DER JUNI 1958
3. Jahrgang, Heft 7
Der Spielplan dieses Monats umfaßte ein festliches und künstlerisch hochwertiges Programm. Daß durch Absagen prominenter Sänger und die im Juni opernübliche Saisonmüdigkeit einzelner Solisten die reine Freude hie und da getrübt wurde, hat nichts zu bedeuten als die unvermeidlichen Schwierigkeiten, die – solange es eine Oper gibt – bestehen und ebenso lange weiter bestehen werden. Daß sich daraus Veränderungen des Programmes und dadurch wieder gewisse Niveaueinbußen ergeben müssen, ist selbstverständlich. Wir sind bereits wieder sehr anspruchsvoll geworden! Es ist erfreulich, daß wir dazu Berechtigung haben, wäre aber verfehlt, deshalb über das Ziel hinauszuschießen. Trotz kleiner Enttäuschungen dürfen wir mit dem letzten Monat der Saison zufrieden und stolz auf die „Visitenkarte“ sein, die wir mit den Festaufführungen vor dem Ausland abgegeben haben. Den ewigen Nörglern können wir die Frage vorlegen: wo ist das Opernhaus, das derzeit mehr zu bieten hat als unser Institut?
FIDELIO am 1. Juni
Diese Aufführung stand unter der Leitung Rudolf Moralts. Die Titelpartie war mit Martha Mödl besetzt, der Florestan mit Ludwig Suthaus. Gesanglich zählt die Leonore zu jenen Partien, die Martha Mödl nicht besonders liegen. Außerdem machte sich die erwähnte Müdigkeit auch bei ihr bemerkbar, doch hat sie darstellerisch Momente, die als Idealverkörperung angesprochen werden müssen. Die kritischen Stellen der Arie allerdings müßten technisch verbessert werden. Ludwig Suthaus’ Florestan konnte weder stimmlich noch darstellerisch befriedigen. Gustav Neidlinger konnte auch diesmal nicht fesseln, obwohl er in Stuttgart unter Wieland Wagners ausgezeichneter Fidelio-Inszenierung gezeigt hat, daß er diese Partie sehr wohl bestens bewältigen kann. Sehr gut gefielen Kurt Böhme (Rocco), Alfred Poell (Minister) und Waldemar Kmentt (Jacquino). Sena Jurinac, die längst keine Marzelline mehr ist, singt die Partie trotzdem ausgezeichnet und es ist eine Wohltat zu sehen, wie frisch und natürlich ihre Auffassung alles soubrettenhaft Verniedlichte vermeidet.
CARMEN am 2. und 4. Juni
Diesmal lag Sevilla endlich wieder in Spanien. Unsere prächtige Carmen-Inszenierung fand nach fast einem Jahr endlich die ihr adäquate musikalische Gestaltung, die Opernchef Herbert von Karajan übernommen hatte. Des Antrittsapplauses nicht achtend, stürzte er sich in das Vorspiel hinein und demonstrierte wieder einmal, was in so einer mißachteten Repertoireoper alles drinnensteckt. Und die Musik hatte so viel Temperament, Farbe, Eleganz, Dramatik und Leidenschaft, daß man fast darauf vergaß, daß man in der Oper war. Man fühlte die Sonne Andalusiens.
Giuseppe di Stefano war Don José, er war nicht der berühmte Startenor, der den Don José sang! Ganz abgesehen von seinem prachtvollen Singen, seiner Technik und Kultur, seinem wunderbaren Timbre, ist er auch immer ein ausgezeichneter Schauspieler. Seine Gestaltung dieser Partie, die alle Haltlosigkeit dieses labilen Charakters zeichnet, ist aus dem Vorjahr bekannt. Was er in dieser Aufführung noch dazugab, war atemberaubend. Wir wählen nur deshalb nicht den Ausdruck burgtheaterreif, weil es am Burgtheater derzeit sicher keinen Mimen gib, der die Schlußszene der Oper so verzweifelt, so gehetzt, so naturalistisch und darüber hinaus so menschlich packend und ergreifend spielen könnte, daß es dem Zuschauer bis unter die Haut geht.
Im vierte Akt wuchs auch Jean Madeira zu einer großen, dramatischen Leistung. Der erste Akt liegt ihr am wenigsten. Da kann sie ihrer Stimme nicht die notwendige Feinheiten abgewinnen. Aber sie wuchs auch stimmlich im Verlauf des Abends. Hilde Güden war als Micaela die Schönsängerin schlechthin.
George London hat offenbar wieder Freude daran, in Wien zu singen. Er gibt alles, was er hat (in den vergangenen Jahren tat er das selten!), und das ist bei einer solchen Prachtstimme eine reine Freude.
Lotte Rysanek und Hilde Rössel-Majdan bewährt sich in den kleineren Partien ebenso gut wie Frederick Guthrie, Alfred Poell und Harald Pröglhöf. Der kleine Renato Ercolani war leider nicht ganz im Bilde und beschwor etliche ernster Zwischenfälle herauf, die man ihm aber seines munteren Spieles und seiner schauen Unschuldsmine wegen notgedrungen verzieh. Die beiden Abende waren so interessant, daß man auf die Zweisprachigkeit vergaß. Vielleicht kann der Chor bis zu den nächsten Festwochen seinen Part französisch studieren?
DIE FRAU OHNE SCHATTEN am 3. Juni
erklang wieder in der gewohnten Wiener Standardbesetzung, zu der nur der Hamburger Walter Geisler (er dürfte neben Hans Hopf und Wolfgang Windgassen offenbar der einzige Kaiser sein) trat. Die begreifliche Nervosität des Gastierenden, die seinen ersten Abend etwas beeinträchtigte, war beim zweiten Auftreten gewichen und er zeigte sich solide und sicher und hatte klanglich noch einiges hinzugewonnen. Leonie Rysanek, Christl Goltz und Elisabeth Höngen waren wieder in ihren Glanzpartien zu hören und machten die Vorstellung (was die Besetzung der Frauenrollen betrifft) zu einem Ereignis, das sie stets ist, obwohl Leonie Rysanek, besonders im ersten Akt, diesmal etwas ermüdet klang. Paul Schöffler war der edle, menschliche, gütige Barak mit vollendeter Stimmbeherrschung, dem man nur (etwa in der Schlußszene) etwas mehr Kraft gewünscht hätte. Karl Böhm schwelgte im prunkvollen Klangzauber der Partitur und tat – wie häufig – in punkto Forte etwas zu viel des Guten.
CARMEN am 4. Juni
unter Herbert von Karajan wurde mit der Aufführung vom 2. Juni besprochen
DIE ZAUBERFLÖTE am 5. Juni
In dieser Vorstellung sprang Berislav Klobucar für den erkrankten Josef Krips ein. Er hat mit sehr viel Liebe und Umsicht vom Pult her für einen ausgewogenen Abend gesorgt. Unsere oft gerühmten Solisten Hilde Güden, Anton Dermota, Erich Kunz und Gottlob Frick, die den Wiener Mozartstil weit und breit bekannt machten, gaben auch diesem Abend Format. Nicht dieselbe Stufe erreichte Mimi Coertse, obwohl diesmal die Koloraturen gelangen. Immer noch kann sie das nicht halten, was sie vor zwei Jahren zu versprechen schien. Der forcierte Beifall ihrer Anhängergemeinde ärgert daher um so mehr.
