DER JUNI 1960

5. Jahrgang, Heft 7

 

Der letzte Monat der Spielzeit 1959/60 kann schlechthin als musikalisches und künstlerisches Ereignis angesprochen werden. Die großen Feste waren nicht nur auf dem Spielplan angekündigt, sie fanden auch statt. Was sich dem an Hindernissen entgegen stellte, wurde überwunden. Daß es Hindernisse geben würde, war vorauszusehen, denn solange es Opernhäuser gibt, wird es absagende Sänger geben. Solange es absagende Sänger gibt, müssen Umbesetzungen und Programmänderungen vorgenommen werden.

Allerdings gibt es nur in Wien eine Zeitungskamarilla, die dies platzend vor Schadenfreude aufzeigt und glucksend vor Vergnügen in den Schrei: „Der Opernfahrplan hält nicht!", ausbricht.

Nun, die Schadenfreude erwies sich als verfrüht, die Wiener Staatsoper konnte durchaus halten, was sie versprochen hatte, und die Abänderung der Termine wurde durch die Qualität der betreffenden Premieren mehr als gerechtfertigt. Wir überlassen es unseren Lesern selbst sich ein Urteil zu bilden, weil wir der Meinung sind, daß die Resultate für sich selber sprechen. Wer allerdings der Meinung bleibt, daß Karajan dafür verantwortlich gemacht werden müßte, daß Giuseppe di Stefano ein großer Absagen ist und Jon Vickers erkrankte usw., dem ist ohnedies nicht zu helfen, außer er bewirbt sich um einen Posten in den Kulturredaktionen unserer Zeitungen, dort findet er gleichgestimmte Seelen. Seltsamerweise aber bleiben diese Gemüter ruhig, wenn sich an der Met drei Tenöre an einem einzigen Abend die Partie des Tristan teilen und die Mailänder Scala statt einer großartig angekündigter Glanzpremiere eine Durchschnittsbesetzung präsentiert.

Die Wiener und die Festwochenbesucher jedenfalls freuten sich in diesen Wochen an der Pracht und dem Glanz unseres Hauses. Wir möchten gerne erfahren, wo in der Welt es eine Opernbühne gibt, die derzeit mit der Wiener Staatsoper, so wie sie sich im Juni präsentierte, auch nur einigermaßen Schritt halten könnte.

 

DER RING DES NIBELUNGEN am 31. Mai, 1., 5. und 12. Juni (Premiere von GÖTTERDÄMMERUNG)

Es ist Wieland Wagners Bestreben in allen seinen Bayreuther Inszenierungen gewesen und wird es auch in Zukunft sein, Regiekonzept und musikalische Interpretieren miteinander in Einklang zu bringen. Herbert von Karajan ist nicht der erste Dirigent, in dessen Hand als Dirigent und Regisseur beide Möglichkeiten vereinigt waren. Bekanntlich haben sich auch Furtwängler und Klemperer in beiden Eigenschaften mit Wagner auseinandergesetzt.

Ein geschlossener Ring-Zyklus bedeutet etwas mehr als nur die Füllung einer Spielplanlücke. Die Probleme, die die Tetralogie in geistiger und technischer Hinsicht aufwirft, sind 1960 größer denn je. Die zuerst geplante Siegfried-Oper, das Stück vom Knaben, der auszog, das Fürchten zu lernen, das durch die Einführung des Liebesverbots- und Erlösungsgedankens, die in allen Werken Wagners ureigenstes Anliegen sind, zu einem Dramenkomplex von umfassender Bedeutung wurde, hat nicht nur den Anreiz zur oft abwegigen Ausdeutung und Mystifizieren in sich, sondern birgt als größtes Gefahrenmoment das Verhaftetsein des Schöpfers in Makardschem Bühnenzauber.

Fernab von beiden Bedrohungen ist unser „Ring" vor allem lebendiges Theater. Wien hat mit diesem Ring zum ersten Mal auch im Hinblick auf Wagner etwas Positives und – man kann ruhig sagen – Richtungsweisendes hingestellt. Der Regisseur Herbert von Karajan hat Bayreuth keineswegs imitiert, was die größte Gefahr ist, die einer zeitgenössischen Wagner-Inszenierung drohen kann. Denn solche Plagiate nahmen bisher immer ein Ende mit Schrecken. Andererseits hat sich Karajan aber auch nicht gescheut, mitunter Wirkungen zur Anwendung zu bringen, die auf dem Hügel ähnlichen Ausdruck fanden. (Leere Bühne!)

Das Dominierende einer modernen Wagner-Inszenierung ist die Übersetzung der Musik in Licht, Farbe und Bewegung. Ob sich die Handlung jetzt auf einer Scheibe oder auf übereinandergeschichteten schiefen Ebenen abspielt, ist letzten Endes bedeutungslos. Unser Ring ist gleicherweise Entwicklung und Fortschritt, ist es in gleicher Weise wie der jetzige Bayreuther Ring wert, zur Diskussion gestellt zu werden. So ist Karajans Realisierung der Tetralogie als eine in sich geschlossene künstlerische Leistung von großem Format anzusprechen, sie ist unbestritten ein Markstein in der Geschichte der Wiener Oper, wo wir ja von jeher mit Mozart und Strauss gut umzugehen verstanden, aber bei Wagner oft sehr epigonal waren.

Auch musikalisch ist Herbert von Karajans Ring-Interpretation gewissermaßen neu: wie im Szenischen, so auch im Musikalischen von allem großen Pathos entkleidet, von feinster Nuancierung, fast transparent. Auch hier gibt es natürlich Momente, wo Diskussionen berechtigt sind, wo die Meinung jener Zuhörer manchmal berechtigt erscheint, daß die dramatische Wucht, die Wagners Apokalypse auszeichnet, zu kurz käme. Aber ebenso gültig ist die gegenteilige Anschauung, daß die Eliminierung der allzu großen musikalischen Geste veralteten Ballast beiseite schiebt und einer Zeit des „Unterspielens" gefühlsmäßig viel näher kommt.

Das will nicht besagen – um ein immer wieder auftauchendes Mißverständnissen auszuschließen – daß Karajans Lösung die allein seligmachende wäre, daß sie sozusagen zum Dogma erhoben werden soll, daß nicht dieses oder jenes auch anders denkbar wäre. Doch daß eine neue, in sich geschlossene Ring-Inszenierung in Wien auf die Bühne kam, darin liegt, unbeschadet des Für und Wider, eine Tat. Das zu verstehen, ist manchen Leuten eben nicht gegeben – besonders denen, die wenig Ahnung von der Materie und noch nichts gesehen und gehört haben. Die Bereitwilligkeit zur geistigen Auseinandersetzung lag bei manchen Menschen sehr im Hintergrund. Doch genug davon, tauben Ohren predigen zu wollen.

Einen Nachteil hat der Ring Karajans allerdings: Er ist eine ausgesprochene Parkettinszenierung. Doch das ist nicht zu ändern, da die Dimensionen des hohen und schmalen Zuschauerraumes sich denen einer offenen Bühne mit Rundhorizont gegenüber ausgesprochen ungünstig verhalten. Ein Logentheater ist eben nicht für einen Ring von 1960 gebaut. Da hat man es in Bayreuth natürlich besser. Aber wir müssen schließlich ja auch manchmal noch etwas anderes spielen.

Immerhin ist die neue GÖTTERDÄMMERUNG, wo das meiste ziemlich weit vorne spielt, ein Fortschritt gegenüber etwa Siegfried. Zum Regieführen gehört auch viel Routine, und die hat Karajan zu allem übrigen im Laufe des Ring auch noch bekommen.

Aber fangen wir am Anfang an

DAS REINGOLD am 31. Mai

Es eröffnete den ersten Wiener Ring seit 1944. Das Orchester befand sich leider nicht in so überragender Verfassung. Besonders die leidigen Tubenschmisse in der großangelegten Schlußsteigerung können einen zur Verzweiflung bringen. Das müßten die Herren halt doch einmal üben und sich nicht darauf verlassen, daß die Tuben ein heikles Instrument sind, die überall Schmeißen, was daher niemanden aufregt. Was nützt der Goldglanz der Streicher, das blühende Holz, die glänzenden Trompeten, wenn eine Gruppe immer danebenbläst?

Auf der Bühne stand das bewährte Rheingold-Ensemble mit Hans Hotters gewaltigem Wotan an der Spitze, kontrapunktiert von Wolfgang Windgassen als Loge, der weniger das Verderbliche des Elementes hervorkehrt, sondern das launenhaft Schweifende, Zuckende einer Naturgottheit, die an sich ja weder gut noch schlecht sein kann. Gerhard Stolzes Mime paßte wegen des andersgearteten Kostüms nicht in die Inszenierung – statt eines Wurzelmännchens hatte man plötzlich so etwas Schlangenhaft, sich Windendes vor sich, und man hätte zwangsläufig auch Alberich und die übrigen Nibelungen umziehen müssen – bewährte sich jedoch wieder mit intelligentem Ausdruck und scharfer Diktion.

Ira Malaniuk und Gré Brouwenstijn sind gesanglich und darstellerisch überzeugende Interpretinnen der Göttinnen. Gottlob Frick und Kurt Böhme waren Riesen mit der entsprechenden Wucht in Stimme und Auftreten ebenso Alois Pernerstorfer als Alberich. Eberhard Wächter als Donner und Waldemar Kmentt als Froh standen auf der Höhe ihrer Aufgaben. Die Rheintöchter. Wilma Lipp, Sena Jurinac und Hilde Rössel-Majdan breiteten stimmlichen Glanz und Wohlklang über die Es-Dur-gesättigten Naturmotive. Hilde Rössel-Majdan war auch eine vorzügliche Erda.

DIE WALKÜRE am 1. Juni

Hier ging die größte Wirkung von gewaltigen Persönlichkeit Hans Hotters und der gewaltigen Stimme Birgit Nilssons aus. Der sinnende, traurige, zornige Gott Hotters ist nicht nur Mittelpunkt der Walküre, sondern zu Recht der ganzen Tetralogie und seine überlegene stimmliche Gestaltung hatte nur eine einzige kleine Schwächeperiode im zweiten Akt. Birgit Nilsson sang hinreisend schön und mit starkem Ausdruck.

Wegen der Erkrankung von Jon Vickers sprang Wolfgang Windgassen als Siegmund ein und bildete mit Gré Brouwenstijn ein vorzügliches, stilvolles, intelligent phrasierendes, schlankstimmiges Wälsungenpaar. Rein stimmlich kann man sich diese Rollen natürlich auch anders vorstellen, aber Karajans unpathetische Wagnerauffassung liegt den beiden Sängern sehr.

