DER FEBRUAR 1962
7. Jahrgang, Heft 3
Leitartikel, 7. Jahrgang, Heft 2, Wien, am 12. Februar 1962
DER WELTUNTERGANG FAND IN DER STAATSOPER WIEN STATT...
nämlich das Ende einer Opernära künstlerischen Glanzes, das mutwillig herbeigeführte Ende eines österreichischen Kulturwunders, das Herbert von Karajan trotz massiver Widerstände in einem restlos darniederliegenden Hause aufgebaut hat. Zurück blieb die Angst vor einer ungewissen Zukunft der Wiener Oper. Zurück bleibt der Opernball, auf dem das Wirtschaftswunder prosten und tanzen wird zur Feier des Triumphes der Mittelmäßigkeit.
Der Vorgang ist nicht ganz neu und bedeutet nur eine frische Auflage gehabter Konditionen in anderer Version. Die großen Opernchefs der großen Musikstadt Wien haben alle Ähnliches erleben müssen. Sie hatten den Undank, Wien die Schande.
Der Verlauf der weiteren Ergebnisse ist noch nicht abzusehen, und während der Redaktionsschluß uns zwingt, diese Merker-Nummer fertigzustellen, ist es gar nicht so sicher, ob nicht schon in Tagen oder Stunden die Entwicklung in ein fortgeschritteneres Stadium tritt und weitergehende Berichterstattung erfordern würde. Wir können also diesmal keinen Schlußpunkt, sondern nur ein großes Fragezeichen setzen.
Herbert von Karajan hat demissioniert! Wird es jemals noch zu Verhandlungen mit ihm kommen? Das künstlerische und technische Personal der Staatsoper versucht durch Protestaktionen, die Wiener Philharmoniker durch Interventionen, die Gesellschaft der Musikfreunde durch Petitionen, die Presse durch Publikationen, das Publikum durch Demonstrationen solche Verhandlungen zu erreichen. Äußerste befremdend erscheint es uns, daß bei letzteren Demonstrationen das Opernhaus förmlich durch Kriminalbeamte zerniert ist, und hier mehr Beamte Dienst tun, als beim Opernball! Welch eine Verschwendung von Steuergeldern, da die Kripo bis jetzt nicht finden konnte. Was hat sie eigentlich gesucht und was hätte sie finden sollen?
Der Herr Unterrichtsminister hat in seiner Pressekonferenz am 9. Februar Darlegungen gebracht, die von Herrn von Karajan in aller Kürze als unrichtig bezeichnet wurden und auf die er in einer Entgegnung zu antworten gedenkt. Es ist daher – ohne die Replik abgewartet zu haben – müßig, sich über die Darlegungen des Herrn Ministers zu verbreitern. Davon abgesehen waren allerdings die ministeriellen Erklärungen so ungenügend, daß man den Ressortchef fast schon als unzureichend informiert bezeichnen muß, wenn man nicht besser die Definition „uninteressiert" wählen sollte!
Was ohne Karajan aus dem Vertrag mit Mailand werden sollte – der Herr Minister wußte es nicht.
Was aus Karajans Wiener Konzertverpflichtungen wird – der Herr Minister wußte es nicht.
Der Herr Minister schnitt weitere Fragen der Journalisten mit dem Hinweis ab, daß es in Österreich wichtigere Dinge gäbe als die Fragen Staatsoper und Karajan. Sprach’s und wendete sich den Unterrichtsproblemen zu, während ein Großteil der Berichterstatter verärgert den Konferenzraum verließ.
Trotzdem ist es aber nun dieser Herr Unterrichtsminister, dem es obliegt, einen neuen Opernchef zu suchen. Seine musikalische Unbekümmertheit wird ihm dabei die richtige Beraterin sein. Herr Volksoperndirektor Franz Salmhofer hat jedenfalls bereits abgelehnt! Hut ab, vor dem alten Hofrat, der eine viel zu große Achtung vor Karajan hat, um auch nur vorübergehend dessen Nachfolge anzutreten. Eine ähnliche Haltung dürfte man von den meisten in Frage kommenden Künstlerpersönlichkeiten erwarten.
Vielleicht entscheidet sich der Herr Minister für einen Beamten? Der damit verbundene Prestigeverlust scheint Herrn Minister Drimmel – im Vergleich zu einem verlorenen Fußballmatch – offenbar unbedeutend. Herr Dr. Kalmar, der ja immerhin auch Pressechef der Staatsoper ist, hat in diesem Konflikt überhaupt noch nicht Stellung bezogen, denn seine Meinung, die er stets mit der Betonung des Prinzips der Freiheit und demokratischen Meinungsäußerung zu verbinden weiß, hebt er sich seit eh und je fürs Radio und Fernsehen auf, wie der kleine Mann den Sonntagsanzug zum festlichen Opernbesuch.
Übrigens hütet man sich in der Bundestheaterverwaltung sehr davor, irgendwo anzuecken, wozu es jetzt allerdings etwas zu spät ist! In aller Öffentlichkeit wird in der letzten Zeit einiges diskutiert, was eigentlich genügen sollte, einen Beamtensessel als vom Holzwurm benagt und „zerfressen von den Motten" zu deklarieren. (Wir haben uns vermessen, Herrn Unterrichtsminister Dr. Drimmel zu ersuchen, in dieser Angelegenheit einzugreifen, von der auch die Betriebsräte der Wiener Staatsoper und der Wiener Philharmoniker bestens informiert sind.) Wir, als freie und unbescholtene Staatsbürger einer freien Republik, haben uns erkühnt, ein heißes Eisen anzufassen, bei dessen Erwähnung man sich bisher respektvoll „..Sprecht leise haltet euch zurück" zuraunte und dies absolut nicht aus Sensationslust. Wir wollen zum Nachdenken darüber anregen, ob der ministerielle Schutz, der bei der Pressekonferenz ausdrücklich erwähnt wurde, nicht weit eher einer großen Künstlerpersönlichkeit – auch von hohen menschlichen und charakterlichen Qualitäten – zukäme. Wir sind darüber hinaus auch so vermessen, allen prominenten Persönlichkeiten des In- und Auslandes zuzurufen, diesmal dem Opernball fernzubleiben und damit zu dokumentieren, daß es für Menschen mit Verantwortungsbewußtsein nicht angängig ist, eine Veranstaltung zu besuchen, um deretwillen ein Künstler vom Range Karajans gehen mußte. Wir wenden uns dabei an sämtliche Solisten des Hauses, wir wenden uns an alle, die schwer arbeiten mußten, damit das Protzertum triumphiere! Wir finden die Situation der Operneröffnung wiederhergestellt, wo nicht künstlerischer Geist, sondern ein provinzieller Snobismus regierte. Mittlerweile ist es dem Geist und der Persönlichkeit Karajans gelungen, das Haus international bedeutungsvoll und weltoffen zu machen! Wollen wir die Türe wieder zuschlagen, wollen wir die stickige Luft des Provinzialismus wieder atmen und mit jedem kleinen Stadttheater in Mitteleuropa um die Geltung kämpfen müssen?
Nur ein Künstler vom Range Karajans rettet uns davor, nur Karajan kann die Weltuntergangsstimmung in erleichtertes Aufatmen verwandeln. Das Publikum, das Karajan seit dem Erscheinen in Wien treu geblieben ist, hat die Hoffnung noch nicht verloren. Wiens Publikum jedenfalls wird es nicht sein, das sich vor dem Urteil der Welt und der Geschichte schämen muß!
ZUR PRESSEKONFERENZ VON UNTERRICHTSMINISTER Dr. DRIMMEL
Im Kreuzfeuer der Presse stand Unterrichtsminister Dr. Drimmel am Sonntag, dem 11. Februar 1962
Er führte u.a. aus: „Herr von Karajan hat sich verpflichtet, eine bestimmte Anwesenheit in Österreich zu garantieren und hat sie bisher in loyalster Weise erfüllt. Und wenn ich die Frage im Allgemeinen jetzt als Resümee betrachte, so wird seine Anwesenheit in der Oper als ein außerordentlicher Gewinn für Österreich bezeichnet. Also, ich möchte sagen, Herr von Karajan ist uns weder in künstlerischer Hinsicht, noch hinsichtlich seines Arbeitsfleißes bisher etwas schuldig geblieben. Im Gegenteil, er hat auch in dieser Beziehung viel, viel mehr geleistet, als wir auch mit dem besten Vertrag aus einem routinemäßig bestellten Operndirektor hätten herausholen können. Das muß auch in dieser bitteren Stunde ihm (Karajan) ausdrücklich bekannt gemacht werden."
BRIEF AN HERBERT VON KARAJAN
Die Redaktion hat an Herrn von Karajan ein Schreiben gerichtet, das wir nachstehend zum Abdruck bringen.
Sehr geehrte Herr von Karajan!
Wir müssen unseren offenen Brief an Sie damit beginnen Ihnen für schöne, zum Großteil unvergeßliche Abende zu danken, die wir in der Ära Karajan hören konnten. Dieser Dank wiegt umso mehr, als gerade wir mit – wie wir glauben – objektiver Kritik an den Mißständen in Ihrem Hause nicht zurückgehalten haben. Allerdings haben wir immer gewußt, was wir mit Ihrer Persönlichkeit, speziell in stilistischer Hinsicht und im Hinblick auf das Gesamtwerk auf der Bühne, gewonnen haben.