TANNHÄUSER am 6. Juni
Es gibt wenig Wagner-Sänger, das weiß die Welt. Daher wurde Richard Wagner auch in dem Wiener Festwochenprogramm nicht der gebührende Platz eingeräumt. Die erste Garnitur stand für diese Zeit nicht zur Verfügung, und die zweite Garnitur, die wir an diesem Abend serviert bekamen, wird durch eine Kluft von der ersten distanziert. Um eines ist Heinrich Hollreiser zu beneiden, um die enorme Protektion, die ihm noch immer den Weg ans Pult freimacht, wenn es große Werke zu dirigieren gilt. Die verzerrten Tempi, die monotone „Pinselei“, die Kämpfe zwischen Bühne und Orchester, es hängt einem schon richtig zum Halse heraus, immer wieder dasselbe registrieren und referieren zu müssen. Wie am Pult, so auf der Bühne. Mit Ausnahme von Eberhard Wächters Wolfram war keine wirklich erstklassige Leistung zu hören. In der Titelpartie enttäuschte Ludwig Suthaus. Von den im Venusberg zu tief angesetzten und dann grausam hinaufgeschliffenen Tönen ziemlich mitgenommen, kehrte er etwas ramponiert in die Halle des Landgrafen zurück, um mit dem abermals zu tief intonierten „Erbarm dich mein!“ an das mitleidvolle Herz der Zuhörer zu appellieren. Von dieser „Leistung“ ermüdet, gab er die Romerzählung. Gesanglich war sie jener Teil der Partie, der ihm am besten gelang. Daß die Venus Lust verspürt haben soll (von Margareta Kenney diesmal solide und ohne Tremolo gesungen), diesen sichtlich von Fußschmerzen Geplagten in ihr Reich wieder aufzunehmen, wirkte ziemlich gewaltsam. Traute Richter, kontinuierliche Einspringerin an unserem Institut, brachte ihre bekannt farblose Elisabeth zu Gesicht und Gehör, und Kurt Böhme als Landgraf imponierte diesmal mehr durch die Wucht seiner Gestalt, denn die der Stimme. Aus dem Sängerkrieg gingen Eberhard Wächter und Anton Dermota eindeutig als Sieger hervor. Restlos geschlagen wurde an diesem Abend (wie oft eigentlich noch bei Tannhäuser?) das Publikum!
HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN am 7. Juni
Dirigent dieser Aufführung war Michael Gielen, dem es nicht gelang, die Spritzigkeit der Musik Offenbachs zur Geltung zu bringen. Die Titelpartie sang Ivo Zidek, der zwar nicht stimmlich, jedoch in Ausdruck und Spiel befriedigen konnte. Den Baritonpart interpretierte Paul Schöffler. Er brachte die für die Partien notwendige Dämonie ausgezeichnet heraus und war auch stimmlich gut disponiert. Peter Klein bot als Andreas eine gute Charakterdarstellung. Gute Leistungen zeigten auch die Damen Christa Ludwig (Niklaus), Rita Streich mit einer exakt gesungenen Olympia-Arie und Christl Goltz, die Partie der Giulietta mit dramatischem Akzent gestaltend und besonders Wilma Lipp als Antonia. Erich Kunz als Spalanzani und Ludwig Weber als Crespel hielten das Niveau der Aufführung. Im ganzen gesehen war die Aufführung guter Durchschnitt, doch drückt der Makel der mißgeborenen Inszenierung von vornherein das Niveau.
FALSTAFF am 8. und 10. Juni
Diese beiden Aufführungen bedeuteten zugleich den Höhepunkt der Festwochen. Falstaff war die vollendetste Opernaufführung, die seit der Wiedereröffnung des großen Hauses über die Szene ging, und ist es auch geblieben. Eine einmalige Kostbarkeit für Kenner und musikalische Feinschmecker. In den neun Monaten, die seit der letzten Aufführung dieses Werkes vergangen sind, hat die Wiedergabe nichts von ihrer Vitalität, ihrer Geschlossenheit und dem einmalig erscheinenden Ensemblegeist verloren.
Tito Gobbi ist der ideale Mittelpunkt der Komödie, er ist der Falstaff, wie wir ihn uns wünschen, Geck und Schwerenöter, verhinderter Frauenheld, liebenswert von Anfang bis zum Ende. Vor seiner Leistung hat die Kritik zu kapitulieren. Neben seinem überragenden Kollegen bewährte sich Rolando Panerai als Ford, Giuseppe Zampieri als Fenton, der sich dieser Aufgabe, der er stimmlich längs entwachsen ist, mit bewundernswerter Grandezza entledigte. Renato Ercolani und Mario Petri sorgten im Verein mit dem glänzenden Mario Caruso für Augenblickskomik.
Das Damenensemble war von höchster Brillanz: Elisabeth Schwarzkopfs Alice hat an Stimmkraft noch gewonnen und führte im Finale mühelos. Giulietta Simionatos Mrs. Quickly ist ein einmaliges Kabinettstück, wie sie jede Phrase, jede Geste setzt, ist ganz große Opernkunst. Anna Moffo war eine im Gesang und Aussehen zarte, reizende Nanetta, und Anna Maria Canali als Mrs. Page vervollständigte das Quartett mit sorgsam abgerundeter Leistung.
Herbert von Karajan schöpfte bei dieser farbigsten Partitur Verdis aus dem Vollen. Die durchsichtig aufgebaute Wiedergabe schwelgte in dem Melodienreichtum, malte unnachahmlich das Nebeneinander von Licht und Schatten, man kann diesen Aufführungen mit Lob und Superlativen kaum gerecht werden. Sie waren schlechthin vollendet.
DER ROSENKAVALIER am 9. Juni
Auch die Behandlung der Rosenkavalier-Partitur würde eine Subtilität wie die des Falstaff erfordern. Unter der Leitung von Heinrich Hollreiser konnte davon nicht annähernd die Rede sein. Das Klanggewebe glich einer undefinierbaren „Ton-Masse“ und man mußte froh sein, daß es nicht zu größeren Unstimmigkeiten kam. Mit diesem Unbill fand sich am besten Gustav Neidlinger ab, der sich dadurch an der herzhaften Gestaltung seines Faninal nicht im Geringsten stören ließ. Sena Jurinac bewies erneut, daß ihr Octavian eine Sonderstellung einnimmt, ebenso Hilde Güden, die wienerischste aller Sophien. Beide Sängerinnen waren gut disponiert. Daß sie keine Lust verspürten dauernd die ‚FF’ des Dirigenten zu überbrüllen, ist nur allzu verständlich. Lisa Della Casa als Marschallin schien leicht ermüdet, doch entledigte sie sich ihrer Aufgabe mit Routine. Otto Edelmann hingegen sang den schwächsten Ochs, den wir bisher von ihm hörten. Auf die darstellerischen Mätzchen einzugehen, lohnt nicht der Mühe, einziges Positive seines Lerchenauer war die Beherrschung des Wiener Dialektes. Margareta Sjöstedt bestätigte mit der Annina, daß sie zu einer der besten Chargensängerinnen des Hauses herangewachsen ist.
FALSTAFF am 10. Juni
Unter Herbert von Karajan wurde bereits mit der Aufführung am 8. Juni besprochen.
OEDIPUS REX am 11. Juni, Neuinszenierung, zusammen mit dem Ballett PETRUSCHKA
Nun ist auch der Oedipus, eines derjenigen Werke, die ein Institut, wenn es auf sich hält, einfach auf dem Spielplan haben muß, in der Wiener Oper wieder zu Gehör gebracht worden. (Jetzt fehlt von diesen Stücken eigentlich nur noch Bartoks Blaubart.)