Rita Gorr und Gottlob Frick waren die stimmgewaltigen Vertreter der Fricka und des Hunding.

Bei den acht Walküren überwogen diesmal die guten: Christa Ludwig, Lotte Rysanek, Gerda Scheyrer, Margareta Sjöstedt und Hilde Rössel-Majdan.

SIEGFRIED am 5. Juni

Da hatte Wolfgang Windgassen einen glanzvollen Abend. Man hört sofort, wie gut er ist, wenn oft auf der Bühne steht. Sein Singen hatte Glanz und Kraft bis zum Liebesduett, das er, vereint mit Birgit Nilsson, herrlich und schallplattenreif sang. Es ist ein Jammer, daß die Wiener Staatsoper keine Life-Aufnahmen macht. Das wären Dokumente der Ära Karajan!

Gerhard Stolze war als Mime hektisch und grell und vor lauter Ausdruck bar jeder Gesangslinie. Mime ist ohnedies nicht viel davon zugefallen, das Wenige sollte gewahrt bleiben.

Otto Edelmann war als Wanderer eine gröbliche Fehlbesetzung. Stimmlich war er für seine Verhältnisse nicht einmal so schlecht, aber sein gemütlich-jovialer Gott, zerrt an den Nerven der Zuhörer. Jean Madeira drückte heftig und unnötig auf die Stimme. Aber Wilma Lipp als Waldvogel und Gottlob Frick als Fafner waren hervorragend. Und Alois Pernerstorfer war wieder ein ausgezeichneter Alberich.

Die Vorstellung wuchs von Akt zu Akt und erreichte ihren Höhepunkt, als Otto Edelmann nicht mehr auf der Bühne war. Das Liebesduett war wieder ein einmaligen Ereignisses.

 

GÖTTERDÄMMERUNG am 12. Juni, Neuinszenierung, am 14. Juni Reprise

In Herbert von Karajans Götterdämmerung-Konzeption berührt und überschneidet sich der altgermanische Mythos mit der Sage mittelalterlicher Prägung. Aus der Welt des Nibelungenliedes kommen der Burgunderkönig und seine Schwester. Und dieser Gunther ist tatsächlich ein König, der an schicksalhafter Tragik zugrunde geht und nicht ein armseliger Waschlappen, zu dem er häufig degradiert wird. Er und Gutrune sind zutiefst menschliche Gestalten, über deren Haupt sich der Kampf der Gewalten entlädt, in deren Herzen der Streit zwischen Licht und Dunkel ausgetragen wird. Dieses Dunkel, repräsentiert durch Hagen, den Nibelungensohn, ist in der Gibichungenhalle großartig zum Ausdruck gebracht, wenn schwere Schatten in das Gebälk der Halle hinaufschleichen und Besitz ergreifen von dem Glanz des Burgunderkönigs. Hagens grimme Freudlosigkeit und das Licht des Helden sind hier Sinnbild für den Kampf der Gewalten, an denen zuerst der Mensch scheitert, der dem Erdgebundenen und der Gier nach Gold ebenso verhaftet bleibt wie der Sehnsucht nach den wolkigen Höh’n, auf denen die Götter wohnen.

In der Nornenszene ahnt man mehr, als man sie sieht, die schiefen Ebenen des Siegfried über denen gestaltlos, wie schwebend, die Nornen – als Töchter Erdas charakterisiert und dem Dunkel verbunden

bleibend – seherisch und monumental wie ein schwacher Schein aufschimmern. Nach dem nun schon wohlbekannten Walkürenfelsen in neuer Beleuchtung zieht die Halle die Aufmerksamkeit auf sich, nur durch drei schwarze Pfeiler angedeutet, trotz des Throns erfüllt von Hagens dunklem Geist. Eine Szene darin haben wir noch niemals so eindrucksvoll gelöst gesehen: Siegfried, der unverwundbaren Göttersproß steht beim Trank des Vergessens noch einmal in vollem Licht. Dann schiebt sich Hager vor den Thron und hinter Siegfried, und der Schatten greift auch nach dem Helden, wächst auf und beherrscht die Szene, blendende Charakterisierung der Entgöttlichung des Helden, der Vermenschlichung, des Preisgegebenseins an Irrtum und Vergänglichkeit.

Daß sich die Rheinfahrt im Orchester abspielt und von Hagen mit Blick in den Zuschauerraum kommentiert wird, finden wir durchaus in Ordnung. Das sind wir ja von Bayreuth her gewohnt. (Die Bürger Nürnbergs singen zu einem imaginären Altar im Zuschauerraum, und der Brautzug im Lohengrin würde sich, wenn die Chöre noch etwas länger dauerte, geradewegs auf die Loge der Wagnerfamilie zubewegen.) Überzeugend auch Siegfrieds Auftauchen auf dem Walkürenfelsen. Die Tarnhelmszene (ein Unhold!) ist eindrucksvoll und durchdacht!

Das beste Bühnenbild des gesamten Ringes entwarf Emil Preetorius im zweiten Akt – einen weiten, offenen Platz mit abschließender ansteigender Mauer. In dieser Szene zeigte Karajan eine ungemein gekonnte Massenregie und Personenführung. (Schwurszene!)

Das erneute Hinabtauchen auf den Grund des Rheins fanden wir zu Beginn des dritten Aktes eigentlich unnötig. Um so schöner und geglückter in Stimmung und Beleuchtung war das wilde Felsental und Siegfrieds Tod, großartig in Gruppierung und Beleuchtung.

Der düsteren Schlußszene, die in Weltenbrand und Erlösung in den Fluten des Rheins überleitet, fehlt allerdings szenisch etwas, was uns die Musik förmlich in die Ohren schreit: Das Werfen der Fackel: „So werf ich den Brand in Walhalls prangende Burg!", ist durch Brünnhildes einfaches Abgehen nach der Seite so nicht realisierbar. Und hier beginnt uns – das ist natürlich Ansichtssache – eine gewisse Monumentalität zu fehlen, die wir bisher allerdings auch in keiner anderen Inszenierung gefunden haben. Man erinnere sich: Brünnhilde kommt vom Ufer zurück. Hell leuchtet ihr blauer Mantel – es ist dasselbe magische Blau, das im ersten Akt des Siegfried Mime in panische Angst versetzt hat – nun zuckt auch Hagen, der Nibelungensohn, davor zurück. Das ist ein ganz großer Einfall und zeugt von bester Zusammenarbeit mit dem Kostümentwerfer (auch die Kostüme von Gunther und Gutrune hatten übrigens das gewisse Etwas.) Doch der Brand beschränkt sich auf Walhall, statt die Bühne ganz zu erfüllen. Und da fanden wir einen gewissen Bruch zwischen musikalischer und szenischer Interpretation. In Karajans Bühnenfeuer gehen die Menschen unter, der Weltenbrand liegt nur im Musikalischen. Vielleicht läßt sich diese Diskrepanz so erklären, daß sich in der doch eher rationalen Regiekunst die Dimensionen nicht ändern, die im Musikalischen durch Gefühlseinwirkung einer starken Feuerprobe ausgesetzt werden.

Musikalisch reihte Herbert von Karajan in dieser Götterdämmerung Höhepunkt an Höhepunkt. Das Orchester spielte so herrlich, daß jedem einzelnen Musiker ein Lorbeerkranz hätte überreicht werden müssen. Die gewaltigen Steigerungen des Werkes, in dem wir die Motivgruppen der Natur, des Goldes, der Götter, Riesen, Wälsungen und Nibelungen in harmonischer Konzipierung und reicherer Polyphonie wiederfinden, hatten die Größe des einmaligen Ereignisses. Noch selten war einem so zu Bewußtsein gekommen, wie durchgeschüttelt von Tristans Fieberschauern, ja angenähert der entsinnlichten Weiträumigkeit der Motive des „reinen Toren" die Musik der Götterdämmerung schon ist.

Mittelpunkt der Aufführung war die Brünnhilde von Birgit Nilsson. Die stählerne Riesenstimme schwang sich siegreich über die düsteren Orchesterballungen, und die Brünnhilde der Götterdämmerung mit ihrer weitgespannten Entwicklung vom liebenden Weib über die wilde Rachegöttin zur wissenden und erlösenden Walküre fand eine ebenso durchdachte wie ausdrucksvolle Darstellung. Besonders erwähnenswert ist, daß wohl noch keine Sängerin den Part so absolut schön und fast mühelos gesungen hat. Mit dieser Leistung steht Birgit Nilsson einsam über jenen, die sich so gerne Primadonna nennen lassen

Wolfgang Windgassen ist als Siegfried geradezu ein Idealinterpret – man kann nicht entscheiden, ob seine Gestaltung dessen, von dem man sagen wird: „Runen weiß er und rät sie nicht", „Laut’rer als er liebte kein And’rer" und trotzdem „die treueste Liebe trog keiner wie er", bloße Intuition oder die Frucht langen Nachdenkens ist. Herausgebracht hat er alle Züge des Alt-Siegfried auf das Hervorragendsten und, da er sich stimmlich in bester Form befand – man danke nur an die wunderschön gesungenen Waldvogelrufe in der Todesszene! –, blieb kaum ein Wunsch offen.

Nicht zuletzt Karajans Regie ist es zuzuschreiben, daß Gottlob Frick, dessen schwarzer Baß die Rolle des Hagen auch dann ausfüllt, wenn er nicht allerbestens disponiert ist, als Hagen so gut war. Sein düsterer Nibelungensohn hatte das Format und die scharfe Charakterisierung, die Hagen über eine Schablonengestalt des Negativen hinaushebt.

Rita Gorr sang mit wahrhaft hochdramatischer Stimme eine unwahrscheinliche Waltraute – die Szene hatte mehr dramatische Wucht als je zuvor.

Die drei Nornen waren mit Ursula Boese (eine prachtvolle Stimme mitrelativ wenig Ausdruck), Christa Ludwig, die stimmlich und im Ausdruck die stärkste Persönlichkeit war und der gut und überraschend dramatisch singenden Gerda Scheyrer bestens besetzt, ebenso die Rheintöchter mit den stimmlich ideal aufeinander abgestimmten Damen Wilma Lipp, Margareta Sjöstedt und Hilde Rössel-Majdan. (In der zweiten Aufführung sang Frau Rössel-Majdan auch eine gute zweite Norne.)

Hermann Uhde und Gré Brouwenstijn holten aus den wichtigen, aber undankbaren Partien von Gunther und Gutrune fast mehr heraus, als drin zu finden ist. Hermann Uhde bewies endlich stimmlich jenes Format, das man eigentlich von einem Staatsopernsänger in allen Rollen fordern müßte.