Wenn Sie nun zu der Ansicht gekommen sind, den Ihnen angetanen Affront nicht mehr tragen zu können, müssen wir Ihnen leider darin Recht geben. Wir dürfen Sie nur daran erinnern, daß Ihr Auditorium nicht aus Ministern, Ministerialräten und wetterwendischen Kritikern besteht. Ihr Publikum ist Ihnen seit dem Jänner 1946 treu geblieben. Bleiben auch Sie ihm treu!
Mit vorzüglicher Hochachtung
Die Redaktion des Merker
Was war geschehen? Dazu Zeitungsausschnitte
Da der Leitartikel nur eine Momentaufnahme darstellt, die für alle, die die damaligen Wochen nicht miterlebt haben, wenig verständlich ist, sollen Zeitungsausschnitte ein deutlicheres Bild geben.
EXPRESS, Mittwoch, 7.2.1962
Einigung mit dem technischen Personal: Kompromiß angenommen
Ein Waffenstillstand vor dem Opernball 1962
Bedenklicher Exodus der Staatsopernarbeiter
Der seit März 1961, also fast einem vollen Jahr, schwelende, seit September akute und seit November bedrohliche Konflikt zwischen dem technischen Personal der Staatstheater und der Bundestheaterverwaltung ist gestern Vormittag, wie EXPRESS bereits angekündigt hat, beigelegt worden. Die normale Arbeit an den Bundestheatern wird heute früh wieder aufgenommen. Gleichzeitig darf als sicher angenommen werden, daß der Opernball 1962 nun doch abgehalten werden kann. Offiziell wurde seine Durchführung allerdings bis gestern Abend noch nicht bekanntgegeben.
Dies sind die Ergebnisse der Geheimverhandlungen, der letzten Tage sowie einer Urabstimmung des technische Personals, die gestern früh im Konzerthaus anschließend an eine Vollversammlung stattfand.
Die Geheimverhandlungen, von denen EXPRESS als erstes Blatt die Öffentlichkeit zu informieren in der Lage war, wurden nach der Rückkehr des ÖGB-Präsidenten Franz Olah aus den USA intensiviert. Die Vertreter der Gewerkschaft und der Bundestheater kamen dabei überein, einen neuen Kollektivvertrag zu entwerfen, in dem festgehalten wird, daß „auf Grund der freiwillig erklärten Bereitschaft des Dienstnehmers bis zum Inkrafttreten eines neuen Arbeitszeitgesetzes Überstunden in der für die Aufrechterhaltung den Betriebes notwendigen Zahl geleistet werden".
Dieser Passus betrifft die einzige wesentliche Änderung jenes Kompromißvorschlages, der in der Vorwoche vom technischen Personal (das sich damit gegen seine gewählten Vertreter stellte) bei der ersten Urabstimmung abgelehnt worden war. Damals enthielt der Kompromißvorschlag noch die Bedingung, die Arbeitnehmer müßten, gleichsam als Kompensation für die Erfüllung gewisser finanzieller Zugeständnisse, jährlich 250 Überstunden leisten. Dieser Punkt wurde nun durch die zitierte Umschreibung, die keine exakte Stundenanzahl mehr enthält, ersetzt.
Man stützt sich bei der neuen Formulierung auf eine Bestimmung der Arbeitszeitordnung, die besagt, daß „pragmatisiertes, öffentliches Dienstpersonal veranlaßt werden kann, Überstunden ohne Limit zu leisten, falls es für den Betrieb erforderlich ist".
Da das technische Bühnenpersonal infolge seiner Bezüge der Kategorie des öffentlichen Dienstpersonals zugezählt wird, war die Möglichkeit dieser Formulierung gegeben. Es ist jedoch im Entwurf des neuen Kollektivvertrages ausdrücklich festgehalten, daß bei Überforderungen das technische Personal bei seiner Gewerkschaft Bedenken anmelden kann. In diesem Falle würden neuerliche Verhandlungen mit der Bundestheaterverwaltung stattfinden, und zwar innerhalb von zehn Tagen.
Diese Regelung erlaubt einerseits die Wiederaufnahme eines normalen künstlerischen Betriebes, gibt andererseits aber dem technischen Personal die Möglichkeit, jederzeit mit neuen Forderungen nach Reduzierung der Überstunden aufzutreten.
Allen zuständigen Stellen scheint die Erzielung einer Kompromißlösung auf dieser etwas unpräzisen und vagen Basis wichtig gewesen zu sein, um den Opernball 1962, für dessen Zustandekommen bereits zahlreiche Interventionen erfolgt waren, doch noch zu retten.
Zwar hat Unterrichtsminister Dr. Drimmel erklärt, er werde sich im Zusammenhang mit der gestern erfolgten Einigung entscheiden, ob er den Herrn Bundespräsidenten und die Mitglieder der Bundesregierung bitten wird, die gewohnten Ehrenfunktionen anläßlich eines Opernballes zu übernehmen, doch zweifelt man nicht, daß die neuerliche Ansetzung des Balles für den 1. März bereits heute erfolgen wird.
Minister Dr. Drimmel, betonte in diesem Zusammenhang, man werde jene Lösung verfolgen, die „die Aufrechterhaltung eines leistungsfähigen künstlerischen Betriebes der Bundestheater, wenn auch unter Schwierigkeiten, wieder anbahnt, wobei die Abhaltung einer Ballveranstaltung nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist".
Wie EXPRESS dazu erfährt, hängt die endgültige Sicherung des Opernballes eigentlich nur noch von den zu treffenden Sondervereinbarungen mit dem technischen Personal der Staatsoper ab, die alljährlich für die drei Tage rund um den Opernball und die Entlohnung der anfallenden Nonstoparbeit abgeschlossen werden müssen. Man zweifelt nicht daran, daß diese Vereinbarung perfekt gemacht werden kann. Die technischen Voraussetzungen für die Abhaltung, des Balles sind jedenfalls nach wie vor gegeben.
Die Bundestheaterverwaltung hat sich jedenfalls mit der neuen Kompromißlösung über die Forderung der einzelnen Theaterdirektoren hinweggesetzt die noch in der Vorwoche erklärt hatten, nur die exakte Sicherung der Überstundenleistung gewährleiste einen einwandfreien Betrieb.
Herbert von Karajan hat als künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper sofort nach Bekanntwerden dieser neuen Kompromißlösung seinen Urlaub in St. Moritz abgebrochen und ist Montag Abend nach Wien zurückgekehrt. Er hatte noch am gleichen Abend eine Unterredung mit dem Leiter der Bundestheaterverwaltung, Dr. Karl Haertl. Wie offiziell mitgeteilt wurde, hat es sich Karajan vorbehalten, über die Durchführbarkeit seiner künstlerischen Pläne bei der jetzigen Regelung (das heißt ohne Festsetzung der zu leistenden Überstunden) eine gesonderte Erklärung abzugeben. Außerdem will Karajan neuerlich vor das technische Personal treten. Dies dürfte notwendig sein, weil das technische Personal der Staatsoper bei der gestrigen Vollversammlung im Konzerthaus vor der Urabstimmung einen Exodus vollzog, um damit zu deklarieren, daß es mit der getroffenen Vereinbarung nicht einverstanden sei.
Die Vollversammlung im Konzerthaus war schwächer besucht als erwartet worden war. Von mehr als 1000 Arbeitnehmern waren bloß etwa 670 zugegen. Als es zur Beschlußfassung über den vorgeschlagenen Kompromiß kam, verließen rund 200 Anwesende, durchweg Angehörige des technischen Personals der Staatsoper, den Saal und nahmen an der Abstimmung nicht teil. Der verbliebene Rest entschied sich mit 424 gegen 37 bei 14 ungültigen Stimmen für die Annahme des neuen Vorschlags, der außer dem schon erläuterten Punkt noch die Anerkennung von Vordienstzeiten, die Einführung der Fünftagewoche und die Neufestsetzung der Nebengebühren (gemäß dem alten Vorschlag) vorsieht.
Ein Sprecher des technischen Personals der Staatsoper erklärte nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses, daß die Bühnenarbeiter der Oper trotz ihrer Unzufriedenheit den Spielbetrieb nicht stören und die neue Vereinbarung akzeptieren würden.
Kommentar
Karajan: Optimistisch
Es wird nun abzuwarten sein, In welchem Ausmaß das technische Personal die geforderten Überstunden zu leisten bereit ist. Die Auswirkungen der neuen Vereinbarung kann erst die Praxis des Theateralltags zeigen.
Dieser Meinung ist auch Herbert von Karajan, der gestern Abend EXPRESS mitteilte, er sei mit der getroffenen Vereinbarung einverstanden. Er meinte, es könne frühestens im April über die Auswirkungen der Neuregelung gesprochen werden, weil sich bis dahin der Arbeitsvorgang erst wieder richtig einspielen müsse.