Wie bei Mathis der Maler fällt auch hier angenehm auf, daß nicht mehr die dritte bis zehnte Sängergarnitur der Oper (wie bei den Comprimarii des Wozzeck noch immer festzustellen ist!) für moderne Werke eingesetzt wird, sondern die gleichmäßig gute Besetzung aller gleich wichtigen Partien dieses szenischen Oratoriums bereits als Selbstverständlichkeit erscheint. Die Oper hat es schwer in unserem Jahrhundert. Keine moderne - nicht einmal eine zeitgenössische - Oper will den Komponisten mehr einfallen. So macht man aus der Not eine Tugend und versucht, die gute alte Oper durch Stücke zu ersetzen, die mit den Formen der barocken Bühnenwerke mehr Ähnlichkeit haben als mit der Erscheinungsform, die uns lieb und vertraut ist.
Aber es ist natürlich nicht die Form, die an Strawinskys Oedipus Rex am meisten interessiert, es ist die Musik, an der man Strawinskys Entwicklung, seine Zielsetzung, seinen Weg deutlich ablesen kann. Herkommend von der impressionistisch inspirierte Farbenfreude der slawischen Musik, hat der Komponist selbst mit Sacre du Printemps dieser Richtung die Krönung und den Abschluß gegeben, der ein Weitergehen nicht mehr zuläßt. Von der Musik seiner Heimat ausgehend, schreibt er Musik, die neue Wege geht. Im Oedipus ist die Musik erstarrt, versteinert, das folkloristische Element schimmert nur noch ganz leicht durch, wie der Goldgrund der Ikone. Die Personen des Dramas machen keine Entwicklung durch, sie brauchen eigentlich – im antiken Sinne – gar nicht gespielt zu werden. Sie singen nur – die Musik malt den Schrecken und die Angst, das Mitleid und die Schuld. Und hier sind der lateinische Text und die knappen, trockenen, erklärenden Zwischentexte Cocteaus das Gerüst, das den harten Akkorden Basis und Halt gibt.
Das Wiener Publikum hörte Jean Cocteau schon zum zweiten Male als Sprecher in seinem eigenen Werk. Er erschien ruhiger, gebändigter, wesentlich weniger auf Sensation ausgerichtet, als dies vor Jahren im Konzerthaus der Fall war. Das Publikum feierte nicht nur die gelassene Klarheit des großen Sprechers, es sah in ihm auch den Repräsentanten einer großen Epoche der modernen Kunst. Schade, daß er nicht auch noch Regie geführt und die Dekorationen entworfen hat.
Das soll allerdings keine Spitze gegen die Regie von Oscar Fritz Schuh sein, der sich diesmal ausgezeichnet bewährte. In dem nur von beweglichen Schirmen umgebenen Ring, der die Spielfläche darstellt, schuf er durch wechselnde Beleuchtungs- und Projektionseffekte sowie durch die geschickt angeordneten Auftritte und Abgänge interessante Variationsmöglichkeiten. Die Kostüme (ebenso wie das Bühnenbild von Caspar Neher) geben den Sängern die (offenbar angestrebte) marionettenhafte Steifheit und fielen auch in den Farben - die, obwohl herbstlich düster, nicht schmutzig oder unangenehm wirkten – wesentlich glücklicher als sonst aus, waren aber barock inspiriert, wie schon oft gehabt. Dazu besteht bei Oedipus Rex doch wirklich nicht der geringste Anlaß. Aber Neher leidet eben an einem Barockkomplex.
Oedipus ist eine neue Rolle von Waldemar Kmentt, in der ihm seine Intelligenz, mit der er gleich am Anfang seiner Laufbahn solches Interesse erregte (er begann im Konzertsaal mit Hauers Wandlungen und auf der Bühne mit Prokofieffs Orangen-Prinzen) sehr zustatten kam. Seine kühle, helle Stimme ist für diese Partie geeignet, wie kaum eine andere und sein Singen über jedes Lob erhaben.
Jokaste war Martha Mödl, königlich allein schon durch ihr Schreiten; ihre Bewegungen sind überhaupt einmalig. Sie drückt mit einem kurzen Gang über die Bühne, oft auch nur mit dem Heben des Kopfes mehr aus, als andere durch wohlstudierte Gesten. Auch stimmlich lag ihr die Rolle ausgezeichnet.
Richtig eingesetzt und vorzüglich waren auch Gottlob Frick, Kurt Böhme, Oskar Czerwenka und Murray Dickie.
Der Herrenchor der Staatsoper war im wichtigen und schwierigen Chorpart des Werkes gut studiert, sicher und klanglich wohl abschattiert. Die Herren standen allerdings, mit den Noten ausgerüstet, im Orchester, in unmittelbarer Reichweite des Dirigenten. Immer noch besser für den Chor, als wenn er auf der Bühne schwimmen würde (z.B. bei Orff und Honegger). Das Orchester klang, obwohl ihm die vielleicht nötige Härte durchaus abging, prächtig.
Die musikalische Leitung hatte Herbert von Karajan. Er realisierte die Partitur mit allen den Eigenschaften, die ihn auszeichnen: Geist, Klarheit, technische Meisterschaft, Klangsinn usw. An diesem Abend fiel einem wieder einmal die ungeheure Spannkraft von Karajans Talent auf. Man spricht kaum darüber, noch schreibt man darüber, denn es ist eigentlich fast selbstverständlich, daß seine Abende große Abende sind. Aber sind wir nicht ein wenig undankbar? Er läßt sich weder als Mozart-Apostel, noch als Strauss-Papst apostrophieren. Er dirigierte eine ungekürzte Matthäuspassion ebenso wie das Bartok-„Concerto“, Hänsel und Gretel und Troubadour, Carmen, Figaros Hochzeit sowie die VIII. Bruckner, Die Polka „Auf der Jagd“ ebenso wie Oedipus Rex. Und alles macht er gut. Wer tut es ihm gleich?
PETRUSCHKA
Das Ballett bildete den zweiten Teil des Abends, das von Michael Gielen stil- und sachkundig geleitet wurde. Edeltraud Brexner, Richard Adama und Willy Dirtl tanzten wieder meisterhaft ihre unglaublich lebendigen Puppen und waren technisch und ausdrucksmäßig Vorbild für das Corps, das ihnen mit Temperament und Können nacheiferte.
WOZZECK am 12. Juni
Manchmal ist es sehr günstig, eine andere als die Standardbesetzung einer Partie zu hören. So ging es uns in dieser Vorstellung, wo man wieder Walter Berry hörte und – vergleichend mit dem ausgezeichneten Albrecht Peter – erst so richtig die hervorragende Charakterisierungskunst des jungen Sängers würdigen kann, der die Partie beginnend von tierischer Stumpfheit bis zum grellen Aufschrei der gequälten Kreatur in geradezu beängstigender Weise deutlich macht und dabei noch ausgesprochen schön singt. Christl Goltz war ihm stimmlich und darstellerisch eine ebenbürtige Partnerin. Die Wiener Philharmoniker unter Karl Böhm waren in bester Verfassung und mit Ernst und Gewissenhaftigkeit bei der Sache.