Alois Pernerstorfer war wieder ein ausgezeichneter Albernen.

Trotz des Wagner-Ensembles, wie es anderswo kaum in Festspielbesetzungen anzutreffen ist, scheint es uns aber, als habe der Höhepunkt des Abends in der grandiosen Trauermusik gelegen.

 

DIE VERKAUFTE BRAUT am 2. Juni

Es war direkt eine kleine Entspannung, nach den beiden ersten Ringabenden: heiteres, unbeschwertes, lebensfreudiges Musiktheater. Die herrliche Günther Rennert-Inszenierung mit ihrem Licht, ihrer Farbe und Bewegung wurde von Jaroslav Krombholc wieder unnachahmlich locker und doch fest zupackend in Musik umgesetzt. (Nach eingangs versuchter Verschleppungstaktik des Chores, brachte er rasch alles auf Hochtouren.) Leider trübte Irmgard Seefrieds mäßige Verfassung den stimmlichen Gesamteindruck der Aufführung. Sie plagte sich sehr und nützte jede Gelegenheit, die exponierte Höhe raschestens wieder zu verlassen, besonders im ersten Duett mit Hans, in dem auch Waldemar Kmentt eine gewisse Anlaufzeit benötigte. (Auf kleine „Aussteiger" wollen wir nicht näher eingehen.) Ludwig Welter und Murray Dickie boten ihre gewohnt guten Leistungen. Neu war der Zirkusdirektor von Laszlo Szemere, der natürlich nicht die Wirkung seines Vorgängers Erich Kunz erreichte. Bekannt und bewährt in den Nebenrollen Hilde Konetzni und Hans Braun als Elternpaar und Liselotte Maikl als grazile Esmeralda. Zum Schluß wollen wir noch einmal auf die besonders geglückte Regie, vor allem beim Duett „Weiß ich doch eine…" (Wie heißt es doch gleich jetzt?? Wir werden uns mit dem neuen Text nie richtig anfreunden) hinzuweisen, wo man neben Kegelschieben, Zaundialogen bei sich drehender Bühne, Kannenabladen usw. direkt vergißt, daß die Akteure so nebenbei auch noch singen. Das ist Bewegungsregie modernster Art, wie sie das Operntheater von heute dringend braucht!

DER ROSENKAVALIER am 3. Juni

Seit Elisabeth Schwarzkopf die Marschallin verkörpert, ist man geneigt, die Oper statt Der Rosenkavalier jetzt „Die Marschallin" zu nennen, so stark ist die Wirkung, die die einmalige Gestaltungskraft dieser Künstlerin auf uns ausübt. Gibt es überhaupt Worte einer Kritik, mit der man dieser vollendeten Leistung nur annähernd gerecht werden kann? Wien hatte bisher bestimmt Darstellerinnen dieser Rolle, die uns heute noch unvergeßlich sind (z. B. Hilde Konetzni). Aber Elisabeth Schwarzkopf eröffnet uns neue Dimensionen. Es erübrigt sich wohl, über ihre Gesangskunst große Worte zu verlieren. Technik und Perfektion ihres Soprans haben wir seit jeher bewundert. Aber die Erfüllung jeder, bisher scheinbar nebensächlichen Phrase mit echtem Gefühl und Ausdruck, das schier unglaubliche Einfühlungsvermögen in die zartesten Regungen dieser Frauenseele, das ergibt eine Marschallin, die wir noch nicht kannten, eine Leistung, die uns wie ein kostbares Geschenk beglückt. Hier ist jeder Schritt, jeder Blick, jede kleinste Bewegung überlegt nachempfunden, ist jede Note in des Wortes ureigenster Bedeutung in Dynamik, Färbung und Phrasierung genau der Aussage des Textes adäquat. Es klingt vielleicht paradox – die erschütterndsten Momente hat sie dort, wo sie eigentlich nicht mehr singt, sondern mit einigen tonlos erstickten Worten (1. Akt: „und laß die Uhren alle, alle stehn", 3. Akt: „Ich weiß auch nix, gar nix") die Angst der alternden Frau oder die resignierende Größe ihres Verzichtes glaubhaft macht. Danken wir Elisabeth Schwarzkopf für ihre wohl auf der ganzen Welt konkurrenzlose Leistung. Sena Jurinac, unser Ideal-Oktavian, bezaubert durch Charme, Temperament und Gefühlsintensität darstellerisch wie gesanglich immer wieder aufs Neue. Hilde Güden zeigte sich gegenüber ihrer letzten Sophie wieder auf gewohnter Höhe, obwohl ihr die exponierten Höhenlagen (Rosenüberreichung) schon einige Schwierigkeiten bereiten. An Innigkeit und Empfindung stand sie jedoch in diesem Frauendreigestirn etwas außerhalb. Otto Edelmann war ein gemäßigter, stimmlich und schauspielerisch stets die Mitte haltender Ochs auf Lerchenau und bot eine ansprechende Leistung. Wir haben wieder einen Faninal köstlichster Art: Otto Wiener! Er belebt die Partie mit unzähligen Einfällen, setzt seine Pointen in klarer Diktion und meistert die hohe Lage der Rolle mühelos. Gerhard Stolzes scharf gezeichneter Valzacchi stammt etwas zu deutlich von der grünen Spree. Anton Dermota (Sänger) war mehr laut als schön, doch stets im richtigen Tempo. Heinrich Hollreiser dirigierte. Außer einem stimmungsvollen, gut aufgebauten Terzett ließ nichts aufhorchen, doch wollen wir lobend erwähnen, daß er sich der subtilen Gesangskultur Elisabeth Schwarzkopfs anerkennend gut anpaßte.

EIN MASKENBALL am 4. Juni

In dieser Aufführung geschah etwas sehr Sonderbares: Der unvergleichlich, launenhafte Star Giuseppe die Stefano, der der Wiener Oper neben herrlichen Abenden auch schon ungeheuer viel Kummer geschenkt hat, sang plötzlich, als ginge es um sein Leben. Wir haben ihn schon oft, besonders als Riccardo, in bester Disposition gehört, nie aber so wie diesmal, wo sich seine herrliche Goldstimme und sein differenziertes und ausdrucksvolles Spiel mit beispiellosem Einsatz, Ehrgeiz und Hingabe verbanden. Und der erfahrende Opernbesucher riß vor Staunen Mund und Ohren auf und hätte er einen Hut aufgehabt, würde er diesen vor Freude in die Luft geworfen haben, aus Begeisterung über soviel Glanz, Kultur und Belcanto. Giuseppe di Stefano schuf an diesem Abend einen ganz neuen Künstlertyp – den Primosignore. Denn selbst in dieser außerordentlich besetzten Aufführung überstrahlte er alle anderen. Dabei stand ihm Ettore Bastianini als Renato zur Seite, der allerdings – gemessen an seinen eigenen Leistungen! – einen etwas schwächeren Abend hatte. (Besonders in „alla vita…" verwoben sich einige Rauheiten mit dem schwarzen Samt seiner Stimme.) In den Ensembleszenen war er aber doch „da", wie immer. Und im „Eri tu…" war er wieder sicher und gefestigt. Ein indisponierter Ettore Bastianini singt offenbar noch schöner als manch gesunder Kollege! Die Amelia sang Leonie Rysanek, in der Ulrica-Szene und auch noch in der großen Arie von maßloser Nervosität erfüllt. Warum eigentlich? Es ist psychologisch völlig unerklärbar, warum Sängerinnen, die sich mit viel Arbeit und Mühe an die Spitze vorgearbeitet hatten, derartige Komplexe mit sich herumschleppen. Und überhaupt: Je besser die Technik ist, desto nervöser sind sie offenbar. Dabei würde die Hälfte des Könnens genügen, um sogar über eine mittlere Indisposition hinweg zu singen. Man hat fast den Eindruck, daß manche Sängerinnen das Publikum als den ärgsten Feind betrachten, der nur deshalb gekommen ist, um zu erleben, daß „was passiert". Irrtum! Nur Kritiker besuchen aus diesem Grund die Oper. Das Publikum kommt in den Maskenball um Belcanto zu hören und es wünscht nichts anderes, als daß sich die Sänger mit ihren herrlichen Stimmen ihm mitteilen – in der edlen und begreiflichen Erregung des nachschaffenden Künstlers. (Nicht kalt, wie Fisch natürlich, das ist auch nicht das Richtige!) Leonie Rysanek fand erst im Liebensduett zu richtig großer Form und großem Ausdruck – vorher klang alles etwas gekünstelt – schön und gekonnt zwar, doch überzüchtet und unnatürlich. Der mitreißende Giuseppe di Stefano inspirierte jedoch auch sie. Und hier erlebte man wieder jenes eruptive Loslegen, das Leonie Rysanek immer so dramatisch wirksam gemacht hat, das mühelose Ausschwingen und Losbrechen der – derzeit etwas schlanker gewordenen – wunderschönen, weichen, dunklen Stimme. Dieses Liebesduett war etwas, das mit Worten überhaupt nicht zu beschreiben ist. Man hätte es „life-recorden" müssen, auf daß dieses Ereignis der Welt erhalten bliebe. Das Terzett auf der Galgenwiese trug dazu bei, die Hochstimmung noch zu steigern. Mit beseeltem Piano sang Leonie Rysanek die zweite Arie und die Ensembles des letzten Aktes mit Glanz und Kraft. Rita Streich war ein ziemlich farbloser Oscar, Jean Madeira wirkt als Ulrica, die noch zu ihren guten Partien zählt, durch das ständige Auf-die-Stimme-Hauen nicht so erfreulich. Die beiden Verschwörer Ludwig Welter und Ljubomir Pantscheff sind so gut, daß sie vom Stammpublikum wieder brav Tom und Sam und nicht mehr Tom und Jerry genannt werden. Der Dirigent des Abends war Francesco Molinari-Pradelli ein gefühl- und temperamentvoller Erzmusikus mit einer richtigen Theaterpranke, dem die prächtige Aufführung noch zusätzlich viel Lebendigkeit verdankte.