Die Normalisierung des Spielplanes werde in zwei bis drei Wochen möglich sein, da jetzt neue Dispositionen ausgearbeitet werden müssen. Im übrigen werde er, sagte Karajan, zu seiner Zusage, die er dem technischen Personal vor einer Woche gegeben habe, stehen, und für die Probleme seiner Bühnenarbeiter stets ein offenes Ohr haben.
Karajans Tendenz: vorwiegend optimistisch.
Diese Entwicklung wirkte zuerst einmal auf das Stammpublikum beruhigend, wenngleich man voll Ingrimm feststellte, daß diese Einigung – entgegen den offiziellen Beteuerungen – letztlich nur für den Opernball durchgedrückt worden war, und dem Frieden nicht wirklich traute. Und man sollte Recht behalten. Denn am nächsten Tag war alles anders.
Donnerstag, 8. Februar 1962
EXPRESS, Donnerstag, 8.2.1962
Karajan ist zurückgetreten!
Opernball findet aber statt
Herbert von Karajan, künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper, hat gestern dem Unterrichtsminister seinen Rücktritt mitgeteilt. Dr. Drimmel hat diesen Rücktritt angenommen. Einen ausführlichen Bericht von Karl Löbl, der mit Karajan vor dessen Abreise sprach, lesen Sie auf Seite 5.
Die Bundestheaterverwaltung hat gestern mit Billigung des Unterrichtsministers veranlaßt, daß der Opernball 1962 im gewohnten Umfang am 1. März abgehalten wird.
Minister Dr. Drimmel, der noch tags zuvor erklärt hatte, die Aufrechterhaltung des künstlerischen Betriebes sei die wesentliche Voraussetzung für die Abhaltung dieses Balles, scheint in dem Rücktritt des künstlerischen Leiters keine Beeinträchtigung des Betriebes erblickt zu haben.
Herbert von Karajan gewährte EXPRESS sein letztes Wiener Interview
Wiener Oper sucht einen neuen Direktor
Ein unerwarteter Schritt und sein Anlaß
Herbert von Karajan ist gestern Nachmittag als künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper zurückgetreten. In einem Brief an den Unterrichtsminister, den wir nachfolgend veröffentlichen, begründete er seinen Entschluß.
Unterrichtsminister Dr. Drimmel hat diesen Brief zur Kenntnis genommen. Das amtliche Kommuniqué enthält kein Wort des Bedauerns oder des Dankes, keinen Einlenkungsversuch – nichts.
Das amtliche Kommuniqué enthält vielmehr den Satz: „Der Brief (Karajans - Anm. d. Red.) schließt mit dem Dank für das Wohlwollen und das Vertrauen an den Bundesminister für Unterricht."
Wie sich unsere Leser selbst überzeugen können, hat Karajan von Dank kein Wort geschrieben ...
Herbert von Karajan hat sich unmittelbar nach der Absendung dieses Briefes nach Schwechat begeben und, laut Auskunft der Operndirektion, um 16.20 Uhr Wien verlassen. Er hat sich vorher nicht geäußert, ob er sich damit von jeder Form der künstlerischen Tätigkeit an der Wiener Staatsoper zurückziehe.
Unterrichtsminister Dr. Drimmel hat sofort Auftrag gegeben, wegen der Besetzung des Postens des Direktors der Wiener Staatsoper die notwendigen Verhandlungen unverzüglich einzuleiten. Zugleich hat er an den zur Zeit auf einem Erholungsurlaub befindlichen Direktor der Wiener Volksoper, Hofrat Franz Salmhofer, telegrafisch die Bitte gerichtet, die interimistische Leitung des Institutes zu übernehmen. Hofrat Salmhofer, der sich zur Zeit für eine dreiwöchige Kur in Badgastein befindet, wird voraussichtlich seinen Urlaub vorläufig nicht abbrechen.
Soweit der Tatbestand.
Was ist passiert?
Wir haben noch gestern an dieser Stelle Äußerungen Herbert von Karajans wiedergegeben, deren optimistische Tendenz unverkennbar war. Diese Äußerungen machte Karajan mir gegenüber am Dienstagabend anläßlich eines einstündigen Interviews, das er mir gewährte. In seinen Direktionsräumen, während des zweiten Aktes einer Rosenkavalier-Aufführung. Es war mehr ein Gespräch als ein Interview. Ich hatte keine Ahnung, daß es Karajans letztes als Opernchef gewesen sein sollte. Und ich glaube, Karajan selbst hatte auch keine Ahnung.
In diesem Gespräch war zunächst von dem Konflikt mit dein technischen Personal die Rede. Karajans Optimismus schien mir echt. Er sah momentan in der Kompromißlösung keine Gefährdung seines Betriebes. Aber er betonte, daß er zu seinem technischen Personal halten wolle und dessen Sonderinteressen vertreten werde. „Die Techniker der Staatsoper sind Künstler. Sie sollen auch wie Künstler entlohnt werden. Dann werden sie wieder wie Künstler arbeiten." Das war Karajans Meinung. Man mag sie teilen oder nicht. Jedenfalls ein Standpunkt.
Im weiteren Verlauf des Gesprächs entwickelte Karajan ein hochinteressantes Projekt, wie er in den nächsten Jahren die Struktur der Wiener Oper gestalten wolle.
„Das Ensembletheater gibt es nicht mehr - zumindest nicht auf höchstem internationalem Niveau. Das Repertoiretheater Wiener Prägung muß darunter leiden. Ich sehe einen Ausweg: Denken Sie doch an Salzburg. Was tut man dort? Man spielt fünf bis sechs Wochen lang sechs Opern. Reprisen und Neuinszenierungen. Immer mit der gleichen Besetzung. Es müßte doch möglich sein, dieses Prinzip auf Wien zu übertragen!"
Karajan erläuterte auch, wie er sich’s vorstellt: „Wir spielen zwei Monate lang etwa sechs Stücke und
engagieren dafür ein Sängerteam, das in diesem Zeitraum keine andere Verpflichtung eingehen darf
Nach jeweils zwei Monaten tauschen wir das Repertoire und das Team aus. Neue Stücke, neue Sänger. Oder auch dieselben Sänger, wenn sie sich für längere Zeit binden lassen. Die Aufführungen bleiben in der gleichen Hand, sie haben innerhalb ihrer Periode die gleiche Besetzung. Die Inszenierung bleibt präzise. Jedes Stück hat sein Ensemble. Und während der Festwochen bieten wir einen Überblick über unser gesamtes Repertoire!"
Soweit mein Gespräch mit Karajan.
Und nun sei hier einmal mit aller gebotenen Offenheit das ausgesprochen, was schon längst ausgesprochen gehörte:
Herbert von Karajan übernahm 1956 die künstlerische Leitung der Wiener Staatsoper.
Seine Tätigkeit als Opernchef wurde – zuerst an dieser Stelle, dann auch anderswo – seither oft genug kritisiert. In all diesen Jahren haben jene Stellen, die befugt gewesen wären, ein Machtwort zu sprechen, geschwiegen. Der Unterrichtsminister, weil er „den Direktoren freie Hand lassen" will, wie er es immer wieder betonte, und der Leiter der Bundestheaterverwaltung, weil er sich offenbar nicht getraut hat, Mißstände abzustellen.
Hätte man gesagt, man wolle Karajan nicht mehr, weil sein Regime zu teuer käme, weil er ein Verschwender sei, weil nicht ordentlich disponiert werde – die Öffentlichkeit hätte sich erregt, aber es wäre ein klarer Standpunkt gewesen.
Unsere Beamtenhierarchie ist aber hinterlistig. Sie will keine klaren, Standpunkte. Sie macht alles auf die leise Tour. Es mußte dem Unterrichtsminister, es mußte allen Mitgliedern jenes aufgeblähten, unnützen, theaterfremden Apparates, der sich Bundestheaterverwaltung nennt, klar sein, daß Karajan die Konsequenzen ziehen würde, falls man ihn bei Verhandlungen absichtlich überginge.
Karajan wurde übergangen. Er kam, wie ich jetzt weiß, Montag Abend nach Wien mit der festen Absieht, zurückzutreten. Die Gründe stehen nebenan im Brief. Seine Mitarbeiter, die Personalvertretung, seine Freunde redeten ihm zu. Dienstag Abend schien er gewillt, die Diffamierung einzustecken. Mittwoch stellte sich heraus: Er konnte es nicht verwinden. Und Karajan trat ab.
Und was tat nun Dr. Drimmel? Er betraute nicht den Mann, der in Abwesenheit Karajans den Opernbetrieb mit Geschick steuert, Albert Moser, mit der interimistischen Leitung des Hauses. Damit hätte er alle Türen offengelassen.
Er übergab die Leitung vorläufig dem Volksoperndirektor Hofrat Salmhofer. Und schlug damit wohl alle Türen zu. Wollte er sie nicht zuschlagen, war sein Entschluß zumindest eine Ungeschicklichkeit.
An dieser Stelle wurde in den letzten Tagen immer wieder gewarnt vor dem faulen, überstürzten, unguten Kompromiß, mit dem man den Konflikt zwischen Technik und Staat beendet zu haben glaubte. Man hat mir deshalb vorgeworfen, diese Warnungen seien journalistische Übertreibungen.
Niemand konnte allerdings ahnen, daß das Ende des Konflikts so aussehen würde.