BALLETTABEND am 13. Juni
TOSCA am 14. Juni
Unter der Leitung Herbert von Karajans kehrte die spannungsgeladene Atmosphäre der Premiere ins Haus zurück. Unter seiner Stabführung klangen auch für den Kenner immer wieder neue, vorher nie gehörte Details aus Puccinis reicher Farbenpalette auf. Trotzdem ließ der Dirigent den Solisten alle erdenklichen Freiheiten. Giuseppe di Stefano schwelgte beispielsweise in Fermaten und Gré Brouwenstijn in einem konzertant angelegten „Vissi d’arte“. Die überragende Persönlichkeit auf der Bühne war Tito Gobbi, ein Grandseigneuer der Darstellung, ein Grandseigner des Gesanges. Di Stefano erschien diesmal wesentlich lebhafter und interessierter als bei der letzten Vorstellung, trotzdem gelang ihm die überragende Wirkung des dritten Aktes nicht mit der gleichen Meisterschaft wie bei seinem ersten Wiener Cavaradossi. Immer aber weiß er jeden Abend zu einem Erlebnis zu machen. Nicht ganz das Format der beiden Italiener erreichte Frau Brouwenstijn, sie ist eben doch ein deutsch geschulter Sopran. Erfreulich erschien uns, daß ihr Tremolo, das vor zwei Jahren bei ihrem Fidelio die Leistung beeinträchtigte, kaum mehr zu hören ist. Neben groß angelegten Elementen (zweiter Akt) hatte sie schwächere (Auftritt im ersten und im zu lyrisch angelegten dritten Akt), die die Künstlerin jedoch durch wohldurchdachte Gestaltung und Wirkung der guten Erscheinung auszugleichen wußte. Sie hinterließ den Eindruck einer Sängerin von hoher Intelligenz, und wir würden ihr sehr gerne noch in einer anderen (nicht unbedingt italienischen) Partie wieder begegnen.
MATHIS DER MALER am 15. Juni
Vor ausverkauftem Haus ging die Mathis-Reprise in der erstklassigen Premierenbesetzung zum dritten Male in Szene. Karl Böhm war der feinfühlende musikalische Betreuer, diesmal mit größter Rücksichtnahme auf die Sänger, die er behutsam und meisterhaft begleitete, am Werk. Dadurch kamen die Solisten viel wirksamer als bei der Premiere zur Geltung. Paul Schöffler hat vom Mathis ganz Besitz ergriffen. Stimmlich übertraf er sich selbst und auch die an Höhen bestimmt nicht arme Partie meisterte er souverän. Von den beiden Damen gehörte an diesem Abend Wilma Lipp der Vorzug, die besonders mit ihren klaren, reinen Spitzentönen zu gefallen wußte. Aber auch in ihrer Darstellung blieb kein Wunsch offen, während bei Lisa Della Casa die gewisse saisonbedingte Müdigkeit festzustellen war. Bei Karl Liebl konnten wir bemerken, daß – sieht man von seiner durchdachten Verkörperung ab – sein halsiges Singen eine gewisse Eintönigkeit hervorruft. Von den kleineren Partien möchten wir besonders den mit heldischen Tönen gesungen Schwalb des Anton Dermota und den stark verbesserten Oskar Czerwenka erwähnen.
CATULLI CARMINA/CARMINA BURANA am 16. Juni in der Staatsoper
Damit wurde der sechste Abend der „Woche des zeitgenössischen Opernschaffens“, eine dem Anlaß absolute unwürdige Vorstellung gegeben. Schlamperei war an diesem Abend Trumpf, von zielbewußten, künstlerischen Bestrebungen kaum etwas zu merken. Ein Vergleich der Carmina Burana in der Wiener Staatsoper mit der Wiedergabe unter Wolfgang Sawallisch vor zwölf Tagen im Musikverein muß für das erstgenannte Institut vernichtend ausfallen. Was sich in diesen knapp zwei Stunden im Orchester und auf der Bühne abspielte, spottet jeder Beschreibung. Einzig das Ballett und Wilma Lipp hielten erwähnenswertes Niveau. Nach dieser Aufführung hatte man nur den Wunsch, den Trionfi-Torso unter diesen Umständen und unter diesem Dirigenten (Heinrich Hollreiser) nie wieder hören zu müssen.
COSÌ FAN TUTTE am 16. Juni im Redoutensaal
Am gleichen Abend ging im Redoutensaal dieses Werk in Szene und war in zweifacher Hinsicht besonders interessant: Erstens bewunderte man das seit 1943 unverändert gebliebene Herrenensemble in seinem perfekten Zusammenspiel, bei dem alle Pointen totsicher saßen und alle im Laufe der Jahre hinzugekommenen Extempores (wie z. B. der Schlag, den Paul Schöffler mit dem Magnet-Köfferchen gegen die Fußsohlen von Erich Kunz führt, um ihn in der Doktor-Szene zum Zappeln zu bringen, oder etwa die zuerst forte und bei der Wiederholung ppp gesungene Koloratur Anton Dermotas in der gleichen Szene) setzten der Aufführung viele kleine Glanzlichter auf. Wenn man seine Aufzeichnungen durchsieht, kann man die Daten jener Sylvestervorstellung finden, die jene Gags hervorbrachten, die fälschlich allgemein der Regie zugeschrieben werden. Zum zweiten bewundert man das perfekte Zusammenspiel im Ensemble der Damen, das zum ersten Male in dieser Zusammensetzung zu hören war. Durch den Charme der Damen Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig und Rita Streich wurde die Aufführung bis ins Unwahrscheinliche vervollkommnet. So hat jedes Ding zwei Seiten und eventuelle Umbesetzungen sind (um gleich Salzburg vorwegzunehmen!) keine nationale Katastrophe, die den Mozartstil sofort töten und begraben. Das wäre ein schöner Mozartstil, der keine Umbesetzung aushalten könnte! Um zum Musikalischen überzugehen: Unter der beschwingten, kammermusikalisch subtilen Leitung von Karl Böhm wurden hervorragende Leistungen geboten, die, wie bei Elisabeth Schwarzkopf so vollkommen sind, daß sich manchmal eine Phrase findet, die fast ein wenig überzüchtet wirkt. Das ist bei großen Liedsängern manchmal so. Man denke an Dietrich Fischer-Dieskau auf der Bühne. Elisabeth Schwarzkopf sollte mehr Oper (wenn möglich in Wien!) singen, dann würde sich diese Erscheinung bald von selbst wieder geben. Man bedauert wie immer, daß diese kostbare Aufführung umständehalber nur einen so kleinen Zuhörerkreis finden kann. ‚Ceterum censeo’…, und nun ein Vorschlag: Wie wäre es mit neuen Albaner-Kostümen für Ferrando und Guglielmo? Sie sehen im Vergleich zur rosa und himmelblauen Rokokopracht der Damen etwas verschlissen aus.
DER STURM am 17. Juni
Zum ersten und einzigen Mal in dieser Saison wurde Frank Martins musikalisch völlig uninteressantes Werk gespielt. Die Musik zerdehnt das Shakespeare-Märchen und schafft Längen, die im Sprechstück nicht vorhanden sind und bietet auch den Sängern keine Rollen, die sie bühnenwirksam gestalten können. Daß trotzdem vor allem Christa Ludwig und Eberhard Wächter voll zu bestehen wissen, ist ihren hervorragenden gesanglichen Leistungen und ihrem Spielvermögen zuzuschreiben. Ganz großartig in Ausdruck und Tanz Willy Dirtl als Ariel. Schade um die wunderschönen Bühnenbilder und prachtvollen Kostüme, die dem Burgtheater für eine Neuinszenierung des Shakespearestückes unter dem Regisseur Leopold Lindtberg! zur Verfügung gestellt, weit bessere Dienste erwiesen! Ein schlecht besuchtes Haus mit wenig Stimmung!
