst zu gestalten.
Auch die Single "Let There Be Rock" umgeht Eindeutigkeiten. Arne Zank, der bei Tocotronic fürs Schlagzeug zuständig ist, erklärt: "Das ist ein sehr zusammencollagiertes Stück, das keine feste Bedeutung hat. Das gilt auch für den darin vorkommenden Satz 'Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut'. Einerseits ist Aufbau ja oft positiv, aber andererseits auch so 'ne billige Floskel." Jan: "Es hat uns auch gerade interessiert, Fragen nach der Bedeutung von Texten zu provozieren." Die Antworten hingegen bleiben sie größtenteils schuldig. Warum? Jan: "Weil wir uns selber gar nicht so sicher sind." Arne: "Gerade bei dem Stück verändert sich das auch für einen selber andauernd. Man ist nicht wirklich in der Lage, auf den Punkt zu bringen, worum es da geht." Dirk: "Viele Sachen auf der Platte, z.B. auch der Satz 'Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut', kommen aus dem eigenen Erinnerungsfeld. Wir sind ja schon ein bißchen Autonome-Jugendzentren-sozialisiert, und dann kennt man diesen Satz eben von Sozialarbeitern. Das trägt man dann mit sich rum. Manchmal stößt man dann während des Songschreibens beim Durchforsten seines Gedächtnis auf Sätze, die man super findet und in einen Zusammenhang reinstellen möchte, aber aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst eigentlich keine feste Bedeutung mehr haben. Das war uns sehr wichtig bei der Platte."
Trotz aller Bedeutungsvielfalt gibt es auch einige relativ unverschlüsselte Zeilen auf der neuen Platte. Dazu gehören unter anderem die von den Zen-Faschisten (Köln/Berliner DIY-Punkband mit agitatorischen Texten und aktionistischer Haltung) inspirierte Zeile "Wir sind raus/Und wir sind stolz darauf" aus dem cool-glamigen "Jackpot". Tocotronic verorten sich außerhalb einer bestimmten Gruppe, auch wenn nicht klar wird, was das für eine Gruppe ist. Klarheit in Unklarheit. Sie formulieren eine oppositionelle Haltung, die allerdings nicht explizit zielgerichtet ist. Und noch niemals zuvor war der Anteil an balladenartigen und im Midtempo-Bereich angesiedelten Stücken auf einer Tocotronic-Platte so hoch wie auf "K.O.O.K.". Mit "Unter der Schnellstraße" und "Rock-Pop in Concert" liegen lediglich zwei Songs vor, die im Aufbau traditionellen Punk-Songs entsprechen. Stücke wie "Das Geschenk" oder "17" zeichnen sich zudem durch epische Instrumentalpassagen aus, die der Musik eine statische Qualität verleihen. Auf diese Weise bekommen die Songs einen eher introvertierten Charakter, der mit der bereits angesprochenen Geschlossenheit in den neuen Texten korrespondiert. So einfach, wie das jetzt klingt, ist es dann aber doch wieder nicht. Zum Beispiel heißt trotz augenfälliger Rätselhaftigkeit ein Stück "Das sind keine Rätsel". Darin wird behauptet, daß "das" offensichtlich sei, obwohl mit keinem Wort erwähnt wird, worauf sich "das" bezieht. Das sind keine Rätsel, die nicht gelöst werden wollen.
Mehr denn je erzählen die Texte Geschichten mittels örtlicher Bestimmungen, die Orientierungspunkte bilden und somit den Labyrinth-Charakter einiger Stücke relativieren. "Unter der Schnellstraße", "Lieblingsbrauereilokal", "Gartenlaube", "Freizeitheim" sind nur eine Auswahl der vorkommenden Lokalitäten, die einem helfen, sich zurechtzufinden in diesem siebzigminütigen Kuddelmuddel von Platte. Dirk: "Das ist wie eine Landkarte oder Topographie, auf der bestimmte Punkte markiert sind, die dann doch wieder sehr konkret sind. Außerdem war bei uns ja schon immer der Wunsch da, um es mal etwas hochtrabend zu sagen, so ein kleines Universum zu schaffen. Ich bin auch Fan von solchen Sachen wie in diesem Buch 'Der Wüstenplanet', bei dem Karten und Zeittafeln mitgeliefert werden. Das finde ich immer super." Und die nächste Tocotronic-Platte versteht man dann nur noch mit Kompass, Weltatlas und abgeschlossenem Geographie-Studium.