SIEGFRIED am 5. Juni

unter Herbert von Karajan wurde mit dem kompletten Ring des Nibelungen besprochen

COSÌ FAN TUTTE am 6. Juni im Redoutensaal

Elisabeth Schwarzkopf müßte man ganz groß über diesen Abend schreiben, soviel Faszination geht von dieser Fiordiligi aus. Auch nicht ein einziger Wunsch bleibt offen, weder stimmlich noch musikalisch auch nicht in der Darstellung. Das ist Perfektion im besten Sinne des Wortes. Margareta Sjöstedt als Dorabella hatte es neben dieser großen Schwester nicht leicht, aber sie fügte sich erstaunlich gut und mit viel Haltung und Niveau ein, bot eine erfreuliche und anerkennenswerte Leistung. Über den Alfonso Paul Schöfflers haben wir schon oft und viel geschrieben. Er ist bis heute eine seiner berühmten Partien geblieben. Mag manchmal die Stimme nicht den alten Glanz aufweisen, es ändert nichts daran, daß dieser Lebenskünstler und Weltweise Paul Schöffler immer noch auf Anhieb besticht und gewinnt. Anton Dermota sang seinen Ferrando gekonnt und mit Wohllaut. Mit seiner überlegenen Stimmtechnik meistere er geschickt einige klein „Schönheitsfehler" während Walter Berry als Guglielmo unbekümmert aus dem Vollen schöpfte, vielleicht zu unbekümmert, wie uns manchmal scheinen wollte. Seine prächtige Stimme ist so strömend, daß er in einer Partie wie dieser, es nicht nötig hat, „auf die Tube" zu drücken. Wir wissen, wie mächtig seine Stimme ist, und wir schätzen es, wenn er die Kraft dort zügelt, wo es nur um Wohlklang geht. Rita Streich als Despina hielt nicht immer ganz die Linie, die man sich in Wien bei Mozart nun einmal unverrückbar gesteckt hat, doch hatte sie einen guten, sehr spielfreudigen Abend und wußte zu gefallen. Sprühende Laune war überhaupt das Motto dieser Aufführung auf der Bühne, im Orchester und im Zuschauerraum. Lovro von Matacic dirigierte mit den Wiener Philharmonikern eine ganz andere Così fan tutte, als wir sie gewöhnt sind, auch anders als die von Karl Böhm. Jedoch muß man beiden Auffassungen zugestehen, daß sie „wienerisch" sind. Die von Karl Böhm leicht, transparent, brillant, voll spielerischem Charme erfüllt und die von Lovro von Matacic von überschäumendem Lebensgefühl, das unverkennbar das Gepräge des südlichen Gebietes trägt, durchglüht von Temperament, mitreißendem Frohsinn. Hier also können wir die sprühende Laune, von der wir vorhin sprachen, voll bejahen. Nicht ganz so kritiklos können wir jener zustimmen, die von der Bühne ausging. Hier haben sich leider darstellerische Übertreibungen eingeschlichen, die im Begriff sind, in Unarten auszuwachsen. Das zum großen Teil ausländische Auditorium war sichtlich hingerissen, bewunderte und begeisterte sich an allem und jedem gleicherweise, unterhielt sich bestens und schwelgte in ausgelassener Stimmung.

DIE HOCHZEIT DES FIGARO am 6. Juni in der Staatsoper

Die Aufführung brachte erfreulicherweise nicht nur musikalisch, sondern auch darstellerisch (mit wenigen Ausnahmen) wieder das, was man „Wiener Mozartstil" nennt. Karl Böhm waltete als guter Geist am Dirigentenpult. Er führte Bühne und Orchester mit leichter und doch energischer Hand. Die Tempi waren von ruhiger Gelöstheit. Er ließ den Sängern Raum zur Stimmentfaltung, verhinderte aber jegliche Verschleppungsversuche. Eberhard Wächter war wieder einmal mehr Wiens Ideal-Almaviva, prächtig bei Stimme und trotz Freude an der Sache vornehm im Spiel. Erich Kunz als Figaro, bestens disponiert, war schauspielerisch (abgesehen von der üblichen Entgleisung im letzten Bild) ebenfalls ein Figaro von mozartischem Geist. Irmgard Seefried sprang als Susanne ein. Es ist nicht zu überhören, daß ihr diese Partei derzeit stimmlich Schwierigkeiten bereitet. Christa Ludwig und Lisa Della Casa verzeichnen leider ihre Rollen. Was derzeit von den beiden Damen auf der Bühne gezeigt wird, sind bald Zerrbilder von Cherubino und Gräfin und das mit ansehen zu müssen, ist peinlich. Aber auch die Ohren leiden dabei, denn überzeichnetes Spiel geht auf Kosten der ruhigen musikalischen Linie. Die übrigen Mitwirkenden hatten gewohntes Format. Einzig Ludwig Welter kämpfte wieder verbissen um die Bewältigung des Basilio. Herrlich spielten unsere Wiener Philharmoniker.

LA BOHEME am 7. Juni

Die Aufführung hatte gegenüber der am 30. Mai nur zwei Umbesetzungen zu verzeichnen. Ludwig Welter sang statt Walter Berry den Colline und überraschte mit einer schön und verhalten gesungenen Mantelarie. Die zweite Umbesetzung ließ im wahrsten Sinne des Wortes aufhorchen: Es war die Stimme – oder besser gesagt die rasiermesserartigen Töne – von Silvana Zanolli, die diese mit wahrer Lust im zweiten Akt ins Publikum schleuderte. Bei jedem Spitzenton der Musetta ging ein merkliches Beben durch den Zuschauerraum. Zweifellos eine hübsche Frau zum Ansehen, doch nicht zum Anhören. Den Rodolfo sang wieder Giuseppe di Stefano. Er war in ausgezeichneter Verfassung, und es blieb außer dem hohen C in der Arie kein Wunsch offen. Höhepunkte waren der dritte Akt und der Schluß des vierten. Was hier an Verzweiflung, Enttäuschung, Liebe, Angst und Schmerz aus dem Künstler Giuseppe di Stefano herausbricht, kann man nur rückhaltlos bewundern. Mit seinem Kollegen Ettore Bastianini als Marcel hörte man ein unvergeßliches Duett: „O Mimi tu piu nun torni" – italienische Gesangskunst in höchster Vollendung. Unser „Hausbariton" überraschte durch seine besondere Spielfreude, ungewohnt prickelnde Lebendigkeit und Eleganz. Hilde Güden sang eine makellose Mimi und wuchs von Akt zu Akt. Hans Braun als mäßiger Schaunard und Peter Kleins Benoit ergänzten das Ensemble. Francesco Molinari-Pradelli leitete die Aufführung in gewohnt sicherer Manier nach dem Motto La Roches: „Auf die Sänger nimm Rücksicht, nicht zu laut das Orchester!’"

FIDELIO am 8. Juni

An Stelle der verlegten Götterdämmerungs-Premiere schob man (nach vorher erwogenen Aufführungen von Tristan und Isolde und Der fliegende Holländer) schließlich Fidelio ein. Die Aufführung hinterließ trotz improvisierter Aufnahme in den Festwochenspielplan guten Eindruck. Vor allem Gré Brouwenstijn als Leonore verstand es, sofort mit ihrem Auftritt den Kontakt zum Publikum herzustellen. Ihr erlebtes Spiel, ihre hohe Gesangskultur machten sie zum viel bejubelten Mittelpunkt des Abends. Aber auch ihre Partner waren sehr gut bei Stimme. An erster Stelle verdient Wolfgang Windgassen als Florestan genannt zu werden, der voll und ganz aus sich herausging und wohl seinen besten Wiener Florestan sang. Otto Wiener bot einen wortdeutlichen und scharf profilierten Pizarro, und Gottlob Frick bewies, daß er als Rocco, zumindest in gesanglicher Hinsicht, ohne Konkurrenz dasteht. Etwas schwächer waren die Nebenrollen besetzt mit Irmgard Seefried, Murray Dickie und Hermann Uhde. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß sich Heinrich Hollreiser aufrichtig bemühte und dadurch einen guten ersten Akt zusammenbrachte. Schade, daß er sich dann im zweiten Teil der Dritten Leonoren-Ouvertüre durch gehetzte Tempi um seinen Erfolg brachte, denn bis zur Mitte der Ouvertüre gab es wirklich nichts auszusetzen. Bei dem drauffolgenden „Heil sei der Tag" hätte man mehr Dynamik im Aufbau gewünscht. Die Ersatzvorstellung hatte mehr geboten, als man von ihr erwartet hatte.

CAPRICCIO am 9. Juni

Elisabeth Schwarzkopf verabschiedete sich als Gräfin bis zum Herbst vom Wiener Publikum und machte uns diesen Abschied wahrlich nicht leicht, denn wie beglückt verläßt man nach jeder Vorstellung mit ihr die Oper. Immer aufs Neue wird uns bewußt, was wir an dieser Künstlerin haben. Sie bezauberte auch an diesem Abend wieder das volle Haus und war der glanzvolle Mittelpunkt der schönen Aufführung. Neben ihr verdient Otto Wiener als prachtvoller La Roche genannt zu werden, der gesanglich nicht den geringsten Wunsch offen ließ und darstellerisch weitaus besser zur Geltung kam als bei seinem Debüt in dieser Partie. Viel feiner Humor steckt in der Gestaltung dieses Theaterdirektors. Walter Berry, Christl Goltz, Peter Klein und Alois Pernerstorfer waren neuerlich ausgezeichnet. Anton Dermota (Flamand) singt noch immer (bereits seit der Generalprobe in allen Aufführung) im Sonett „Kein Andres, das ich so wie dir begehrte", und Hermann Uhde war diesmal besonders schwach. Einen schwarzen Tag hatte leider das italienische Sängerpaar. Giuseppe Zampieri, der Verläßliche und Einsatzbereite, distonierte unüberhörbar, seine Partnerin Sari Barabas, die für die erkrankte Rita Streich herbeigeholt wurde, war gesanglich vollkommen unzulänglich und darstellerisch so uninteressant, daß das Publikum nichts zu schmunzeln hatte. Anstelle der Lachstürme, die Erika Köth ausgelöst hatte, gab es nur gelangweiltes Gähnen des Festwochenpublikums. Karl Böhm war der prachtvolle musikalische Leiter der Aufführung. Schade, daß das Orchester nicht mehr die großartige Premieren-Präzision hatte (auch das Streich-Sextett auf der Bühne war nicht einwandfrei), und man erst wieder ganz glücklich wurde, als der junge Hornist die letzte Szene prachtvoll einleitete. Da waren plötzlich erneut aller Glanz und alle Pracht der Strauss-Partitur vorhanden, wie sie eben nur von den Wiener Philharmonikern zu Gehör gebracht wird.