MADAMA BUTTERFLY am 18. Juni 1958
Jedermann bedauerte die Absage der für diesen Abend angesetzten Othello-Aufführung, weniger Monacos wegen, als vielmehr wegen der Abreise Tito Gobbis, auf dessen phänomenalen Jago man sich bereits seit dem 9. April unbändig freute. Auch Herbert von Karajan schien müde und mißgestimmt, als er die Ersatzvorstellung in Angriff nahm. Doch diese vage Stimmung dauerte nicht lange. Man freute sich an Rolando Panerais schönem Timbre und ärgerte sich über Nicola Filacuridi, der verloren ist, wenn er eine Partie singen muß, in der er mit dem Spiel nichts kaschieren kann. Denn sobald das Publikum optisch nicht abgelenkt ist, hört es zu und erkennt, daß Filacuridi – nicht so sehr der Stimmgröße wegen, als wegen des unschönen Klanges des Organs – leider zu jener Kategorie gehört, die man in Wien als „Krawattltenöre“ bezeichnet. Dann betrat Sena Jurinac die Bühne, und der Abend, der müde begonnen hatte, wurde wunderschön. Jedem, der nicht dabei gewesen ist, kann es leid darum tun. Besonders ab dem zweiten Akt reihte sich Höhepunkt an Höhepunkt. Von Frau Jurinac und Herbert von Karajan gleichermaßen eindringlich gestaltet, gipfelte die Aufführung in den herrlich musizierten Vor- und Zwischenspielen und in Butterflys erschütterndem Tod. Hilde Rössel-Majdan und Peter Klein waren die immer verläßlichen Interpreten ihrer gut charakterisierten Partien, auch ein diesem Abend, an dem die Taschentücher reichlich gebraucht wundern. Bei „Butterfly“ gibt es immer viel Applaus und noch mehr Tränen.
DER ROSENKAVALIER am 19. Juni
Dieses Werk ist eine der durchschnittlich immer am besten besetzten Aufführungen der Wiener Oper, und man kann in mehrjähriger Opernbesuchstätigkeit eine ganze Anzahl von guten Aufführungen dieses Werkes sammeln. Doch noch niemand hat uns mehr überrascht, als Joseph Keilberth. Man erwartete sich von ihm schwungvoll-auftrumpfende Walzerstellen, die selbstverständlich auch so kamen. Man hatte aber niemals daran gedacht, daß er die lyrischen Teile der Oper mit so feinem, anmutigem Klang, blühender Fülle und großer Steigerung, mit solcher Innigkeit und Gefühlstiefe bringen würde. So geriet der erste Akt, in dem Christa Ludwig und Lisa Della Casa ihre bekannten, hervorragend geformten und gesungenen Rollenausdeutungen darboten, wunderschön. Rita Streich war eine recht nette Sophie, aber nicht mehr. Irgend jemand hat Kurt Böhmes Ochs radikal gedämpft. Dem Unbekannten, der dies vermochte, gebührt unser innigster Dank, denn wenn Kurt Böhme wenigstens zum Großteil von den (bei der Operneröffnung z. B. so störenden) Übertreibungen abläßt, ist er ein sehr guter Ochs. Alfred Poell war ein urwienerischer Faninal und Eugene Tobin hatte einen guten Tag, sodaß ihm die Sängerarie relativ entsprechend gelang. Die Besetzung der kleinen Rollen war die übliche – es wurde oft genug über Unzukömmlichkeiten Klage geführt. Dieser überraschend gute Rosenkavalier läßt von Joseph Keilberths Arabella einiges erwarten. Wir freuen uns auf dieses Werk in Salzburg und in Wien gleicherweise.
DON GIOVANNI am 20. Juni
Diese Aufführung wurde unter der Leitung von Rudolf Moralt größtenteils mit altbekannter und bewährter Besetzung zu Gehör gebracht. Rudolf Moralt bevorzugte rasche Tempi, die der Lebendigkeit des Werkes zugute kamen, doch geschah dabei des Guten etwas zuviel. Eberhard Wächter ist bereits Idealinterpret der Titelpartie geworden und, so wie es sein soll, stets Mittelpunkt der Aufführung. Neben Sena Jurinac’ dramatisch angelegter Elvira bezauberte Wilma Lipp als Zerlina und auch die Herren Anton Dermota und Ludwig Weber waren in bester stimmlicher Verfassung. Die Donna Anna Teresa Stich-Randalls hingegen blieb bläßlich; und die beiden Arien gerieten diesmal mehr schlecht als recht. Der Leporello war mit Otto Edelmann fehlbesetzt.
TOSCA am 21. Juni
war eine Ersatzvorstellung. Durch die Absage Mario del Monacos für Othello war der Programmwechsel nötig geworden. Italienischen Informationen zufolge soll es sich um eine Übermüdung des Tenors gehandelt haben. Die Besetzung der Tosca mit Leonie Rysanek und des Cavaradossi mit dem zurückgekehrten Eugenio Fernandi erweckte Interesse. Trotz allem Lokalpatriotismus muß einbekannt werden, daß der Vergleich zwischen Tebaldi und Rysanek eindeutig die führende Position der Tebaldi in dieser Partie bestätigt. Frau Rysanek hat ein machtvolles Fortissimo in den Höhenlagen und ein kultiviertes Piano aufzuweisen, aber wo blieb das Mezzavoce? Unserem Gefühl nach ist dieses herrliche Organ für das deutsche Repertoire (vornehmlich Strauss und Wagner) prädestiniert. Was aber veranlaßt die Sängerin, sich in den Machtkampf der italienischen Primadonnen einzuschalten? Glaubt sie wirklich, das nötige Rüstzeug mitzubringen? Auch komödiantischer Instinkt ist ein Göttergeschenk, das dem Südländer eher verliehen wird. Frau Rysanek konnte dies nicht nachahmen. Dort, wo sie es versuchte, wirkte ihre Darstellung outriert und unecht. Eugenio Fernandi hat in der Zwischenzeit zweifellos dazugelernt, leider erscheint er zu sehr auf reißerische Wirkung bedacht. Der Opernfreund geht nicht ins Haus, um den Tenor am hohen Ton Verhungern zu sehen, während die übrigen Lagen einer dringenden Politur bedürftig sind. Außerdem muß sich ein junger Sänger vor Imitationen hüten. Wenn man noch lange kein Gigli ist, sollte man sich nicht dessen Schluchzen als Effektwirkung ausborgen. George London war stimmlich ein guter Scarpia. Darstellerisch war er sehr intensiv und im zweiten Akt erschreckend, da er knapp an einer realistischen Vergewaltigungsszene vorbeispielte. Einen großen Abend verzeichnete das Orchester. Mit dieser Vorstellung verabschiedete sich der Dirigent Herbert von Karajan für diese Saison.
OEDIPUS REX und PETRUSCHKA am 22. Juni
In der zweiten Aufführung dieses Werkes gab es bereits zwei Umbesetzungen, von denen allerdings keine dem Werke zur besonderen Ehre gereichte. Heinrich Hollreiser bewies abermals, daß er auch in der Moderne nichts zu bieten vermag. Die Wiedergabe des Werkes wirkte ausgesprochen spannungslos, sodaß man ein Gefühl der Langeweile nicht loswerden konnte. Enttäuschend auch Erik Frey vom Josefstädter Theater als Sprecher, dessen etwas forsche Art hier fehl am Platze war. Ausgezeichnet hingegen waren die Leistungen der Sänger. An der Spitze Waldemar Kmentt, der die Partie des Oedipus zu einer seiner besten zählen darf und Martha Mödls ausdrucksstarke Jokaste, von wirklich antiker Größe getragen.
Der schwungvolle Petruschka bestätigte, was wir geahnt hatten: Es wäre noch immer besser gewesen, Michael Gielen auch den Oedipus dirigieren zu lassen. Man kann über seine Dirigentenqualitäten geteilter Ansicht sein, aber er versteht es wenigstens, die Stimmen auseinander zu halten, sodaß bei ihm kaum der bei Heinrich Hollreiser so gefürchtete „Brei“ einträte.
