KÖNIGINNEN &
MÄCHTIGE FRAUEN
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Die Speckseite im Roten
Turm
Die Rotentumstraße im 1. Bezirk in Wien
war eine der wichtigsten Durchzugsstraßen. Ihren Namen hat
sie von dem Roten Turm, der früher dort gestanden und durch
dessen Tor man in den Norden der Stadt gelangte.
Es heißt, dass früher in Wien die
Frauen sehr mächtig waren und die Männer vor ihnen in
beständiger Furcht lebten. Das wollten sich die Männer
nicht mehr nachsagen lassen und baten bei der Obrigkeit um Abhilfe,
da sie es nicht mehr ertragen konnten, in aller Munde für
Männer zu gelten, die unterm Pantoffel ihrer Frauen stünden.
Da ließ der Magistrat im Gewölbe
des Tores eine zwar aus Holz geschnitzte, doch einer echten aufs
Haar gleichende Speckschwarte angebracht und eine Tafel, auf der
deutlich zu lesen war:
"Befind't sich irgend hier
ein Mann,
der mit der Wahrheit sprechen kann,
daß ihm sein' Heirat nicht tät grauen,
und fürcht sich nicht vor seiner Frauen,
der mag den Backen runterhauen."
In der ganzen Stadt Wien wurde nun ausgerufen,
dass dieses Zeichen aufgehängt und jeder Mann aufgefordert
sei, sein Hausregiment zu beweisen. Doch die Wiener Männer
schwiegen still und trauten sich nicht, so dass die Speckschwarte
(der "Backen") jahrzehntelang am Roten Tor hängen
blieb, ohne dass sie auch nur einer beanspruchte.
Deshalb erregte es auch einiges Aufsehen, als
sich eine Tages tatsächlich ein Mann bei den Stadtvätern
einfand. Es war ein kecker, junger Ehemann, der sich einbildete,
er sei bei sich zuhause der Hausherr. Er behauptete: "Bei
mir daheim bin ich der Herr im Haus, alles geschieht so, wie ich
es will. Meine Frau und mein Gesinde haben gar nichts mitzureden
und haben ausschließlich meine Anweisungen zu befolgen.
Außerdem", meinte er noch, "macht diese Tafel
doch alle Männer zum Gespött."
Er erbot sich also, die Speckseite herunterzuholen.
Die Stadträte stimmten ihm zu, denn sie hatten nichts dagegen,
dass sich endlich ein Mann die Schwarte holte und veranlassten
- natürlich mit großer Ankündigung - das Spektakel.
Als es soweit war, wurde die lange Leiter aufgestellt.
Stolz und selbsticher kletterte unter dem Jubel der Menge der
Hausherr hinauf, besah sich das gute Stück - und kletterte
wieder runter, ohne es entfernt zu haben. Da es gerade ein heißer
Sommertag war und die Speckseite vor Hitze triefte, zog er auch
den saubern neuen Rock aus, den er trug. Auf Befragen, warum er
seinen Rock ausziehe und warum er denn die Speckschwarte nicht
runtergebracht hätte, antwortete er:
"Die is jo ganz dreckig", rief er.
"Die muss zuerst wer putzen! Ich hab heut mein' besten Rock
an, und wenn ich den dreckig mach, dann schimpft mein Weibi wieder
mit mir.""
Die ZuschauerInnen brachen in schallendes Gelächter
aus, johlten und verhöhnten den "Helden" des Tages,
der wortlos verschwand und mit hochrotem Kopf den Platz verließ.
Die Speckschwarte blieb nachher noch ein paar
hundert Jahre hängen, und kein Mann wagte es, sie zu beanspruchen.
Erst als im Jahr 1776 der Rote Turm abgerissen wurde, verschwand
damit auch die Speckschwarte mitsamt der Tafel...
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