Das amtliche Hext war gestellt. Karajan stürzte darüber.
Karl Löbl
Karajans Brief an den Unterrichtsminister:
Das Vertrauen erschüttert
Herbert von Karajan, künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper, hat gestern an den Bundesminister für Unterricht, Dr. Heinrich Drimmel folgendes Schreiben gerichtet:
Hochverehrter Herr Minister!
Nachdem am Dienstag, dem 30. Jänner 1962 die fünf Monate lang dauernden Verhandlungen zwischen der Bundestheaterverwaltung und der „Gewerkschaft Technisches Personal" an dem Ergebnis der Urabstimmung gescheitert waren, haben wir uns, Herr Minister, auf meinen, ebenfalls am 30. Jänner gemachten Vorschlag, geeinigt, die Operndirektion solle nun mehr von sich aus versuchen, in persönlichem Kontakt mit allen Gruppen des technischen Personals der Staatsoper die echten Bedingungen zur Wiederherstellung eines gesicherten künstlerischen Betriebes und eines guten Arbeitsklimas als Grundlage neuer Verhandlungen zu klären. Ich hatte nach unserer Unterredung die vollkommene Zuversicht, daß ich gemeinsam mit Ihnen helfen" könnte, einen Ausweg aus der offenbar festgefahrenen Situation zu finden.
Um so mehr mußte es mich überraschen, daß zwei Tage, nachdem diese Verhandlungen eingeleitet waren, der Direktion gerüchteweise bekannt wurde, daß die Bundestheaterverwaltung neuerlich in Verhandlungen mit der Gewerkschaft eingetreten sei, diesmal aber gegen jede frühere Gewohnheit unter Ausschaltung der Staatsoper. Nachdem auf Befragen die Bundestheaterverwaltung diese Gerüchte bestätigte und darüber hinaus den Ausschluß der Staatsoperndirektion als bewußt bezeichnete, habe ich am Samstag, dem 3. Februar 1962, offiziell Protest dagegen erhoben, daß für den Betrieb lebenswichtige Fragen ohne Hinzuziehung des künstlerischen Leiters und seiner Direktion verhandelt werden.
Erst am Montag, dem 5. Februar – kurz vor meiner Ankunft – wurde meinem Vertreter auf dessen dringendes Ersuchen Inhalt und Form des vorbereiteten Abkommens bekanntgegeben und als endgültig bezeichnet.
Die Tatsache, daß man sich unter bewußter Ausschaltung des künstlerischen Leiters und seiner Direktion auf einen Kompromißvorschlag geeinigt hat, stellt einen so schwerwiegenden Eingriff in die Kompetenzen des künstlerischen Leiters dar, daß dessen Funktion unter solchen Umständen sinnlos wird und es ihm unmöglich macht, das von Ihnen seit Jahren in ihn gesetzte Vertrauen in Zukunft weiter rechtfertigen zu können.
Ich sehe mich deshalb gezwungen, mit dem heutigen Tag die künstlerische Leitung der Staatsoper in Ihre Hände zurückzulegen.
gez. Herbert v. Karajan
DIE PRESSE, Donnerstag, 8. 2. 1962
Zum Rücktritt Herbert von Karajans
Um eine Weltblamage reicher
Es ist ein Jammer. Die Chronik der Wiener Oper ist nun wieder um eine Weltblamage reicher, das kostbare Institut um die belebende Kraft einer außerordentlichen Persönlichkeit ärmer. Direktionskrisen im Theater werden zumeist durch lange währende Mißverständnisse herbeigeführt, durch Intrigen und Gegenintrigen, durch eine Ansammlung von Empfindlichkeiten und Verstimmungen. So mag auch nun die Karajan-Krise durch ein kompliziertes Spiel ausgelöst worden sein, das hinter den Kulissen und bei fest geschlossenen Bürotüren vor sich gegangen ist Sinn, und Tendenz dieses Spieles aber werden in Karajans Brief an den Minister mit absoluter Klarheit aufgedeckt: Der Künstler fühlte sich durch das Vorgehen der Bürokratie, die in seiner Abwesenheit und mit absichtlicher Ausschaltung seiner Person die entscheidenden Verhandlungen führte, vor den Kopf gestoßen.
So erging es seinerzeit Gustav Mahler, nicht anders wurde Richard Strauss zu Fall gebracht, und die leider sehr österreichische Methode bewährte sich ebenso, als man daranging, Franz Schalk abzuservieren. In allen diesen Fällen hat man die Schwere des angerichteten Schadens erst im Nachhinein erkannt und ermessen. Sollten wir da nicht durch alten Schaden endlich klug geworden sein und heute alles daran setzen, den neuen zu vermeiden und Karajan zu bewegen, seinen Entschluß rückgängig zu machen? Der Minister, der sich eben erst so entschlossen an die Seite des Künstlers gestellt und ihn vor ungerechten Angriffen in Schutz genommen hat, wäre der berufene Vermittler.
Heinrich Kralik
ÖSTERREICHISCHE NEUE TAGESZEITUNG, Donnerstag, 8. 2. 1962
Das Operndilemma
Von Alexander Witeschnik
Wieder einmal hat Wien seine Opernaffäre, die. sich zur Opernkatastrophe auszuweiten anschickt und die Gemüter in einem Maße erregt, wie dies selten ein noch so wichtiges oder entscheidendes politisches Ereignis je imstande wäre. Herbert von Karajan hat demissioniert, und jetzt, da er gegangen ist, wird offenbar vielen, die es vorher durchaus nicht gewußt haben oder nicht wissen wollten, erst so recht bewußt, was Wien, was die Staatsoper an ihm verliert. Nicht nur das technische Personal, für das der scheidende Opernchef immer ein besonderes Verständnis bewies, sondern auch das künstlerische Personal am Ring, das sich von Karajan durchaus nicht immer verstanden, fühlte, trat zum Sitzstreik an, um seine Solidarität mit ihm zu bekunden. Ganz Wien erhitzt sich über den jähe Abgang Karajans und das wieder einmal über Nacht verwaiste Haus am Ring. Von der Ansicht, daß nun wenigstens der geistige Raum frei geworden sei für die Pflege des heimischen Ensembles am Ring bis zur erbitterten Feststellung, daß Österreich wieder um eine internationale Blamage reicher und sein kulturelles Ansehen in der Welt irreparabel ramponierte worden sei, kann man alle Nuancen und Abstufungen von leidenschaftlich geäußerten Meinungen hören.
Für einen gelernten Österreicher, dem die Staatsoper nun einmal eine Herzensangelegenheit ist und der in Karajan nicht nur die faszinierende Dirigentenpersönlichkeit, sondern eine der stärksten künstlerischen Potenzen unserer Epoche sieht, ist es in der Tat nicht leicht, die neue Opernsituation und wie sie nach den bisherigen Meldungen entstanden sein soll, leidenschaftslos zu betrachten. Allzu abrupt und überraschend hat die Opernära Karajan ihr Ende gefunden. Und der Mißton, mit dem sie ausklang, ist unüberhörbar. Karajan fühlte sich beim Kompromiß, den die Bundestheater-verwaltung mit den Bühnenarbeitern zur Bereinigung des nun bald halbjährigen Konflikts schloß, übergangen, ja bewußt ausgeschaltet. Man habe Entscheidungen, die er als lebenswichtig für die künstlerische Zukunft der Staatsoper erachteten, ohne ihn getroffen, und er habe daraus die Konsequenz gezogen.
Damit wäre wieder einmal – wie schon so häufig in der Geschichte des Hauses – der künstlerische Leiter der Wiener Oper über eine bürokratische Masche gestolpert. Karajan mag sich trösten, er hat berühmte Vorgänger. Schon Johann Herbeck, einer der ersten Direktoren am Ring, aber auch Gustav Mahler und letztlich auch Richard Strauss und nach ihm Franz Schalk sind seine Leidensgenossen. Ein österreichisches Schicksal? Aber es ist vielleicht das Schicksal des Genies überhaupt, des primär künstlerisch orientierten Geistes, der mit dem Alltag eines Betriebes und seinen nun einmal gegebenen Notwendigkeiten früher oder später in unüberbrückbarem Gegensatz kommt, die Diskrepanz zwischen dem Stardirigenten – um wieder auf den konkreten Fall zurückzukommen – und dem nun einmal unvermeidlichen Verwaltungsmechanismus, der seine freizügigen Individualität hemmt. An dieser Diskrepanz ist der Burgtheaterdirektor Anton Wildgans zugrunde gegangen, über diese Kluft ist Gustav Mahler gestützt, an ihr hatte wohl auch eine so eigenwillige Persönlichkeit wie Herbert von Karajan zu tragen. Und es ist kein Geheimnis, daß er es dabei seiner Umgebung und seinem Minister nicht immer leicht gemacht hat, wie es kein Geheimnis war, daß zwar vieles aber nicht alles Gold gewesen ist, was aus Mailand kam. Das wurde Karajan oft genug und allzu unverblümt vorgehalten gerade von jener Stelle, die heute am lautesten seien Abgang bejammert.