ELEKTRA am 23. Juni
Diese erste Aufführung nach Beendigung der Festwochen dirigierte Karl Böhm in gewohnt überlegener Weise, doch überschritt er erneut die Grenzen der tragbaren Lautstärke, sehr zum Nachteil der Solisten. In Wien zum ersten Mal sang Lisa Della Casa die Chrysothemis. Optisch der ideale Gegensatz zur Elektra der Christl Goltz, hatte sie stimmlich zu kämpfen, gewann aber diesen Kampf. Ihr gelang es schließlich sogar (singend!) Karl Böhms aufbrausende Orchesterwogen zu durchdringen. Erfreut sahen wir Lisa Della Casa so konzentriert und sich die Partie erarbeitend! Kurt Böhme erwähnten wir bereits in Salzburg als nicht gerade ideale Besetzung für den Orest. Vom stimmlichen ganz abgesehen: Orest ist 22 Jahr alt, ein griechischer Jüngling, ein Heldenideal. Er hat mit dem Lerchenauer gestalterisch nicht das Geringste zu tun. Warum bringt die Regie Künstler eigentlich immer in eine Situation in der sie von vornherein schief ankommen müssen? Trotz gewohnter Intensität und Überzeugungskraft: auch bei Christl Goltz Anzeichen der zu Ende gehenden Saison. Jean Madeira kämpfte mit der Intonation gleichermaßen wie mit dem Text. Ludwig Suthaus bewährte sich als Aegisth.
TRISTAN UND ISOLDE am 24. Juni
Diese Vorstellung war ein Abend für die breite Masse. Für den anspruchsvolleren Hörer (wir sind bereits wieder anspruchsvoll geworden!) blieb er uninteressant und so ziemlich ohne Höhepunkte. Rudolf Moralt dirigierte und die Sänger Birgit Nilsson, Wolfgang Windgassen, Ira Malaniuk, Ludwig Weber (noch immer unübertroffen an Stärke des Ausdrucks) und Paul Schöffler schienen stimmlich (verständlich und verzeihlich) in Saison-Schluß-Verfassung, obwohl sie alle durchdacht und stilvoll sangen. Rein optisch war die Aufführung eine Nervenbelastung. Man wagte kaum, die Augen zu öffnen, geschweige denn auf die Bühne zu sehen. Dieses Zelt! Dieses Reisegepäck! Die tauziehenden Choristen! Diese Bäume! Die wuchernden Grasbüschel auf den Treppen! Diese Beleuchtung! Eigentlich müßte man sagen: Diese Nicht-Beleuchtung. Denn entweder ist es stockfinster oder gleichförmig hell. Von sinnvoller Ausleuchtung kann nicht die Rede sein. Nun, und die Kostüme? Es ist traurig. Dieses Zeug ist schon zwölf Jahre alt und wer weiß, ob es bei der Theater an der Wien-Premiere anno 1946 nicht auch schon aus dem Depot zusammengekratzt worden war. Höchste Zeit, daß es verschwindet!
CARMEN am 25. und 28. Juni 1958
Dirigent dieser Vorstellungen war Heinrich Hollreiser. Jeder erfahrene Opernbesucher weiß, was das bedeutet.
Mit diesen beiden Aufführungen absolvierte Mario del Monaco seine beiden einzigen Wiener Gastspiele in dieser Saison, nachdem er die Othellos abgesagt und die Oper in erhebliche Schwierigkeiten gebracht hatte. Angeblich war er stimmlich in nicht genügend guter Verfassung, um jene Partie singen zu können. Nach dem ersten José fand man das glaubwürdig, denn er hatte in den beiden ersten Akten sehr zu kämpfen und sang sich erst in dem ihm besser liegenden zweiten Teil der Oper frei. Am zweiten Abend allerdings zeigte er sich in hervorragender Verfassung und wurde, wenn auch in gehörig forciertem Tempo und leichtem Distonieren am Beginn der Blumenarie, mit den Schwierigkeiten der lyrischen Passagen fertig. Er sang sogar einen Pianoton, und die Stimme leuchtete in herrlichem metallischem Glanz. Es ist nicht jedermanns Sache, nach di Stefano den Don José zu singen, noch schwerer ist es, ihm die Partie nachzuspielen. Wo di Stefano ergreifend und packend ein Menschenschicksal gestaltet, zeigte Monaco blendende Kulissenreißerei. Was man vorzieht, Belcanto oder strahlenden Glanz einer Riesenstimme, Effekt (schließlich sind wir in der Oper! ) oder Psychologie, bleibt letzten Endes dem Geschmack des Einzelnen überlassen. Die Wiener Oper ist wahrlich gut daran, zwei solche Sänger so kurz hintereinander miteinander vergleichen zu können!
An beiden Abenden hörte man Jean Madeira, die stimmlich bestens disponiert, alle Möglichkeiten ihrer Rolle ausschöpfte. Walter Berry sang wunderschön und agierte mit einer gebotenen lässigen Eleganz, wobei er sich noch die Mühe genommen hatte, den Escamillo französisch zu lernen
Am ersten Abend sang Hilde Güden mit bezaubernder Silberstimme die Micaela. Anna Moffo zeigte am zweiten Abend gute Höhe und schwebendes Piano, konnte aber im Forte und in der Mittellage nicht überzeugen. Die Stimme ist typisch soubrettenhaft und mit der Micaela eindeutig überfordert.
FIDELIO am 26. Juni
In dieser Vorstellung zeigte Otto Edelmann, daß er ein wesentlich besserer Rocco als Pizarro ist, doch spielte er den Kerkermeister so antiquiert und sprach die Dialoge mit so hohlem Pathos, daß man dessen nicht recht froh werden konnte. Marzelline und Jacquino waren mit Wilma Lipp und Waldemar Kmentt bestens besetzt. Großartig Walter Berry als Minister.
SALOME am 27. Juni
Als Ersatzvorstellung für die angesetzte Frau ohne Schatten wurde dieses Werk unter der musikalischen Leitung von Dr. Karl Böhm, in Wien erstmals seit Jahren bei diesem Werk wieder am Pult, gegeben. Er brachte – die für Brüssel stattgefundenen Proben machten sich sehr fühlbar – eine expressive, klanglich ausgewogene und geschlossene Aufführung zustande. In der Titelpartie war Christl Goltz, darstellerisch unerreicht, stimmlich gut in Form. Paul Schöffler (Jochanaan) erschien etwas erholungsbedürftig, erzielte aber durch routiniertes und gekonntes Forcieren guten Eindruck. Anton Dermota gefiel als Narraboth. Julius Patzak deklamierte den Herodes mit Intelligenz. Die Herodias wurde von Elisabeth Höngen hervorragend charakterisiert. Das Judenquartett gewann durch die Einstellung von Peter Klein und Erich Kunz.
CARMEN am 28. Juni 1958
wurde mit der Aufführung am 25. Juni besprochen
DIE ZAUBERFLÖTE am 29. Juni
In dieser Vorstellung unter der musikalischen Leitung von Josef Krips erzielte Mimi Coertse als Königin der Nacht einen beachtlichen Fortschritt. Man sieht, wie sehr einige junge Sänger einen Dirigenten nötig haben, der nicht nur Mozartkenner, sondern auch „Probierer“ ist. Diesmal war Teresa Stich-Randall, die Partie der Pamina anvertraut. Ein süß lächelndes Bildnis, mit goldenen Haaren, doch blieb sie das Gold der Kehle und die Süßigkeit im Timbre leider schuldig. Diesmal klang die Stimme nur hart und spröde. Kurt Böhme sang sich nach anfänglichem Stimmbelag frei, wenngleich seinem Baß die markige Tiefe fehlt. Erich Kunz verzichtete diesmal aufs Outrieren und schenkte uns daher einen liebenswerten Papageno, Emmy Loose war seine gefiederte, routinierte und seit Jahren bekannte Gefährtin. Im ganzen gesehen, ein echt wienerischer Mozartabend mit gekonnten Leistungen.