AIDA am 10. Juni

Das mit großer Freude erwartete Auftreten von Leonie Rysanek als Aida brachte eine kleine Enttäuschung. Wie schon so oft geschehen, waren die Erwartungen des Publikums zu hochgeschraubt und daher das Ohr auf größte Vollendung eingestellt. Frau Rysanek jedoch begann etwas nervös und war erst im zweiten Teil der ersten Arie die Rysanek, wie sie in unserer Erinnerung lebte. Sehr schön war die Szene mit Amneris und imponierend die Schlagkraft der Stimme im Triumphakt. In der Nilszene hatten wir sie jedoch schon besser gehört. Einige Höhen waren verwackelt und die Piani hatten seltsamerweise nicht den schwebenden Klang von einst. Vielleicht mag eine gewisse Nervosität oder auch die Tagesverfassung die Künstlerin gehindert haben, ihre Höchstform zu erreichen. In ihrer Darstellung überraschte sie durch große Gestik, die besonders in vielen Armbewegungen zum Durchbruch kam. Zu ihr im Gegensatz stand Giulietta Simionato, die fast ohne Bewegung als Bühnenfigur dominierte. In stimmlicher Hinsicht hatten wir sie ebenfalls schon besser gehört. Manch scharfe Höhen und flache Töne in der Mittellage zeigten deutlich, daß auch wirkliche Primadonnen Formschwankungen ausgesetzt sind.

Durch die Absage von Jon Vickers war man gezwungen, einen Neuling mit dem Radames zu betrauen: Luigi Ottolini, der dieses Jahr zum ersten Mal auf einer Opernbühne stand, verriet Material. Deutlich sichtbar war die mangelnde Routine des Tenors, der außerdem die Partie nicht sattelfest studiert hatte. Nur so ist es zu erklären, daß er zumeist dem Orchester nachhinkte. Anerkennenswert jedoch war sein Wollen, das derzeit mit seinem Können noch nicht auf einer Stufe steht. Ettore Bastianini sang mit seinem Edelbariton den Amonasro, dem er zwar die Wildheit in der Darstellung, nicht aber die königliche Haltung schuldig blieb.

Für die erwähnten Enttäuschungen der Solisten entschädigte Herbert von Karajan mit den Wiener Philharmonikern. Sein Aufbau der Oper war beispielgebend und fand seinen Höhepunkt in der Struktur der Triumphszene.

DER ROSENKAVALIER am 11. Juni

Diese Aufführung litt schon etwas unter dem Schatten, den die Götterdämmerungs-Premiere vorauswarf, denn zahlreiche Substituten ersetzten die erste Garnitur. Das war sofort beim Auftakt zu hören und fand seine Fortsetzung in zahlreichen Unsicherheiten und Schmissen den ganzen Abend über. Dafür Heinrich Hollreiser verantwortlich zu machen, wäre unfair, denn auch bedeutendere Dirigenten als er, hätten kapituliert. Was das Orchester schuldig blieb, glichen die Künstler auf der Bühne wieder aus. Lisa Della Casa war die gut singende Marschallin, die der Figur nicht nur Schönheit, sondern auch volles Leben zu verleihen wußte. Ergreifend die Schlußszene, in der sie mit sparsamer Gestik und Mimik zu erschüttern wußte. Den Oktavian sang Christa Ludwig, diesmal ohne Übertreibung in der Mariandlszene. Dadurch war ihr ein Bombenerfolg sicher, denn in gesanglicher Hinsicht gehört die Partie schon lange zu ihren Glanzrollen. Hilde Güden ergänzte den Reigen schöner Frauen und schöner Stimmen auf ideale Weise. Die männlichen Hauptrollenträger waren mit Ausnahme Otto Wieners, der eine Prachtfigur als Faninal auf die Bretter stellte, den Damen um Klassen unterlegen. Otto Edelmann schien nicht gut bei Stimme gewesen zu sein, was sich weniger in der Intonation als in der verminderten Stärke ausdrückte. Anton Dermota sollte keinen Sänger mehr singen. Gerhard Stolze war wieder der scharf gezeichnet Valzacchi.

GÖTTERDÄMMERUNG am 12. Juni, Neuinszenierung

unter Herbert von Karajan wurde mit dem kompletten Ring des Nibelungen besprochen

AIDA am 13. Juni

Auch diese Aufführung hielt nicht ganz das, was manch klingende Namen der Besetzung versprachen. Man kann einer Aida nicht drei Akte lang einen Radames vorgeben, denn Pier Miranda-Ferraro war sowohl stimmlich als auch darstellerisch kein ägyptischer Feldherr. Sein Tenor ist außer der oft forcierten Höhe in dieser Partie überfordert. Erst im vierten Akt hörte man einige gute Phrasen und kultiviertere Spitzentöne. Als Persönlichkeit fegte ihn ein Augenaufschlag der Giulietta Simionato glatt von der Bühne. Ihre oft gerühmte Amneris fand ihren Höhepunkt wie schon so oft in der Gerichtsszene, die sie diesmal neuerlich mit geradezu explosiven Spitzentönen zu einem immer wieder packenden Ereignis werden ließ. Interessant war das Wiedersehen mit Leontyne Price. Welch eine Wandlung seit ihrer ersten Wiener Aida! Damals, noch ganz lyrisch gesungen, fehlte ihr noch die „große" Stimme und Durchschlagskraft. Heute, nach zwei Jahren, hat sie diese Durchschlagskraft in der Stimme, dringt mühelos über Chor und Orchester: Aber der so betörenden Wohllaut ihres weichen Soprans hat etwas gelitten und ist größerer Dramatik gewichen. Die größere Stimmkraft scheint ihren Tribut gefordert zu haben. Trotzdem: Ihre Aida ist eine voll überzeugende und ausgezeichnete Leistung, besonders die makellos gesungene Nilarie. Das folgende Duett mit Amonasro war beglücken. Dies auch durch die Prachtstimme von Ettore Bastianini. Er ist wohl der am schönsten singende Amonasro weit und breit. Männlich, sonor, warm und schlackenlos strömt die Stimme dahin und läßt vergessen, daß bei den Wutausbrüchen („Non sei mia figlia") die letzte Kraftentfaltung der Stimme fehlt. Doch solche „faraoni" zu singen, ohne zu forcieren, das muß Ettore Bastianini erst jemand nachmachen! Gottlob Frick als Ramphis merkte man die unmittelbare Nachbarschaft des Hagen deutlich an, und Ludwig Welter war nach Frederick Guthrie als König eine Enttäuschung. Francesco Molinari-Pradelli zeigte unserem schwimmfreudigen Chor Zähne und Fäuste und hielt im Triumphakt Bühne und Orchester in mustergültiger Disziplin beisammen. Sogar der schon zu trauriger Berühmtheit gelangte Priester a-capella-Chor war diesmal genießbar. An Schwung und Brio blieb der Dirigent weder Verdi noch der Aufführung etwas schuldig.

GÖTTERDÄMMERUNG am 14. Juni

unter Herbert von Karajan wurde mit dem kompletten Ring des Nibelungen besprochen

ARABELLA am 15. Juni

Nun ist auch Dietrich Fischer-Dieskau wieder dorthin gekommen, wohin er von Rechts wegen gehört: Auf die Bühne der Wiener Staatsoper. Und gar der Mandryka, dieser Prachtkerl aus der Gegend, wo sich die Füchse gute Nacht sagen und man die Wälder gleich mitsamt den Einsiedlern verkauft, konnte nun endlich auch das Wiener Publikum begeistern. Wieder bewunderte man neben der stimmlichen Gestaltung seine Fähigkeit, zartes Gefühl mitten aus dramatischem Überschwang herausblühen zu lassen, den urwüchsigen Landadeligen mit der richtigen Beimischung von herrenhafter Eleganz auszustatten, beleidigten Männerstolz unmittelbar und doch bruchlos in tapfer hinuntergeschluckte Verzweiflung überzuleiten – nur der Schluß der Oper fiel an diesem Abend unerklärlicherweise ein wenig zu hektisch aus. Mit Lisa Della Casa und Anneliese Rothenberger stand wieder das bezauberndste Schwesternpaar auf der Bühne, das man sich vorstellen kann: beide Damen sind gleich vollendet in ihrer Verliebtheit, in ihrem Stolz und in ihrer Sehnsucht. Ira Malaniuk, Mimi Coertse, Otto Edelmann, Ivo Zidek und Karl Terkal stellten ein vorzügliches, aufeinander abgestimmtes Strauss-Ensemble. Der Dirigent Joseph Keilberth hatte leider nicht seinen besten Tag und so klang manches dick und laut, was wir ansonsten von den Wiener Philharmonikern, außerhalb der Festwochen, schon wesentlich schöner gehört haben.

EIN MASKENBALL am 16. Juni

Die zweite Maskenball-Aufführung in fast gleicher Besetzung wie am 4. Juni gönnte uns leider nicht dieselbe Feststimmung, da Giuseppe di Stefano diesmal ohne besonders hörenswerten Grund nach dem ersten Akt plötzlich absagte. Statt seiner sang Giuseppe Zampieri die Partie zu Ende, der, anfangs noch merklich uneingesungen, sein schönes Organ immer mehr entfaltete. So sehr man dem Künstler für sein Einspringen danken muß, so sehr zeigte sich gerade an diesem Abend der große Unterschied in der künstlerischen Aussage dieser beiden Tenöre: Giuseppe Zampieri, der betonte Schönsänger und Giuseppe di Stefano, der echte und überzeugende Rollengestalter (Sterbeszene!). Leonie Rysanek war an diesem Abend allerdings wesentlich besser als bei ihrem ersten Auftreten, da die große nervliche Belastung weggefallen war. Vor allem die zweite Arie gelang ihr ganz besonders schön. Wir halten die Amelia überhaupt für eine ihrer besten italienischen Partien. Ettore Bastianini, bestens disponiert, bestrickte wieder durch seinen einmalig schön gesungenen Renato. Seine Arie „Eri tu" wurde zu einem Höhepunkte der Aufführung. Liselotte Maikl (nach Rita Streich wohltuend einfach und natürlich) sang sehr sauber und korrekt einen liebenswerten Pagen. Jean Madeira bot eine bessere Ulrica als beim ersten Mal. Ansprechend wie immer das Verschwörerpaar Ludwig Welter Ljubomir Pantscheff, wieder wohltuend Harald Pröglhöf als Silvano. Francesco Molinari-Pradelli dirigierte einfühlend und schwungvoll und hielt unaufdringlich Bühne und Orchester in einer Einheit fest zusammen.