Es ist in der augenblicklichen Situation zweifellos sehr populär, für den scheidenden Operndirektor sämtliche Lanzen zu brechen. Wir haben in der „Tageszeitung“ aus unserer Hochschätzung für die einmalige Künstlerpersönlichkeit Herbert von Karajans nie ein Hehl gemacht. Aber man muß gerechterweise auch die Gegenseite hören. Bisher ist Minister Dr. Drimmel, der sich wiederholt mit seiner ganzen Autorität schützend vor Karajan stellte, noch nicht zu Wort gekommen. Er wird – wie man hört – morgen vor der Öffentlichkeit zu dieser Demission, die auch er als einen „Verlust für Österreich“ bezeichnet hat, Stellung beziehen. Bis dahin wird man ihm wohl seine Versicherung glauben müssen, daß er von Karajan in bestem Einvernehmen geschieden ist.
Wie dem auch sei: die Tatsache, daß die Ära Karajan eine der glanzvollsten in der Geschichte des Hauses am Ring war, ist ebenso unzweifelhaft wie jene andere, daß die Weltöffentlichkeit, solange Karajan an der Spitze des Hauses stand, mit Bewunderung und nicht ohne Anflug von Neid auf Wien und seine Oper, die man im Ausland gerne als ein „Operntheater auf dem Gipfel“ bezeichnet hat, blickte. Uns bleibt die Hoffnung, daß es selbst dann, wenn in der Demission Karajans wirklich schon das letzte Wort gefallen sein sollte, doch gelingen möge, den scheidenden Opernchef wenigstens als Dirigenten für wesentliche künstlerische Mitarbeit zu erhalten. Wer immer nach ihm kommt, wird es schwer haben.
Dem Stammpublikum fuhr der Schreck in alle Knochen, wenngleich man aus dem Staunen über die Positionen einzelner Journalisten, die sich plötzlich für eine Rückkehr Karajans stark machten, nicht herauskam. Ja man war auch von Wut darüber erfüllt, denn hätten die Journalisten gleich solche Positionen eingenommen, wäre es dazu vielleicht gar nicht gekommen. Also wo ging das Stammpublikum hin? Natürlich zur und in die Oper!
Freitag 9. Februar 1962
Die Presse, Freitag, 9.2.1962
Proteststreik an der Staatsoper gegen die Demission Karajans
Eigenbericht der Presse von Peter Wolf
WIEN. Mit einem spontanen Proteststreik beantworteten Donnerstag Vormittag Bühnenarbeiter und Künstler der Staatsoper den Rücktritt Herbert von Karajans. Minister Drimmel erklärte vor Journalisten, er habe den Rücktritt des künstlerischen Leiters der Oper Schon seit einiger Zeit vorausgesehen. Als mögliche Nachfolger Karajans werden u. a. Herbert Juch, Josef Krips, Gottfried von Einem und Hans Swarowsky genannt.
Auf der Bühne der Wiener Staatsoper inmitten der schon aufgebauten Dekorationen für die Maskenball-Aufführung fanden sich Donnerstag Vormittag Bühnenarbeiter, Solisten, Mitglieder des Orchesters und Balletts, sowie die Choristen ein, um durch einen mehrstündigen Sitzstreik gegen die Art und Weise zu protestieren, in der das Unterrichtsministerium die Demission Herbert von Karajans als künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper behandelt hat.
Das künstlerische und das technische Personal der Staatsoper fordert, in einem offenen Brief an Unterrichtsminister Drimmel, es solle Karajan zur Rücknahme seiner Demission bewegt werden:
„Wir haben mit größter Bestürzung und ernster Sorge um die Zukunft unserer Staatsoper von dem Rücktritt des künstlerischen Leiters Herbert von Karajan und der Begründung des Rücktrittes Kenntnis genommen. Die Tatsache, daß bereits eine Stunde nach Bekanntwerden des Rücktritts Herbert von Karajans die interimistische Leitung der Staatsoper einer anderen Persönlichkeit angeboten wurde, und die weitere Tatsache, daß dieser bereits publizierte Entschluß noch am gleichen Abend, wie wir erfahren, wieder korrigiert wurde, beweist uns die völlige Unsicherheit der Situation und ruft bei uns Befremden und Mißtrauen hervor. Wir fordern nachdrücklichst, daß jeder erdenkliche Versuch unternommen wird, die internationale Persönlichkeit Herbert von Karajan der Wiener Staatsoper und Österreichs Kulturleben weiter zu erhalten. Wir sind notwendigenfalls entschlossen, mit allen gesetzlichen Mitteln die katastrophalen Folgen, die Karajans Rücktritt auslösen wird, von der Wiener Staatsoper, Wiens Kulturleben und Österreichs weltweiter kultureller Sendung abzuwenden."
Oper ohne Leitung
Volksoperndirektor Salmhofer soll am Donnerstag die Übernahme der interimistischen Leitung der Oper abgelehnt haben. Als Kandidat wurde daraufhin Dr. Reif-Gintl genannt, doch bestehen Zweifel, ob dieser die Funktion übernehmen kann. Herbert Juch, Intendant der Deutschen Oper am Rhein, betont, bis jetzt kein Angebot zur Übernahme der Leitung der Wiener Staatsoper erhalten zu haben.
Demonstration des Publikums
Vor Beginn der Aufführung von Verdis Maskenball in der Staatsoper kam es am Donnerstag Abend zu einer stürmischen Ovation für Karajan. Aus dem Zuschauerraum ertönten Rufe: „Wir wollen Karajan!", die sogleich lebhaftes Echo fanden. Donnernder Applaus und weitere „Karajan!"-Rufe, namentlich von den Rängen herab, dauerten minutenlang an. Erst als der Dirigent des Abends, Tullio Serafin, an Pult trat, gingen die Kundgebungen in den Auftrittsapplaus für ihn über.
EXPRESS, Freitag, 9.2.1962
Für Karajan: Sitzstreik
Publikum demonstriert
Im Zuschauerraum der Wiener Staatsoper kam es Donnerstag abends vor Beginn der Maskenball-Vorstellung zu Publikumsdemonstrationen. Beim Erlöschen der Lichter ertönten von der Galerie Rufe „Wir wollen Karajan!", worauf demonstrativer Beifall, vermischt mit weiteren Zwischenrufen ausbrach. Der Beginn der Aufführung wurde um einige Minuten verzögert. Bereits am Vormittag hatte das künstlerische und technische Personal auf der Bühne einen zweistündigen Sitzstreik abgehalten, um gegen die Begleitumstände, unter denen Karajans Demission erfolgte, zu protestieren. Volksoperndirekter Franz Salmhofer hat seine Berufung als interimistischer Leiter der Staatsoper zurückgewiesen. Ausführlicher Bericht auf Seite 5
In der Staatsoper: Sitzstreik, Publikumsdemonstration, Resolution
Salmhofer und Reif-Gintl haben schon abgelehnt
Dr. Drimmel will Karajans Forderungen verlesen
Als gestern abends in der Wiener Staatsoper vor dem Beginn der Maskenball-Aufführung die Lichter erloschen, ertönten von der Galerie Rufe: „Wir wollen Karajan!" Die Folge war ein mehrere Minuten dauernder, demonstrativer Beifall des Publikums, das über den Anlaß dieser Zwischenrufes durch die Zeitungen des gestrigen Tages Informiert worden war. Die Aufführung begann mit einiger Verspätung. In der Pause rief ein Besucher in der EXPRESS-Redaktion an und betonte, die Demonstration habe sich nicht gegen den Dirigenten Tullio Serafin, der gestern am Pult stand, gerichtet.
Das war der Abschluß eines Tages, der mit einer anderen Demonstration begonnen hatte: Daß technische Personal der Wiener Staatsoper veranstaltete ab 11 Uhr einen Sitzstreik auf der Bühne, der zwei Stunden andauerte, und dem sich das künstlerische Personal anschloß; ebenso nahmen alle Vorstände der einzelnen Gruppen daran teil. Dieser Sitzstreik sollte die Loyalität des gesamten Personals gegenüber dem zurückgetretenen künstlerischen Leiter der Staatsoper, Herbert von Karajan, zum Ausdruck bringen.
Diesem Sitzstreik, an dem sich etwa 450 Personen beteiligten, waren mehrstündige Verhandlungen der Personalvertreter vorausgegangen. Er wurde von der Direktion, deren Geschäfte derzeit Albert Moser führt, nicht behindert. Außerdem wurde von den gewählten Vertrauensleuten des technischen und künstlerischen Personals ein offener Brief an Unterrichtsminister Dr. Drimmel gerichtet, in dem es heißt, das Personal habe mit größter Bestürzung und ernster Sorge die Ereignisse des Mittwoch zur Kenntnis genommen. Die völlige Unsicherheit der Situation rufe Befremden und Mißtrauen hervor. Daher werde nachdrücklichst gefordert, daß jeder erdenkliche Versuch unternommen werde, um die Persönlichkeit Karajans der Wiener Oper zu erhalten. Das Personal sei entschlossen, zur Unterstützung dieser Forderung alle gesetzlichen Mittel anzuwenden.
Als Folge dieser Resolution haben gestern Unterrichtsminister Doktor Drimmel und Gewerkschaftspräsident Franz Olah vereinbart, daß der Minister die führenden Funktionäre des Opernbetriebsrates und der zuständigen Gewerkschaftssektion in den nächsten Tagen zu einer Aussprache empfangen werde.