MADAMA BUTTERFLY am 30. Juni
Mit Giacomo Puccini hatte die Saison begonnen, mit Giacomo Puccini wurde sie beendet. Mußte das sein? Diesmal war das von den Wiener Kritikern ständig, mit viel Geschrei, verlangte Wiener Ensemble am Werk – allerdings leider in Abwesenheit seiner „Streiter“. Endresultat: Sie bemühten sich redlich! Gerda Scheyrers Stimme, im hohen Register von bemerkenswerter Durchschlagskraft, kam in der Mittellage kaum gegen das Orchester auf. Karl Terkal war ein unbeholfener Pinkerton, an den der liebe Gott erstaunliches Stimmaterial verschwendet hat. Als ein in Ehren ergrauter Sharpless zog sich Alfred Poell, mit ungebrochenem Charme, aus der Affäre. Ersparen wir uns die namentliche Erwähnung der Comprimarii. Einzige Ausnahme unter den Scheinstimmenbesitzern: Margarita Sjöstedt. Am Pult war Berislav Klobucar.
SAISON-SCHLUSSBILANZ
Dieses Jahr der Wiener Staatsoper stand mehr als jedes andere im Mittelpunkt der musikliebenden und von der Musik lebenden Öffentlichkeit in aller Welt. Als Herbert von Karajan vor zwei Jahren die künstlerische Leitung der Wiener Staatsoper übernahm, war das Institut auf einen, von uns alten Galeriebesuchern seit anno 1940 nicht mehr erlebten Tiefstand angelangt, und das unmittelbar nach der so „furchtbar“ feierlichen Eröffnung.
Das Hauptaugenmerk der Interessierten galt zwei grundsätzlichen Fragen: 1. Wird Karajan die Oper wieder in die Höhe bringen? 2. Wenn ja, wie?
Die Tatsache, daß Karajan der Wiener Staatsoper wieder Format und Bedeutung gegeben hat, ist bereits bis in Kreise durchgesickert, die dem Opernchef aus den verschiedensten, zumeist persönlichen oft aber auch aus gewissen prinzipiellen Gründen alles andere denn wohlgesinnt sind. Die Erfolge Karajans, die von Publikum mit Befriedigung zur Kenntnis genommen werden, sind öfters Quellen steter Vorwürfe von seiten anders Gesinnter, deren Hauptargument darin besteht, daß Karajan der Qualitätssteigerung der Vorstellungen das eigene Ensemble, das eigene Gesicht und den eigenen Stil der Staatsoper zum Opfer gebracht habe.
Dazu ist in einzelnen zu bemerken:
Die Situation von 1958 kann überhaupt niemals mehr mit der Situation der Wiener Oper in früheren Jahren verglichen werden, weil die Voraussetzungen andere geworden sind. Die Popularisierung des Radios, der Siegeszug der Schallplatte hatten dazu geführt, daß der Musikliebhaber, der eine Aufführung der Oper besucht, gewisse ideale Vorstellungen einzelner Arien oder ganzer Werke mitbringt, die sich ihm vom Radio oder von der Platte her eingeprägt haben; wenn er z.B. in „E lucevan le stelle“ die Aufnahme von di Stefano gehört hat, wird er sich über Karl Friedrich in dieser Partie wundern. Wenn er die Florestar-Arie von Peter Anders gewohnt ist, wird ihn Rudolf Lustig in dieser Rolle auf die Nerven gehen. Wenn er Furtwänglers Tristan, de Sabatas Tosca liebt, werden ihn Heinrich Hollreiser oder Wilhelm Loibner kaum zu Beifall animieren. Das brav daheim sitzende Durchschnittsensemble ist damit zum Aussterben verurteilt. Aber es ist offenbar nicht jeder so anspruchsvoll!
Es liegt im Interesse des guten Geschmacks und dessen Entwicklung und Weiterbildung, wenn die untere Grenze für den Begriff „Qualität“ möglichst hoch angesetzt wird. Allenthalben wird versucht, den guten Geschmack in der Raum- und Formgestaltung in Städtebau und auf vielen anderen Gebieten zu fördern. Nur die Oper sollte stets nur höchstens passablen Durchschnitt bieten, auf daß sie ihr eigenes Gesicht nicht verliere!
Wie ist nun dieses eigene Gesicht beschaffen und wann gab es eines? Wir haben fast den Eindruck, daß dieses Schlagwort eine glatte Erfindung ist.
Seit wir die Wiener Oper besuchen (und das ist länger her, als bei manchen Kritikern) hatte die Wiener Oper nie eigenen Wagnerstil. Im großen Haus der Kriegsjahre wurde noch fleißig der Wagner der Ära Roller-Wymetal gespielt. Und Wieland Wagner wurde vor allem von den Wienern als so revolutionär und wichtig empfunden, weil ihnen die Bestrebungen, die Inszenierung mit der Musik in absoluten Einklang zu bringen und eine neue Basis zur Ausschöpfung romantischer Musik zu finden, so absolut neu erschien; darüber hatte man sich in Wien zuvor noch kaum jemals den Kopf zerbrochen.
Und Mozart? Im alten Haus wurde Mozart (abgesehen von feierlichen Anlässen) kaum gespielt, und von einem bewußt gepflegten Stil konnte nur im Zusammenhang mit dem damals entstehenden „Redoutensaal-Komplex“ die Rede sein. Die glückliche Lösung hinsichtlich des Theaters an der Wien hatte zur Folge, daß der Redoutensaal ein wenig in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Anhäufung von idealen Mozart-Sängern in den ersten Nachkriegsjahren, die relative Billigkeit der Ausstattung in der damaligen Notzeit, das kleine Haus und ein Mozart liebender Dirigent gaben ganz unfreiwillig den Anstoß zu einer Entwicklung, die zu Hause überhaupt erst bemerkt wurde, als das Ausland vom Wiener Mozart zu schwärmen begann. Je mehr man anfing, vom Mozartstil zu reden, desto seltener wurden die dafür charakteristischen Aufführungen, denn alsbald begannen die Sänger zu reisen. Der Wiener Mozartstil wurde nach Wiesbaden, London und - bestenfalls - Salzburg exportiert. Das Publikum kam in den letzten Jahren in Wien nur mehr selten in den Genuß von guten Mozartaufführungen.
Und die Italiener? Über die italienischen Aufführungen des alten Hauses sollte man überhaupt nicht reden. Was man da im Repertoire oft hörte, würde jetzt nur zum Auspfeifen reichen. Wir erwähnen nur Else Böttcher als Traviata, Richard Sallaba als Pinkerton, Georg Monthy in sämtlichen tragenden Baritonpartien. Helge Roswaenges Erscheinen waren Feste. Was gar die Dirigenten betraf: Mittelmaß war Trumpf!!! (Paulik in La Boheme um nur eines der krassesten Beispiele zu nennen.) Im Theater an der Wien hatte man den italienischen Bariton Giuseppe Taddei und Ljuba Welitsch, was zu einer Qualitätssteigerung einzelner Aufführungen führte. Allerdings herrschte Tenormangel, und als Roswaenge im Zenit seines Könnens, endlich wieder nach Wien kam, begann bald der Abstieg der Welitsch, und Taddei war nicht mehr in Wien. Auch Krips ging und Rossi und Erede wurden nicht gehalten. So fehlten allmählich auch die Dirigenten. Dafür hatte man im Repertoire des Theaters an der Wien zuletzt nicht weniger als elf Verdi-Opern (gegenüber derzeit sechs!)