ARABELLA am 17. Juni

Zwei Tage später folgte die Wiederholung der Aufführung, bei der Heinrich Hollreiser, diesmal mit Erfolg und sehr sicher bei den Einsätzen, Joseph Keilberth nachdirigiert. Lisa Della Casa und Dietrich Fischer-Dieskau waren noch besser bei Stimme als in der vorangegangenen Arabella und machten so die Vorstellung zum Erlebnis. An Stelle von Anneliese Rothenberger bemühte sich Anny Felbermayer um die Zdenka, doch bringt sie leider nicht den für die Partie nötigen Charme mit. Liselotte Maikl sang sehr vorsichtig, aber gut vorbereitet die Fiakermilli. Im Mittelpunkt des jubelnden Beifalls standen Lisa Della Casa und Dietrich Fischer-Dieskau.

CARMEN am 18. Juni

Es hätte eine wirklich schöne Aufführung sein können, die Atmosphäre und Stimmung ausstrahlte, aber leider wurde von der Bühne her nichts unversucht gelassen, um in die Freude des Zuhörers den Ärger zu mischen. Der Löwenanteil an diesem unerfreulichen Bemühen fiel Jean Madeira zu. Eine Sängerin, die sehr wohl die richtige Carmenstimme besitzt, die auch dann noch, wenn krisenhafte Stimmängel hörbar werden, immer durch Timbre und Umfang des Organs gewinnen und bestechen könnte, hatte diesmal wirklich nichts anderes zu tun, als mit konsequent zugespitztem Klamauk sich und dem Musikliebhaber alles zu verderben. Auf den Hollywoodkitsch der Darstellung wollen wir diesmal gar nicht näher eingehen, obwohl wir der Meinung sind, daß sie intelligent genug wäre, um sich von Zeit zu Zeit darauf zu besinnen, was sie in Wien gelernt hat. Und dies müßte eigentlich ihren Geschmack bestimmen. Der für Giuseppe di Stefano eingesprungene Giuseppe Zampieri, der wunderschön sang, ließ sich ebenfalls zu musikalischen Laxheiten und Freiheiten hinreißen, die wir nicht akzeptieren können. Wir wollen sie diesmal dem Umstand des Einspringens zugute halten und entschuldigen. Sein Schöngesang glich immerhin aus, was er durch das Fehlen der Präzision verdarb. Gerda Scheyrer, die für die erkrankte Hilde Güden einsprang, bemühte sich sehr um die Micaela, sang streckenweise schön, verlor aber bei der Arie die Contenance und stieg gleich zweimal aus. Unser deutsch singender Chor und viel schlechtes Französisch versalzten ebenfalls den Genuß. Makelloses Niveau hielt – allein auf weiter Flur – der Escamillo von Ettore Bastianini. Wie er diese Partie aufbaut und mit ihr fertig wird, ist eben Spitzenklasse. Außerdem gefällt uns seine persönliche Auffassung und Darstellung der Rolle. Dieser Escamillo ist weder dämonisch, noch ein Kraftmensch und Held. Er ist ein natürlicher, fröhlicher Bursche und gerade deshalb liebenswert. Lovro von Matacic überbrückte souverän alle „Unfälle" und brachte seine bekannte, temperamentgeladene Carmen-Interpretation zu Gehör.

BALLETTABEND am 19. Juni

TOSCA am 20. Juni

Es gab ein Wiedersehen mit Renata Tebaldi in der Titelpartie. Die große, warme und edeltimbrierte Stimme hat weiterhin ihre Stärke in der unübertroffenen Mittellage und der fülligen Tiefe, während die Höhen der Stimme etwas angegriffen schienen. Dennoch muß gesagt werden, daß Frau Tebaldi sich alle Mühe gab, um mit den Schwierigkeiten, die ihr diese exportierten Töne bereiten, fertig zu werden. Über die herrliche Phrasierung von Frau Tebaldi ein Wort zu verlieren, finden wir müßig. Das ist von jeher die Domäne der Künstlerin gewesen.

Giuseppe Zampieri sang wieder schon so oft, für den absagenden, launenhaften Giuseppe di Stefano. Diesmal überbot er sich selbst und zeigte eine großartige Leistung. Herrlich war sein Vortrag der ersten Arie, voll von Energie sei kraftstrotzendes „Vittoria" und nuancenreich die Arie des dritten Aktes, in der er die technische Vollendung seiner Stimme demonstrierte. Scarpia war Ettore Bastianini. Seine mächtige Stimme ist zu lyrisch um den Anforderungen der Partie hundertprozentig gewachsen zu sein. Man vermißt bei ihn die dramatische Pointierung und nicht zuletzt die markante Zeichnung der Figur. Er ist ein blendend aussehender Polizeiprefekt, aber zu weich in seiner Charakterisierung.

Herbert von Karajan dirigierte mit der nur ihm eigenen Spannung, wobei besonders der zweite Akt durch wuchtige Prägnanz im Orchesterpart zu einem Theaterereignis wurde.

FÜRST IGOR am 21. Juni

Endlich stand wieder ein Dirigent, der der slawischen Musik zu geben vermag, was sie verlangt, am Pult. Die Wiener Philharmoniker schienen sich darüber selbst am meisten zu freuen, denn sie waren mit wahrer Lust am Werk. Und die Intensität, mit der sie Lovro von Matacic folgten, verbürgte Erfolg und starken Eindruck. Auch auf der Bühne herrschte erstaunliche musikalische Präzision, und der Chor bewährte sich ebenso anstandslos wie bei der Premiere. Im Mittelpunkt des Abends stand nach wie vor der Igor Eberhard Wächters, dominierend und für sich gesehen eine vollendete Leistung. Hilde Zadek war abermals seine Jaroslawna, musikalisch unerschütterlich sicher, in jeder Weise ambitioniert, aber es ist schwer an diesem Stimmtimbre etwas als schön empfinden zu können. Und die nur mit Technik gerade noch gemeisterten Höhen sind dem Ohr kein Genuß. Das führt zu einer zwiespältigen Leistung, die Achtung abnötigt, aber nicht beglückt. Die Kontschakowna Hilde Rössel-Majdans war bestens gesungen, mit Klang und Wohllaut, wenn uns die Gestalt der Tartarenprinzessin auch noch immer unzureichend gezeichnet erscheint. Schließlich können wir eine Elena Nikolaidi nicht einfach aus dem Gedächtnis streichen. Helmut Fehn als Gast (Kontschak) stellte auch ein gewisses Problem dar. Er gab sich sehr viel Mühe, sang ehrlich und brav, aber das überbrückt nicht den Rangunterschied, der nun einmal zwischen einem braven Baß und einem Weltklassesänger besteht. Er gab sein Bestes. Daß dies für Wien noch zu wenig ist, kann ihm selbst nicht zum Vorwurf gemacht werden. Bestens wieder unsere beiden Gudokspieler Peter Klein und Karl Dönch, während Walter Berry als Galitzky mit musikalischen Unsauberkeiten aufwartete, die seiner unwürdig sind. Stimmlich war er natürlich groß „da", doch fehlt seiner Darstellung der Rolle ein undefinierbares Etwas. Viel Beifall gab es fürs Ballett, und auch sonst herrschte Spannung und Stimmung im Haus.

DON CARLOS am 22. Juni

Verdis Oper benötigt Probenarbeit. Wenn dies nicht der Fall ist, kommt es zu kleinen Unebenheiten. Letzteres war auch deutlich hörbar. Am Pult stand Francesco Molinari-Pradelli, der sich als ein gewiegter Theaterpraktiker erwies. Wie müßte erst seine Interpretation sein, wenn Proben vorausgehen? Giuseppe Zampieri verkörperte die Titelrolle und sang schön, aber leider musikalisch unsicher. Es wäre an der Zeit, daß er diese Partie einmal richtig singt und nicht nur durchschwimmt. Seine Unsicherheit steckte auch Kostas Paskalis als Posa an, der diesmal nicht mehr als eine brave Durchschnittsleistung bot. Raphael Arié begann als Philipp zum Unterschied zu seinen vorangegangenen Abenden prächtig und baute dann mit zunehmender Dauer des Abends ab. In seiner Arie klang bereits die Höhe flach. Giulietta Simionato sang mit brillanter Höhe und pastoser Tiefe ihre berühmte Eboli und war trotz hörbarer Registerwechsel die große Gesangslady des Abends. Christl Goltz’ Stimme klang für die Königin zu herb und sehr unitalienisch, besonders was ihre letzte Arie betraf. Für eine angenehme Überraschung sorgte Edmond Hurshell als Großinquisitor, der zwar nur im ff sang, aber diesmal dabei nicht heiser wurde. Und das verdient vermerkt zu werden.

TOSCA am 23. Juni

In der (eingeschobenen) Aufführung gab es einige Umbesetzungen: Berislav Klobucar übernahm die musikalische Leitung, Eugenio Fernandi den Cavaradossi und Renato Ercolani den Spoletta. Berislav Klobucar, nach längeren erfolgreichen Auslandsgastspielen wieder am Wiener Pult, zeigte sich stark verbessert. Er weiß nun dem Orchesterklang weit mehr Differenziertheit abzugewinnen und hat Selbstsicherheit gewonnen. Er war nicht nur sorgfältiger Begleiter wie einst, sondern zeitweise auch Persönlichkeit. Eugenio Fernandi ist weiterhin der Tenor mit großem Material geblieben. Schade, daß er nicht mehr damit anzufangen weiß. Sobald er in die höheren Lagen kommt, fühlt er sich bemüßigt, zu forcieren, dadurch erzielt er eine im Verhältnis 2:1 stehende Lautstärke der Höhe zur Mittellage, wobei die Höhe durch Kraftanstrengung außerdem eine andere Färbung erhält. Ebenso keinen Fortschritt konnten wir in seiner Darstellung feststellen. Wann wird der junge, ungelenke und doch sympathische Sänger etwas dazulernen? Renata Tebaldi war eindrucksvoller als drei Tage vorher. Sehr gut gelang ihr diesmal der dritte Akt. Ettore Bastianini prunkte mit seiner Prachtstimme. Die Einwände gegen ihn in dieser Rolle bleiben Aufrecht. Renato Ercolanis Spoletta zeigte mehr Lebendigkeit als Erich Majkuts Outrieren.