In der Frage der vorläufigen interimistischen Leitung der Wiener Oper konnte bis gestern Abend keine Klarheit geschaffen werden. Der am Mittwoch mit dieser Funktion betraute Volksoperndirektor Franz Salmhofer hat aus persönlichen Gründen gestern vormittags den Auftrag zurückgelegt. Wie wir von gut informierter Seite erfahren, wurde daraufhin der in der Bundestheaterverwaltung an leitender Stelle tätige Hofrat Dr. Heinrich Reif-Gintl in Vorschlag gebracht, doch soll, unbestätigten Informationen zufolge, auch dessen interimistische Tätigkeit am Ring bereits gescheitert sein.
Die bisher in Zusammenhang mit einer Karajan-Nachfolge genannten Namen dürften vorläufig reine Spekulationen sein. Der einzige ernsthafte Anwärter, der frühere Volksopernchef und jetzige Intendant der Deutschen Oper am Rhein, Dr. Hermann Juch erklärte EXPRESS am Telefon dezidiert, er sei bisher weder offiziell noch inoffiziell von einem Angebot oder auch nur einer Anfrage erreicht worden.
Minister Dr. Drimmel hält heute um 11 Uhr eine Pressekonferenz ab, bei der er einen persönlichen Brief Herbert von Karajans verlesen, die Hintergründe des Rücktritts aufdecken und auch ein Forderungsprogramm veröffentlichen will, das ihm Karajan übergeben habe.
Dieses Forderungsprogramm soll u. a. drei Punkte enthalten, die Karajan erfüllt sehen wollte:
1./ Entlohnung des technischen Personals der Staatsoper nach einem eigenen Schema;
2./ Gewährung eines ihm genehmen Generalsekretärs und
3./ Loslösung der Staatsoper aus dem Verband der Bundestheaterverwaltung.
Herbert, von Karajan selbst, der keine vertragliche Bindung an die Wiener Oper besaß und deshalb seinen Exodus so plötzlich vollziehen konnte, befindet sich derzeit in der Schweiz und reist am Wochenende nach Berlin.
Der Intendant der Deutschen Oper Berlin, Gustav Rudolf Sellner, hat, wie EXPRESS erfährt, Herbert von Karajan telegrafisch sein Haus zur Verfügung gestellt: er könne in Berlin dirigieren und inszenieren, sooft, wann und wie er immer nur wolle
Die Salzburger Festspiele haben ihrer Hoffnung Ausdruck gegeben, daß Karajans Ausscheiden aus der Oper keinerlei Nachwirkungen auf die Festspiele haben werde.
K.L.
Kopf oder Adler
Was wollen Sie denn? Sie waren doch immer gegen Karajan! Und jetzt machen Sie uns Vorwürfe, daß wir ihn gehen ließen?" Das sagte mir gestern ein hoher Beamter des Unterrichtsministeriums.
Darauf konnte ich nur erwidern: Es handelt sich nicht darum, ob man für oder gegen Karajans Operndirektion war. Es handelt sich jetzt ganz allein um das Spiel, das hinter den Kulissen gespielt wurde, und seine Folgen.
Um es zu wiederholen: Hätte man Karajans Tätigkeit und Forderungen seitens der zuständigen Behörden mißbilligt und nach freiem Gedanken-austausch eine Änderung in der Operndirektion herbeigeführt – die Aufregung wäre nicht minder groß gewesen als jetzt, aber man hätte an die Ehrlichkeit der Argumente glauben können, die einen Bruch herbeigeführt haben.
Was man natürlich unterlassen hat. Ehrlichkeit Gedankenaustausch, Initiative sind hierzulande in Amtsstuben nicht sonderlich geschätzt. Man hat es mit bewährter Heimtücke gemacht. Der Vorgang ist seit gestern allgemein bekannt.
Es scheint mir nun völlig gleichgültig zu sein, ob man am Minoritenplatz Karajans Schritt gewünscht, geahnt oder erwartet hat. Es ist durchaus möglich, daß Minister Dr. Drimmel überrascht war. Wahrscheinlich aber war er es nicht. Denn die Verhandlungen, die von der Bundestheaterverwaltung hinter Karajans Rücken geführt wurden, mußten mit seinem Wissen stattgefunden haben.
Es ist nicht zuletzt eine Frage des guten Benehmens, ob man die Abwesenheit eines Direktors, der vereinbart hat, daß er die Verhandlungen mit seinem technischen Personal selbst führen möchte, dazu ausnützen darf, ihn zu übergehen.
Der Leiter der Bundestheaterverwaltung, der, wie allgemein bekannt ist, auch im Verkehr mit Künstlern der Staatstheater keineswegs die üblichen gesellschaftlichen Umgangsformen einhält, hat diese Umgangsformen auch im Verkehr mit Herbert von Karajan in jenem Augenblick verletzt, als er, teilweise auch unter dem Druck der gesellschaftlichen Opernball-Fans, den Opernchef bewußt aus den Verhandlungen ausschaltete. Damit hat er Karajan nicht nur vor seinem technischen Personal brüskiert. Und Karajan hat diese Brüskierung nicht verwunden. Er ging.
Ob er wieder zurückgeholt werden, soll? Er soll, weil man von Amts wegen leider kaum einen Mann an seine Stelle setzen wird, der imstande ist, der Wiener Staatsoper wieder ein Profil zu geben. Und weil dieser Abgang ein unwürdiger ist. Für die, die ihn gehen ließen, und für das Ansehen Österreichs, das ohnedies schon genügend ramponiert ist. Ob er wieder zurückgeholt werden kann? Wahrscheinlich, wenn man die Brüskierung wieder gutzumachen bereit ist.
Das könnte nur durch die Abberufung jenes Mannes geschehen der Karajan brüskiert hat. Da uns allen ein Künstlerkopf wichtiger ist als jener eines Beamten, ziehe man die Konsequenzen.
Karl Löbl
Samstag, 10. Februar
Kurier, Samstag, 10.2.1962
Offener Konflikt Karajan–Drimmel
Der Dirigent greift den Minister an
Wien (Eigenbericht). Die durch den Rücktritt Karajans als künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper heraufbeschworene Krise hat sich weiter verschärft. Herbert von Karajan hat die umfassenden und rückhaltlosen Ausführungen des Unterrichtsministers über die beiden Wurzeln des Konflikts - den raschen Abschluß eines Kompromisses mit dem technischen Personal der Bundgestheater und die Frage, ob und wie weit die Wiener Staatsoper aus ihrer bisherigen Tradition gelöst und einem internationalen Verband von etwa fünf großen Opernhäusern eingefügt werden solle und könne – in einem Telegramm als „unrichtig" zurückgewiesen.
„Karajans Platz ist leer – aber nicht, weil wir das gewollt haben. Und solange dieser Platz leer ist, steht er auch jederzeit für Karajan offen – vorausgesetzt, daß es ein gemeinsames Konzept der Zusammenarbeit gibt, das sich mit dem Leitbild der Wiener Staatsoper vereinbaren läßt", sagte Dr. Drimmel.
Gerade weil man die Möglichkeit einer gütlichen Einigung offenhalten wolle, sei Prof. Salmhofer einstweilen zum Leiter der Oper bestellt worden, ein Mann, dessen Gesundheit Betrauung auf Dauer ausschließe. Dr. Drimmel suchte nachzuweisen, daß Karajan weder übergangen noch in seinen Kompetenzen beschnitten worden sei, und stellte fest: „Ich werde mich bis zur letzten Möglichkeit dafür einsetzen, den Künstler Herbert von Karajan für Österreich zu erhalten." Die Oper müsse aber endlich den Direktor erhalten, der seit fünf Jahren fehle. Hier gehe es um ein österreichisches Anliegen, nicht um einzelne Personen. (Ausführlicher Bericht Seite 7.)
Die gestrige Pressekonferenz des Unterrichtsministers
Karajans Platz ist frei - auch für Karajan selbst
Kompetenzenfrage war nur Anlaß, nicht Grund zum Rücktritt / Der Opernchef wollte die Staatsoper weitgehend emanzipieren
Unterrichtsminister Dr. Drimmel begann seine gestrige Pressekonferenz mit der Feststellung, daß die Kompetenzenfrage, die Tatsache also, daß Karajan zu den letzten Verhandlungen zur Beilegung des Konfliktes mit den Bühnenarbeitern nicht hinzugezogen wurde, nicht der Grund für seinen plötzlichen Rücktritt gewesen sein könne. Höchstens der Anlaß dafür, ein seit längerem schwelendes Mißbehagen an den Zuständen in Österreich zum Ausbruch zu bringen. Den eigentlichen Ausschlag dürfte die ministerielle Ablehnung eines Projekts gegeben haben, mit dem sich Karajan befaßte: eine Verbindung nämlich der führenden Operntheater der Welt, etwa von Berlin, Mailand, London, New York und Wien. Dazu hätte es einer weitgehenden Lösung vom bisherigen Leitbild der Wiener Staatsoper bedurft, zu der sich der Minister nicht bereit findet.