Die Sünden der Vorgänger kann man nicht in zwei Jahren ausbessern.
Was Wagner betrifft, müssen die Versäumnisse von elf Jahren aufgeholt werden. Wir haben auf Karajans Konto den Beginn eines auch im Szenischen durchaus würdigen Ring-Zyklus zu buchen, der einem altersschwachen Tristan und total fehlgegangenen Inszenierungen von Tannhäuser und Meistersinger, die zu nichts als zum Anzünden geeignet sind, gegenüber stehen.
Mit der neuen Zauberflöte durch das Team Rennert-Wakhevitch wurde ein entscheidender Schritt vorwärts getan. Als besonders bemerkenswert mag es erscheinen, daß der Figaro von Rennert-Maximowna der Salzburger Festspiele von 1957 zur Gänze nach Wien übersiedeln und somit die Verbannung dieser kostbaren Oper in den Redoutensaal beendet sein wird. Nun fehlt noch ein neuer Don Giovanni, und dann könnten wir mit unserem Mozart wieder Staat machen.
Über die Italiener wurde mehr gesprochen und geschrieben, als der ganzen Angelegenheit dienlich und förderlich ist. Dabei steht es außer Frage, daß nicht zuletzt die in Wien tätigen italienischen Sänger unserem Repertoire einen gewissen nicht zu unterschätzenden Auftrieb gegeben haben. Die Einheimischen mußten sich urplötzlich mehr Mühe geben und „das ärgert unsre Alten!“
Unsere Preisverteilung:
Noch nie sind der Wiener Oper in den letzten Jahren so ausgeglichen gute und in jeder Hinsicht bemerkenswerte Aufführungen gelungen, wie in der heurigen Saison die Butterfly und die Tosca. Wohl noch selten haben sich schwer zu besetzende Opern wie der Othello und der Falstaff ein so konstant hohes Niveau bewahrt.
Wir konnten in dieser Saison Sängerleistungen bewundern, von denen wir in zwanzig oder dreißig Jahren ebenso schwärmen werden, wie heute alte Opernbesucher von Slezak oder Piccaver. Ob die Künstler seit Jahren an der Wiener Oper wirken, ob sie neu dazugekommen sind, ob sie Wiener Nachwuchs sind oder internationale Spitzenklasse, ist für den Hörer völlig bedeutungslos, denn großartig waren sie alle:
die Butterfly von SENA JURINAC,
die Turandot von BIRGIT NILSSON,
die Amneris von GIULIETTA SIMIONATO,
die Figaro-Gräfin von ELISABETH SCHWARZKOPF;
der Jago von TITO GOBBI,
der Don Giovanni von EBERHARD WÄCHTER,
der Mime von PETER KLEIN,
der Wanderer von HANS HOTTER,
der Siegfried von WOLFGANG WINDGASSEN,
der Don José von GIUSEPPE DI STEFANO.
Noch selten hatten wir Gelegenheit, uns so herzlich über Sänger zu freuen, die, wie Wilma Lipp, von gut zu hervorragend aufstiegen, wie Giuseppe Zampieri den Schritt von der Bedeutungslosigkeit zur Klasse schafften oder wie Walter Berry von einem neuen Fach mit solcher Selbstverständlichkeit und Sicherheit Besitz eingriffen.
Die Wiener Oper hat immer ihre Sänger aus allen Himmelsrichtungen zusammenholen müssen, denn an der Wiener Oper einmal zu gefallen, ist nicht schwer . Wesentlich schwerer ist es, sich in Wien zu halten und zu behaupten. Das Wiener Publikum ist treu, aber nur Künstlern gegenüber, die es immer wieder zu fesseln und zu interessieren vermögen.
Mit den Dirigenten waren wir heuer wesentlich zufriedener als in den vergangenen Jahren. Nicht allein der Umstand, daß Heinrich Hollreisers Tätigkeit ziemlich radikal beschränkt wurde (seiner Abende waren uns aber immer noch zu viel!), gab zur Zufriedenheit Anlaß, vor allem Karajans Tätigkeit, der an 38 Abenden in Wien (und bei sechs offiziellen Auslands-Gastspiel-Abenden) elf verschiedene Werke dirigierte und somit schon nach Klobucar und Moralt der am stärksten beschäftigte Dirigent war: der Chef arbeitete wirklich fleißig. Allerdings hat er viel zu wenig Mozart dirigiert, viel zu wenig Wagner und vor allem noch keinen Strauss. Doch das wird schon kommen. Unermüdlich schien Rudolf Kempe, der so mancher Aufführung seinen Stempel aufdrückte und sie der Mittelmäßigkeit entriß. Die größte Überraschung bereitete uns allerdings der Rosenkavalier von Joseph Keilberth. Sehr erfolgreich waren auch wieder Josef Krips mit Mozart und Karl Böhm, der mit Così fan tutte und Salome die stärksten Eindrücke seiner diesjährigen Tätigkeit hinterließ. Und Dimitri Mitropoulos ist stets ein in Wien gerne gesehener Gast. Ein Dirigent fehlt uns sehr: Mario Rossi. Er hat keine ständige Bindung an irgend ein Opernhaus und wäre wahrscheinlich auch für eine größere Anzahl von Abenden zu gewinnen, wenn man ihm bietet, was ihn interessiert.
So ist fast überall ein Fortschritt zu bemerken gewesen, der auch dem Ballett mehr Möglichkeit und eine gegenüber dem Vorjahr um zwanzig Prozent gesteigerte Anzahl von Abenden brachte, was für die Tänzer Ansporn zu eifrigster Arbeit war.
Nur der Chor hat mit dem allgemeinen Aufbau nicht Schritt halten können. Der Herrenchor ist noch der bessere Teil, während die Damen manchmal enttäuschende Leistungen boten. Neben einer festen Hand würde der Chor vielleicht auch eine andere Art der Anstellung brauchen. Die Choristen sparen mit der Stimme bis zur Pragmatisierung, um sich nicht vorher auszuschreien, und nachher sind sie nicht mehr die Jüngsten, und von Stimmenglanz ist keine Spur mehr.
So gehen wir voll Erwartungen der neuen Saison entgegen, mit Herbert von Karajan an der Spitze, der nicht geredet sondern gehandelt hat, und mit einem neuen Mann, Albert Moser im Generalsekretariat, der sicherlich tüchtiger ist, als seine Vorgänger. Das Publikum will neue Gesichter, ebenso wie die erprobten Sänger des Hauses in neuen Rollen sehen. Ob die Sänger aus Wien, aus Amerika oder aus Italien kommen, ist ohne Belang. Sie müssen nur zwei Dinge mitbringen: Stimme und Persönlichkeit.
Wir wünschen uns einen ausbalancierten Spielplan, der für alle etwas bringt. Und wir wünschen jedem Mitglied der Staatsoper die Konzentration und den Arbeitseifer des Chefs. Karajan hat es zum ersten Mal in der Geschichte der Staatsoper fertig gebracht, einen Spielplan für ein Vierteljahr im voraus aufzustellen und ihn, trotz der im Opernbetrieb unvermeidlichen Erkrankungen, Intrigen, Eifersüchteleien und Marotten auch so ziemlich einzuhalten. Er hat gezeigt, daß er auf lange Sicht plant.
Wir wünschen ihm Hals- und Beinbruch für das nächste Jahr und die nachfolgenden Saisonen.