ELEKTRA am 24. Juni

Eine schöne und würdige Aufführung dieser Oper leitete Karl Böhm und faszinierte – nach einer gewissen Anlaufzeit (für ein so schwieriges Werk müßte man theoretisch eigentlich vor jeder Aufführung eine Probe abhalten) durch ausgezeichnetes Orchesterspiel immer wieder aufs Neue. Auf der Bühne dominierten eindeutig die Kinder Agamemnons: Die wilde, glühende Elektra von Christl Goltz, deren stählernes Organ sich jeder Beanspruchung gewachsen zeigte, während die lyrischen Stellen ganz besonders sorgfältig gesungen wurden. Hildegard Hillebrecht mit breiter, dunkler Stimme und viel Ausdruck und Empfindung als Chrysothemis und der intelligente und fesselnde, diesmal auch stimmlich ausgezeichnete Hermann Uhde als Orest. Jean Madeira ist auch als Klytämnestra nicht mehr wie einst (sie machte in dieser Partie doch in Salzburg ziemliches Aufsehen). Auf stimmliche Differenzierung legt sie nun offenbar überhaupt keinen Wert mehr, die Aussprache ist mangelhaft. Dadurch tritt eine gewisse Monotonie ein, die gerade diese Partie absolut nicht verträgt. Es bestätigt sich immer von Neuem, daß Jean Madeira in ein völlig falsches Fahrwasser geraten ist, aus dem schleunigst auszusteigen, für sie geboten erscheint. Ilona Steingrubers Fähigkeit, Zwölftonmusik aller Schwierigkeitsgrade vom Blatt zu singen, hilft ihr bei der Partie der Aufseherin nicht und stimmlich wirkt sie indiskutabel. Auch der Bote von Fritz Sperlbauer ist eine Zumutung. Warum die kleinen Rollen in Elektra nicht einmal verjüngt besetzt werden können, werden wir nie begreifen.

ANGELINA (LA CENERENTOLA) am 25. Juni

Erneut waren wir beglückt über diesen zauberhaften Abend mit der bezaubernden Rossini-Musik und der prachtvollen Inszenierung Günther Rennerts. Alberto Erede stand am Pult und entlockte der Partitur allen Charme, Geist und Witz. Unter den Sängern brillierten wieder Christa Ludwig als Angelina und Walter Berry als Dandini. Soll man die perlenden Koloraturen Christa Ludwigs oder das köstliche Spiel Walter Berrys mehr bewundern? Waldemar Kmentt sang die Koloraturpassage des Fürsten mit bewundernswerter Sicherheit. Karl Dönch trug wieder sehr dick auf, und die beiden Schwestern Emmy Loose und Dagmar Hermann waren vor allem schauspielerisch gut. Ludwig Welter als Drahtzieher und Abendregisseur d. Dienst gefällt uns immer besser.

 

ANDREA CHÉNIER am 26. Juni, Premiere, am 29. Juni Reprise

Daß gegen Ende der Spielzeit die Mehrzahl der Solisten zu Ermüdungserscheinungen neigt, daß nach einem so gewaltigen Festwochenprogramm wie es die Staatsoper bot, der immensen Anspannung eine Reaktion folgen muß, dürfte jedem Laien klar sein; mit Ausnahme unserer Zeitungsberichterstatter, die sind aber auch keine Laien – und wissen es daher besser. Die Schwierigkeiten, die der Schlußpremiere vorausgegangen waren, gaben unserer beliebten Presse also reichlich Gelegenheit, mit ätzender Schadenfreude darauf hinzuweisen, daß Andrea Chénier dabei wäre, ins Wasser zu fallen, zumindest aber der Erfolg schon von vorneherein „im Eimer" sei. Während die Herren Kritiker so schon auf Vorschuß kritisierten, wurde in der Staatsoper gearbeitet! Man möchte fast sagen, es wurde unermüdlich gekämpft und Hindernisse im Sturm genommen. Diesen Bemühungen wurde nicht nur ein Erfolg, sondern ein Triumph zuteil, ein Triumph künstlerischer Leistung, künstlerischen Willens, ein Triumph der Schaffenskraft über Schwierigkeiten und Miesmacherei!

Nach Absagen und dadurch bedingter Verschiebung stand der Aufführung dann endgültig das Solistenensemble von Renata Tebaldi, Franco Corelli und Ettore Bastianini zur Verfügung. Zusammen mit den Wiener Philharmonikern, unter der von Leitung Lovro von Matacic ein Glücksfall, den nachzuahmen derzeit keine andere Opernbühne der Welt imstande ist. Der Wiener Stammbesucher, der bewußt die letzten zwei Jahrzehnte des hiesigen Opernschaffens miterlebte und miterlitt, bestaunt immer von neuem dieses Wunder, diese Hochblüte von Glanz und Herrlichkeit und fühlt sich manchmal versucht, wie Polykrates einen Ring ins Meer zu werfen, auf daß der Neid der Nibelungensöhne – und deren gibt es hier einige – diesen Glanz nicht gierig zernage. Und dieses Bewußtsein ist ein Gewinn, und vielleicht auch eine einmalige Erscheinung im Theaterleben: nämlich die, daß es ein Publikum gibt, das – unbeeinflußt von „Strömungen" und sogenannter öffentlicher Meinung – sich sein eigenes Urteil gebildet und erkannt hat, was ihm geschenkt und beschert worden ist. Die Chancen der Brunnenvergifter sind in Wien auf den Nullpunkt gesunken. Man ärgert sich hierorts nicht mehr darüber, man lächelt und lacht sogar von Herzen. Genau das glauben wir, auch aus dem tosenden Beifall herausgehört zu haben, der diese Vorstellung bedankte; begeisterte Anerkennung und beglückter Jubel für einen mitreißenden Abend, für grandiose Leistungen und Ausdruck der Verbundenheit und Zuneigung für unser neu erstandenes, einmaliges Haus und seinen Chef.

Für Wien, beziehungsweise unsere Generation war der Andrea Chénier nicht neu, wir kannten ihn vom Theater an der Wien her. Der Eindruck, den wir von dorther in Erinnerung behielten, waren knallige Effekte und nicht mehr. Was wir daher in dieser Premiere hörten, war ein beinahe verwandeltes Werk, und es vollzog sich wieder etwas, das wir nun schon einige Male erlebten: Wir lernten etwas neu zu schätzen und mit anderen Augen und Ohren aufzunehmen. So „billig", wie man nämlich zu wissen glaubte, ist weder diese Musik noch dieses Sujet. Die Gestalten sind Symbole fortschreitender Entwicklung, Demonstration menschlicher Größe und Niedrigkeit.

Musikalisch wurden diese Werte mit vollem Erlebnisgehalt von Lovro von Matacic interpretiert. Der Dirigent war sich der etwas dick geratenen Instrumentation sehr wohl bewußt, und kam ihr mit technischer Überlegenheit bei, er ließ den Feinheiten und Schönheiten lyrischer Passagen weitgehend Raum und steigerte damit die Wirkung der Effekte, ohne jede Effekthascherei. Damit wird der Musik Giordanos Gerechtigkeit erwiesen. Und zugleich vermittelt sie so stärker als jedes Wort des Textes, daß diese Revolutionsoper kein Pro und kein Kontra für dieses Thema darstellt, sonder daß in der Wucht der Elementargewalten der Mensch steht, der die Freiheit und das Gute sucht. Und das ist zeitlos und hebt auch Giordanos Musik über die Vergänglichkeit hinaus. Unser Meisterorchester folgte den Intentionen von Matacic mit Hingabe, erweckte so aus der Partitur beklemmende Wucht und blühenden Glanz, lichte Zartheit neben explosiver Kraft.

Dieses hinreißende Musizieren vereinte sich mit der Pracht einmaliger Stimmen. Die geschlossenste und schönste Leistung, wenn man hier bei diesem einmaligen Niveau überhaupt noch eine Abstufung treffen will, bot Ettore Bastianini. Er machte diesen Gerard, diesmal auch darstellerisch voll ausgefüllt, zu der berührendsten Figur des Stücks. Die Schönheit und der Ausdruck dieser kostbaren Stimme gesellte sich eine subtile Zeichnung der Figur: einfach, schlicht, tief empfunden, ohne große Geste, verinnerlicht und kultiviert. Im Gesamten gesehen, war es das Beste, das Bastianini uns bisher hier hören und sehen ließ.

Renata Tebaldi bezauberte Herz und Ohr durch den bestechenden Wohlklang ihrer berühmt schönen Mittellage. Aber auch in der schauspielerischen Leistung gab sie mehr, als wir davor von ihr zu sehen gewohnt waren. Ihre Herbheit war weitgehend reduziert, ihrer Madeleine haftete diesmal Frauliches an. Wir empfanden spontane Anerkennung für den vollen Einsatz und das restlose Bemühen, mit dem sie ihre stimmliche Krise zum Großteil überwunden hat. Die glückliche Fügung, die ihr einen Partner von der Stimmkraft eines Franco Corelli beigab, ermöglichte es, daß darüber hinaus alle Schärfen der Höhen weggewischt wurden. Im Zusammenklang konnte sie die kritischen Momente zu einem ungetrübten Genuß gestalten.

Franco Corelli ist mehr Revolutionär als Dichter, mehr schöner Mann als Schöngeist, ein Blender im vollsten Sinne des Wortes. Aber da dieses Blenden mit wirklicher Brillanz verbunden ist, kann dagegen nichts eingewendet werden. Auch er ist ein Stimmphänomen, so überzeugend, daß man ihm das nicht vorhandene, beziehungsweise falsche Piano anstandslos nachsieht, daß man bewußt seinen S-Fehler überhört. Dieser Chénier Corellis – mit etruskisch anmutendem Profil und Augenschnitt – ist wohl einer der idealsten Liebhaber der Opernbühne, der Aug und Ohr sosehr bestrickt, daß man vergißt zu analysieren. Er ist immer „da" solange er da ist, und dabei überzeugt er.

An die Besprechung der Hauptpartien sei die einer ganz kleinen Rolle angeschlossen.

Hilde Konetzni als Madelon konnte die ergreifendste Wirkung und das packendste Erlebnis des Abends mit ihrer kleinen Szene erzielen. Glückliches Wien, in dem eine große Sängerin mit einer solchen Selbstlosigkeit und Hingabe eine Nebenfigur zu einem Ereignis zu machen imstande ist. Das war der Begriff Wiener Oper schlechthin, mit lebendiger Tradition, mit allem was wir an ihr lieben und unvergessen halten.

Ausgezeichnet ist die Charakterisierung der Gräfin durch Elisabeth Höngen. Auch sie ist bis ins Detail durchdacht und aufgebaut. Es ist bestimmt nicht leicht, in einer verhältnismäßig kurzen Szene eine Figur glaubhaft zu machen, die neben dekadenter, oberflächlicher Äußerlichkeit die große Haltung wirklichen Adels nicht vergessen läßt. Ein Pauschallob die Comprimarii, sie hielten alle das hohe Niveau.