Dr. Drimmel, der äußerst maßvoll und souverän zu den Ereignissen Stellung bezog, erkannte zwar an, daß Karajans Plan eine geeignete Maßnahme zur Wahrung des internationalen Prestiges der Wiener Oper und zum Schutz gegen Mittelmäßigkeit sein könnte, sah aber darin eine zu große Gefahr für den geistigen Wurzelboden des Instituts: für die Musik Wiens und Österreichs.
Im übrigen hätte er, Dr. Drimmel, Karajan bei seinen künstlerischen Konzepten jede Freiheit gewährt. Dieselbe Freiheit würde auch dem neuen Leiter des Hauses angeboten, wer immer es sei. Dr. Drimmel schloß die Möglichkeit nicht aus, daß dieser vielleicht doch wieder Herbert von Karajan heißen könne: Karajans Platz ist nicht leer weil wir das gewollt haben. Der Platz ist frei, also auch für Karajan selbst.
Zur Frage des Nachfolgers fiel kein einziger Name (außer der von Hofrat Salmhofer, der die interimistische Leitung mit dem Hinweis auf seinen schlechten Gesundheitszustand abgelehnt hat). Dr. Drimmel ist jedoch entschlossen, den Schwebezustand sobald wie möglich zu beenden. Bevorzugt wird wahrscheinlich ein Mann, der – im Gegensatz zu Karajan – auch bereit ist, die vollen Funktionen eines Direktors zu übernehmen, „eines Direktors, den es fünf Jahre lang nicht gegeben hat". Sache des neuen Direktors – falls es nicht Karajan selbst ist, der natürlich auch zu den alten Bedingungen wiederkehren könnte – wird es sein, ein Verhältnis mit dem Dirigenten Karajan zu finden. Der Minister betonte, daß er nicht zum ersten Mal einen solchen Vorfall erlebe und erinnerte an Karl Böhm, der zweimal die Leitung der Staatsoper niedergelegt und doch dem Hause stets treu geblieben sei.
Dem Menschen Karajan widmete Minister Drimmel eine längere und in sehr warmen Worten gehaltene Rede. Der Affront der plötzlichen Abreise nach der durch einen Boten bewerkstelligten Übergabe des Demissionsschreibens wurde kaum berührt. Drimmel betonte, er habe in seiner Laufbahn gelernt, allzu menschliche Äußerungen der „Zierden des österreichischen Kulturlebens" zu vergessen, sobald diese die Tür seines Zimmers hinter sich zumachten. Karajan habe allerdings – das wurde doch erwähnt – vor kurzem die Verleihung der höchsten österreichischen Auszeichnung, das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, das er mit Bruno Walter geteilt haben wurde, abgelehnt
Zur leidigen Frage des Bühnenarbeiterkonflikts, der nun schon seit März vergangenen Jahres anhängig ist, stellte Dr. Drimmel fest, das Unterrichtsministerium habe – entgegen anderslautender Vermutungen – die Mittel zur Deckung dieser Forderungen (Anrechnung von Vordienstzeiten, Fünftagewoche, Neufestlegung von Nebengebühren, Abgeltung der Überstunden) bei den BudgetverhandIungen verlangt. Es handelt sich um 12 bis 15 Millionen. Sie wurden nicht bewilligt. Darauf folgte schließlich die Verweigerung von Überstundenleistungen und die Verhandlungen über die in letzter Zeit ausführlich berichtet worden ist.
Dr. Drimmel erläuterte sodann Punkt für Punkt unter Angabe von Datum und Uhrzeit die Vorgänge seit dem 30. Jänner, als mit einer Urabstimmung der nunmehr angenommene Kompromißvorschlag vom technischen Personal abgelehnt wurde. Er stellte auch klar, daß es selbst Herbert von Karajan nicht möglich gewesen wäre, für die Arbeiter der Oper eine Sonderlösung zu erreichen, denn es habe generell für alle Staatstheater verhandelt werden müssen. Die letzten Reaktionen des Opernpersonals seien zwar verständlich, doch sei das Geltendmachen des Streikrechts nur bei Lohn- und Gehaltsfragen akzeptabel, zur Lösung künstlerischer Krisen jedoch ungesetzlich.
Im Laufe der Konferenz stellte sich ferner heraus, daß die Operndirektion über den Abschluß des letzten Abkommens mit dem Bühnenpersonal zum gleichen Zeitpunkt unterrichtet worden ist wie der Finanzminister und der Bundeskanzler. Anderseits wurde klargestellt, daß Karajan durchaus nicht auf Teilnahme an allen vorhergegangenen Lohnverhandlungen bestanden hat.
Und hierauf gab es keine Antwort
Bei aller Ausführlichkeit, mit der bei dem gestrigen Frage-und-Antwort-Spiel der Fall Karajan behandelt wurde, blieben einige Antworten dennoch aus.
Nämlich jene auf die Frage, ob es nicht doch möglich gewesen wäre, sei es durch ein Telephongespräch oder die sofortige Beorderung Karajans nach Wien, auch ein Einverständnis mit dem Künstlerischen Leiter der Staatsoper bezüglich der zwischen der Bundestheaterverwaltung und den Betriebsräten des technischen Personals ad hoc getroffenen Einigung über die Überstundenregelung herbeizuführen.
Die zweite, unbeantwortet gebliebene Frage: Hat man überhaupt versucht, einen Kompromiß mit Karajan zu finden? Wäre es nicht möglich gewesen, da man ja im Ministerium die impulsive Art Karajans kennt, seine Demission vorläufig nicht anzunehmen?
Und drittens blieb die Frage ungeklärt, ob in der Bundestheaterverwaltung die Vorsprache Direktor Mosers, der im Auftrag Karajans seinem Befremden darüber Ausdruck gab, daß man über den Kopf der Staatsoper hinweg eine Regelung mit den Bühnenarbeitern suche, nicht zu sehr bagatellisiert worden sei?
Eine weitere Frage, die aber nicht auf das Konto des Unterrichtsministers geht, sondern auf das Karajans, ist jene, welche Pläne er tatsächlich für die Zukunft der Oper im Auge hatte, wieweit er das Reich Karajan zu einem Weltreich’ ausbauen wollte, wieweit überhaupt seiner weiteren persönlichen Karriere die Tätigkeit in Wien im Wege stand.
Aber alle diese Fragen werden Leider von der Tatsache aufgehoben, daß Karajan wissentlich oder unabsichtlich über die Vorgänge rund um seine Demission falsch unterrichtet wurde und wird.
EXPRESS, Samstag, 10.2.1962
Karajan-Drimmel: Jetzt offener Krieg!
Der Konflikt, den der Rücktritt Herbert von Karajans als künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper heraufbeschworen hat, ist nunmehr wohl auf seinem Höhepunkt angelangt. Die Situation ist leider nur noch als offener Krieg zwischen Unterrichtsminister Dr. Drimmel und seinem ehemaligen Opernchef zu bezeichnen.
Dr. Drimmel hielt gestern Vormittag eine Pressekonferenz ab, bei der zwar ein Bedauern über Karajans Entschluß zum Ausdruck brachte, gleichzeitig aber mehrere Punkte anführte, die seiner Meinung nach den Bruch zwischen Karajan und der Wiener Oper unvermeidlich gemacht haben.
Die „Verschuldensfrage", die von en anwesenden Journalisten zu klären versucht wurde, blieb letztlich doch ungeklärt.
In den Abendstunden wurde eine Erklärung Karajans veröffentlicht. Der Dirigent, derzeit unbekannten Aufenthalts, bezeichnet darin die Darstellung, die Dr. Drimmel gegeben hat, als in allen Punkten unrichtig. Die Erklärung ist mit einem entschiedenen Protest verbunden.
Das künstlerische und technische Personal der Wiener Staatsoper führte gestern neuerlich einen fünfstündigen Warnstreik durch. Gleichzeitig gingen Resolutionen des Opernorchesters und der Gesellschaft der Musikfreunde, deren Konzertdirektor Karajan ist, an Minister Dr. Drimmel ab.
Zusätzlich zum Opernkonftikt, aber möglicherweise in ursächlichem Zusammenhang mit diesem, stellte sich gestern heraus, daß Festwochen-Intendant Dr. Hilbert wegen einer Reihe von Forderungen mit Kulturstadtrat Mandl Meinungsverschiedenheiten hat, die vielleicht zu einer Demission Dr.Hilberts (der EXPRESS gegenüber jede Stellungnahme ablehnte) führen könnten.
Einen ausführlichen Bericht über die gestrigen Ereignisse finden Sie auf Seite 5.
Offener Krieg Drimmel-Karajan Meinungen prallen aufeinander
Während gestern Vormittag das technische und künstlerische Personal der Wiener Staatsoper neuerlich einen fünfstündigen Warnstreik ab hielt, während Opernorchester und Gesellschaft der Musikfreunde Resolutionen verfaßten, während sich das Nervenfieber innerhalb der Staatsoper weiter verschlimmerte, während die Bundestheaterverwaltung verzweifelte Versuche unternimmt, drohende Demonstrationen der Künstler und des Publikums in möglichst kleinem Raum zu halten, während vor Beginn der gestrigen Aufführung von Wagners Der fliegende Holländer neuerlich mit Zwischenrufen und demonstrativem Beifall die Rückkehr Karajans gefordert wurde, während man noch immer einen interimistischen Leiter für die Oper sucht – während all dieser Ereignisse, die sich über den ganzen gestrigen Tag verteilten, hat sich der Konflikt zwischen dem ausgeschiedenen künstlerischen Leiter der Staatsoper, Herbert von. Karajan, und seinem Ressortminister, Dr. Heinrich Drimmel, weiter verschärft.