Wie bereits auf dem Vorgänger-Album sind auf "K.O.O.K." Gastmusiker (z.B. Thies Mynther von Stella, der diverse Analog-Synthies zum Einsatz bringt und Micha Acher von Notwist bzw. Tied And Tickled Trio, welcher für die Streicher- und Bläser-Arrangements verantwortlich zeichnet) mit von der Partie, die am deutlichsten auf dem rührenden "Morgen wird wie heute sein" zur Geltung kommen. Mit nicht allzu opulenten Streichern arrangiert, steht dieses Stück stellvertretend für den Versuch, formale Neuerungen zu integrieren, ohne die Einheitlichkeit des Klangbilds zu zerstören. Jan: "Es gab zwar Gastmusiker, aber das hatte auf keinen Fall Sessioncharakter, weil so etwas auch schnell unübersichtlich wird. Wir haben bei dieser Platte ganz bewußt darauf verzichtet, bestimmte Sounds in den Vordergrund zu stellen. Das äußert sich darin, daß es weniger Effekte und angezerrte Gesänge gibt. Es war uns wichtig, daß diese Platte einen roten Faden hat, und sowas zerstört man sehr leicht, wenn man immer nur auf der Suche nach dem originellen Sound ist." Dirk: "Wir waren schon sehr zufrieden mit der letzten Platte, weil sie ziemlich ausdifferenziert war. Aber irgendwie basiert die Dynamik immer auf dem Schema leise/laut und verzerrt/unverzerrt, was uns diesmal einfach nicht mehr so gereizt hat. Ein Verzerrer ist einfach nur ein Knopfdruck, und dadurch bläst man ein Stück schon sehr auf. Wir hatten das von Anfang an aus dem Übungsraum verbannt, weil es zu vorschnellen Ergebnissen führt, auch hinsichtlich von Publikumsreaktionen. Wir haben mit der letzten Platte sehr lange getourt, und wenn man dann sieht, daß die Reaktion immer dieselbe ist, sobald man auf dieses Knöpfchen drückt, wird einem schon vor Augen geführt, wie billig dieser Effekt eigentlich ist. So schön die Reaktion auch sein mag." Ein Resultat der Verzerrer-Beschneidung ist vielleicht, daß die Musik jetzt erstaunlicherweise einen ordentlichen Pavement-Einschlag bekommen hat, der sich in tolpatschig swingender Eleganz bemerkbar macht und erst nach häufigen Hördurchläufen auffällt. Natürlich sind Tocotronic jetzt keine Pavement-Kopie - ihre neue Platte atmet lediglich einen ähnlichen Geist, eine Art Friedfertigkeit mit Tendenz zur Traurigkeit.
Carol von Rautenkranz, der "K.O.O.K." zusammen mit der Band produktionstechnisch betreute, bezeichnete das Album euphorisch als die 'letzte Indie-Rock-Platte' - böse Zungen sprechen sogar von der allerletzten. Konfrontiert man die Band damit, stößt man allerdings auf verhaltene Reaktionen. Jan: "Wir wissen damit eigentich gar nichts anzufangen. Das ist wahrscheinlich im Eifer des Entstehens dieser Platte gesagt worden. Ich kann mit so pauschalen Formulierungen nicht viel anfangen." Dirk: "Wahrscheinlich war das eine Art Aufatmen nach langem Aufenthalt im Studio. Das Blöde ist natürlich, daß solche Sachen immer sehr dankbar von der Presse aufgegriffen werden. Ich finde es auch vermessen zu behaupten, unser Album sei die letzte Indie-Rock-Platte, denn so etwas wird es wahrscheinlich immer geben." Jan: "Ich finde es auch etwas beschränkt, nur in der Kategorie Indie-Rock zu denken. In dem Bereich gibt es zwar vieles, was man sehr mag, aber gerade in letzter Zeit haftet expliziten Indie-Rock-Bands etwas sehr Konservatives an. Da sieht man den eigenen Horizont doch schon weiter."
Mario Lasar