Und ein Bravo für unseren Chor! Wir freuen uns, ihn diesmal wirklich besonders herzlich loben zu können. Wir fügen den Wunsch hinzu, daß es so bleiben möge.

Dies spricht auch für die Arbeit des Oberregisseurs Paul Hager. Man merkte, daß er nicht nur spielen ließ, sondern auch gestaltete, sowohl die Einzelleistungen wie auch die Massenszenen.

Die Bühnenbilder und Kostüme von Robert Kautsky schufen einen guten Rahmen. Sie vermittelten Atmosphäre, ohne Sensationelles zu bringen. Doch dessen bedurfte es auch nicht. Sie gaben dem Abend die Szene, die er brauchte, den Hintergrund für ein Schwelgen in der Schönheit vollendeter künstlerischer Leistungen.

 

RIGOLETTO am 27. Juni

Unter Alberto Eredes schwungvoller Leitung machten sich in dieser Aufführung doch schon die ersten Zeichen des Saisonschlusses bemerkbar. Ettore Bastianini zeigte Ermüdungserscheinungen, was nach der Tags zuvor stattgefundenen Andrea Genier-Premiere erklärlich ist. Giuseppe Zampieri begann als Herzog sehr schwach und wuchs erst im Laufe der Vorstellung. Mimi Coertse sang die Arie „Caro Nome" bis auf einen kleinen Schönheitsfehler am Ende derselben sehr gut, doch damit ist über sie schon alles Positive ausgesagt. In der Folge nämlich wurde die Stimme immer spitzer und schärfer.

SALOME am 28. Juni

Die in glänzender Spiellaune befindlichen Wiener Philharmoniker unter dem großartigen Karl Böhm machten uns den Abschied von Strauss für diese Saison sehr schwer. Die Aufführung reihte sich würdig in die Kette der großen Straussabende der letzten Monate ein. Auch die gesanglichen Leistungen konnten zum größten Teil befriedigen. Christl Goltz sang ihre seit langem beste Salome, der diesmal auch die Höhen keine Schwierigkeiten bereiteten. Leider war Paul Schöffler als Jochanaan fehl am Platz. Er sollte diese Partie nicht mehr singen. Julius Patzak sang einen profilierten Herodes und auch Jean Madeira hatte einen guten Abend.

ANDREA CHÉNIER am 29. Juni

Es war zugleich die letzte öffentliche Vorstellung der Spielzeit. Die Aufführung – in der Premierenbesetzung (siehe 26. Juni) – wiederholte nicht nur, sondern vertiefte sogar noch den glanzvollen Eindruck der Premiere. Die Solistin, völlig frei von jeder Nervosität, rissen das Publikum zu Beifallsstürmen hin, die selbst in der Staatsoper Wien nicht alltäglich sind. Unsere Philharmoniker unter Lovro von Matacic spielten nicht, sie musizierten. Es war nicht eine Wiederholungsvorstellung im alltäglichen Sinne, es war ein Fest, in dessen rauschendem Jubel selbst die Kritik zur Begeisterung wird.

DIE ZAUBERFLÖTE am 30. Juni

Geschlossene Vorstellung für den Staatsbesuch von Nikita Chruschtschow.

 

DIE WIENER OPER IM ALLTAG UND FESTWOCHENGLANZ

Leitartikel 5. Jahrgang, Heft 7

Ein interessantes Jahr lag zwischen dem noch sicher gut in Erinnerung befindlichen 1. September 1959, wo sich Karajan mit größter Energie in eine verschlampte Meistersinger-Inszenierung hineinstürzte, und dem 30. Juni 1960, da Erich Kunz in der Zauberflöte für Nikita Chruschtschow heftig bemängelte, daß man hier nicht einmal einen Becher Wodka bekäme. Es hat sich erwiesen, daß das Niveau weiter gestiegen ist. Selbst die Repertoire-Aufführungen haben in ca. 280 von 300 Fällen zufriedenstellende Qualität. Die restlichen Fälle sind wohl zum größten Teil auf Planungsmängel zurückzuführen. Wir sind nämlich mit der Planung glatt um ein Jahr zu spät dran. Jetzt müßte man die Premieren nicht für die nächste, sondern für die übernächste Saison nicht nur vage besprechen (was zum Teil ohnedies geschieht), sondern fix abschließen. Es genügt, wenn Krankheiten das Repertoire umstoßen. Und das ist letzten Endes in der Oper unvermeidlich.

Die Künstler von Format disponieren schließlich nicht ein sondern zwei Jahre im voraus. Und die Operndirektion kann sich nicht darauf verlassen, daß alle ohnehin gerne nach Wien kommen. Auch der Wiener Oper wegen kann man längst abgeschlossene Verträge nicht einfach umstoßen. Auf diese Art erreicht man nämlich nur, daß die Künstler Wien doch noch irgendwie einbauen und dann womöglich achtmal in sieben Tagen singen, was ihnen natürlich auch nicht gut tut. Außerdem würde Disposition auf längere Sicht zum Beispiel die Arbeit des Opernchores sehr erleichtern, mit dem es ja öfter Schwierigkeiten gibt, weil er für Stücke in Originalsprache einfach zu wenig Probenzeit hat. Daß es trotz dieser Schwierigkeiten dann doch immer zur Einigung kommt, ist eigentlich ein wahres Wunder und sicher zum Großteil ein Verdienst des Betriebsrates des künstlerischen Personals, Ewald Vondrak, der sich das Silberne Ehrenzeichen der Republik wahrhaftig nicht leicht verdient hat.

Was uns ärgert:

Es ist leider einiges fest Versprochene stillschweigend unter den Tisch gefallen.

1./ Daß die Neueinstudierung der Meistersinger unter Karajan nicht zustande gekommen ist.

2./ Das Nichtzustandekommen der „Schweigsamen Frau".

3./ Daß Karajan keinen Strauss dirigiert hat.

4./ Daß Rudolf Kempe keinen Vertrag bekommen hat.

5./ Daß die Herren Wunderlich und Prey nicht engagiert wurden.

6./ Daß die Carmen noch immer gemischtsprachig ist.

7./ Daß schlechte Comprimarii manchmal Hauptrollen bekommen.

8./ Daß viele Sänger längst neue Partien studieren sollten, was sie aber nicht tun, weil sie keinen Auftrag dazu bekommen.

9./ Daß manche Sänger die Verträge von sechs oder sieben Monaten haben, nicht einsehen, daß sie dann auch zweites Fach singen müssen. Es ist unmöglich, daß wir viermal pro Woche vor ausverschenkten Häusern im Redoutensaal Mozart abhaspeln, nur damit manche Ensemblemitglieder ihre Abende abbiegen. Der Spielbetrieb in diesem Saale gehört, wenn dort überhaupt einer stattfinden muß, auf Gala-Vorstellungen für zahlungskräftige, atmosphäre-lüsterne Ausländer beschränkt.

10./ Daß Unterrichtsministerium und Bundestheaterverwaltung in den Verhandlungen um das Theater an der Wien schmählich versagt haben.

Unbehagen bereitet uns auch, daß Herbert von Karajan offenbar die ganze Saison so intensiv an die Götterdämmerung dachte, daß er es mit Ach und Krach auf 29 Abende in Wien und zwei Abende beim Wiesbaden-Gastspiel der Wiener Oper – zusammen also insgesamt 31 Abende brachte. 30 hat er im Vertrag als Mindestanzahl. Das war nicht nobel. Hoffentlich nimmt ihn der Parsifal in der kommenden Saison nicht in gleichem Ausmaß in Anspruch.

Unsere Preisverteilung:

Allerdings war unter diesen 31 Aufführungen, die Karajan dirigiert hat, der zweifellos schönste Abend der Saison, den wir hiermit feierlich mit dein Grand prix des Merker (wir werden ihn in Zukunft Sixtus nennen) auszeichnen. Die Premiere der GÖTTERDÄMMERUNG am 12. Juni.

Aber auch zwei Strauss-Vorstellungen sind höchster Ehren würdig: ELEKTRA unter Karl Böhm am 13. Mai und DER ROSENKAVALIER unter Heinz Wallberg am 1. Jänner 1960.

Die schlechteste Aufführung des Jahres war zweifellos die eingeschobene ZAUBERFLÖTE am 14. März 1960. Sie war unseres Hauses unwürdig, denn man hätte umdisponieren können. Im Redoutensaal wurde „Figaros Hochzeit" in guter Besetzung gegeben, was verschiedene Variationsmöglichkeiten geboten hätte.

Der Fall Bertocci war eher grausames Pech. Immer hat man eben nicht einen Einspringer-Sänger in der Kulisse stehen, wenn di Stefano singt, was allerdings leider nötig wäre!

Aber GIUSEPPE DI STEFANO bereitete uns nicht nur Kummer, sondern auch Freude! Im MASKENBALL am 4. Juni war er so herrlich, wie wir ihn kaum je zuvor gehört haben.

Da ist ETTORE BASTIANINI ein anderer! Die Redaktion des Merker beschloß einstimmig, ihn nicht nur wegen seiner Stimme, sondern vor allem wegen seiner Verläßlichkeit, seiner Einsatzbereitschaft – man denke nur an seine En-Suite-Singe-Woche vom 18. bis 25. September 1959 – zum Mann des Jahres zu wählen.

Zwei seiner Baritonkollegen haben ebenfalls größten Eindruck hinterlassen: HANS HOTTER gestaltete am 3. Februar 1960 einen phänomenalen König Marke und OTTO WIENER sang am 24. Jänner 1960 einen prachtvollen Sachs.

Die ausgezeichneten Damen sind in der Mehrzahl. Wir preisen in den höchsten Tönen:

CHRISTA LUDWIG als Angelina (25. Oktober 1959),

MARTHA MÖDL als Kundry (8. November 1959, Gastspiel der Staatsoper Stuttgart),

BIRGIT NILSSON als Brünnhilde in Götterdämmerung (12. Juni 1960),

GIULIETTA SIMIONATO als Santuzza (20. März 1960),

ELISABETH SCHWARZKOPF als Marschallin (1. Jänner 1960).

GÜNTHER RENNERT hatte mit den Inszenierungen der VERKAUFTEN BRAUT und ANGELINA einen Sensationserfolg und führte mit Nachdruck die „kleinen Dinge" in das große Haus ein.

Wir hoffen auf eine Fortsetzung durch Rennert selbst!

Die schlechteste Inszenierung des Jahres war zweifellos ORPHEUS UND EURYDIKE durch die Herren Schuh und Neher, die sich mit dieser Blamage wohl auf längere Zeit aus Wien hinausinszeniert und gebühnenbildert haben.

 

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