Ohne Prognosen stellen zu wollen, muß man bei nüchterner Betrachtung der Vorfälle leider zu dem Ergebnis kommen, daß dieser Konflikt, der zu einem offenen Krieg ausartet, bei der jetzigen Konstellation irreparabel sein dürfte...
Gestern Vormittag hielt Minister Dr. Drimmel seine angekündigte Pressekonferenz ab. Zu Beginn verlas er die nachstehende Erklärung:
Kompetenzen gewahrt
„Der unmittelbare Anlaß für den Rücktritt, den Sie kennen, ist nicht der tiefste Grund dieses Ereignisses. Würde man den Komptenzbestand von Rechts wegen untersuchen, dann würde die Bundestheaterverwaltung recht bekommen. Vertrag und Dienstinstruktion sind nicht verletzt worden.
Der Streit geht aber um ein tieferes Problem: Herr von Karajan lehnte die Struktur der Bundestheater ab. Was er wollte, war die Emanzipierung der Staatsoper. Diese Emanzipierung hat Karajan nicht einfach aus Prestigegründen oder aus reinem Machtstreben gewollt.
So, wie er und Ernst Marboe – der einmal mein Freund gewesen ist – im Jahre 1956 das Dreierkombinat Wien - Mailand - Salzburg geplant und zum Teil in die Tat umgesetzt haben, so wollte Herbert von Karajan ein halbes Jahrzehnt später das Netz dieses Kombinates weiter und auf einer noch höheren Ebene spannen: Als eine Verbindung der vier oder fünf bedeutendsten Opernhäuser in Europa, England und USA. Herbert von Karajan erwartete sich davon die Wahrung des einzigartigen Prestiges der Wiener Staatsoper, den Schutz vor der Mittelmäßigkeit.
Herr von Karajan hat es stets abgelehnt, Direktor zu sein. Als künstlerischer Leiter hatte er den Anspruch auf die ganze Freiheit des künstlerischen Schaffens, und diese Freiheit habe ich ihm gewährt – gleichgültig, ob es den Feinden des Meisters gepaßt hat oder nicht.
Damals riefen sie die Bürokratie zu Hilfe, um ihren Heckenschützenkrieg gegen Karajan zu führen –heute gebrauchen sie dieselbe Bürokratie, als Sündenbock für das Ergebnis ihrer Zermürbungstaktik, die sie an Karajan geübt haben.
Um der jahrelangen, konsequenten Kritik gerecht zu werden, hätte man den Künstler Karajan in zwei Elemente aufteilen müssen: In den Operndirigenten, den man ja haben wollte, und in den Leiter und Regisseur, der oft der Kritik ausgesetzt war und den man oft ablehnte.
Ich habe den Menschen Karajan – so wie er war – mit allen Vorzügen und Mängeln bejaht und als einen großen Besitz des Landes geachtet. Er hat für alles einen köstlichen Preis gezahlt: Die Triumphe der Opernkunst, die unwiederholbar sind und unvergessen.
Ich sage heute wie stets zuvor: Volle Freiheit des künstlerischen Schaffens für den künstlerischen Leiter der Staatsoper. Für jeden, auch für Karajan, wenn er zurückkäme. Emanzipierung der Staatsoper für eine völlig neue Existenz, etwa in einer weltweiten Konstellation – nein. Nein, weil diese Konstellation kein Unterrichtsminister der Republik Österreich bejahen dürfte. Keinem Minister und keiner Regierung stünde es zu, aus der Wiener Staatsoper das Glied eines weltweiten Kombinates zu machen. Hier sind wir an einer äußersten Existenzfrage angelangt. Es geht um die Frage des geistigen Wurzelbodens der Staatsoper, und der ist Wien, Österreich und eine Musikalität, die hier zu Hause ist und den Schwerpunkt hat.
Und nun eine nüchterne Überlegung: Was das Haus nach einer stürmischen Entwicklung zu steiler Höhe braucht, ist der Direktor, den es seit 1955 nicht mehr gegeben hat. Diesen Direktor gilt es zu suchen. Und ich werde es zu vermeiden trachten, daß dafür, so wie im Jahre 1956, viele Monate verstreichen und ein Jahr ohne Direktion eingeschaltet wird, das dem Haus nicht gut bekommen würde. Daher keine Diadochenkämpfe, keine kaiserlose, schreckliche Zeit. Ein neuer Direktor würde ein neues Verhältnis zu Karajan suchen und finden müssen.
Ich denke oft an Karl Böhm. Zweimal mußte er die Direktion abgeben, aber die Direktion und ihr Prestige zählten ihm nicht halb so viel wie das Haus, dem er immer wieder der treue Sohn geblieben ist. Als ich ihn als Direktor verabschiedete, habe ich ihn als Freund fürs Leben gewonnen.
Karajan schied von mir nicht im Groll – hier sein Brief, der seiner würdig ist.
Ich grüße in dieser Stunde den großen Einsamen – der er auch hier inmitten rauschender Erfolge gewesen ist – und gestatte auch in dieser Stunde keiner niedrigen Verdächtigung, daß sie sich zwischen uns dränge.
Was Herbert von Karajan nach Wien rufen und bringen könnte, das ist kein ministerliches Wort – ich habe es ihm oft in schweren Krisen gegeben und gehalten. Es wäre ein Auftrag, eine Herausforderung für eine neue Idee. Ich weiß nicht, ob Herbert von Karajan einen solchen Ruf verspürt. Sein Platz ist leer. Nicht, weil wir es gewollt haben. Solange dieser Platz leer ist, ist er auch für Herbert von Karajan leer."
In der anschließenden Diskussion, durch Fragen der anwesenden Journalisten zu größerer Deutlichkeit herausgefordert, fielen auch unfreundliche Worte gegen Karajan.
Die nahm Herbert von Karajan zum Anlaß, um seinerseits ebenfalls eine Erklärung abzugeben. Wir haben sie jener von Minister Drimmel gegenübergestellt.
Karajan sagt dazu
Unwahr
Im Auftrag Herbert von Karajans wurde gestern in Wien folgende Erklärung abgegeben:
Herbert von Karajan hat erklärt, daß er die Ausführungen des Herrn Bundesministers für Unterricht auf der heutigen Pressekonferenz, insbesondere die Darstellung seines Verhältnisses zur Wiener Oper und Österreich, als in allen Punkten unrichtig zurückweise und dagegen entschieden protestiere. Karajan behalte sich das Recht vor, zu allen diesen Punkten in kürzester Zeit Stellung zu nehmen.
Herbert von Karajan erklärt ferner, wenn der Herr Bundesminister glaube, die Fehler, die zu seiner Demission geführt haben, dadurch gutzumachen, daß er versuche, die Person des künstlerischen Leiters und sein Verhältnis zur Wiener Oper und zu Österreich durch unrichtige Bemerkungen herabzusetzen, so erscheine es zumindest zweifelhaft, ob dadurch die Anbahnung einer möglichen Verständigung gefördert werde.
Herbert von Karajan hat das Gesamtpersonal der Wiener Staatsoper, mit dem er sich nach wie vor auf das innigste verbunden fühlt, gebeten, alles zu tun, damit der künstlerische Betrieb in reibungsloser Weise, über alle persönlichen Interessen hinweg, uneingeschränkt weiterläuft.
Und das waren die wichtigsten Punkte, die in der Pressekonferenz des Unterrichtsministers zur Sprache kamen:
Karajan hat – nach der ersten Urabstimmung des technischen Personals – von Minister Dr. Drimmel verlangt, daß er die Verhandlungen für das und mit seinem technischen Personal selbst führen dürfe, ferner eine Neubesetzung des Generalsekretär-Postens und eine selbständige Bewirtschaftung der Staatsoper. Nach Scheitern der Verhandlungen verließ Karajan Wien.
Am 1. Februar teilte der Leiter der Bundestheaterverwaltung dem Minister mit, die Gewerkschaft wolle nun neuerlich verhandeln. Dr. Drimmel gab den Auftrag, diese Verhandlungen seien sofort aufzunehmen.
Nachdem man bereits zwei Tage verhandelt hatte, wurde Karajans mit allen Vollmachten versehener Vertreter, Albert Moser, vom Ergebnis der Besprechungen verständigst. Inzwischen waren seit Verhandlungsbeginn 36 Stunden vergangen.
DRIMMEL: „Karajan war offenbar nicht erreichbar."
FRAGE: „Aber Direktor Moser wußte doch, wo er zu erreichen ist. Warum hat man ihn nicht früher verständigt?"
DRIMMEL: „Karajans Platzhalter in Wien wurde nicht schlechter behandelt als der Kanzler und der Finanzminister, die auch erst von dem Ergebnis der Verhandlungen erfuhren."
FRAGE: „Hat Karajan gewußt, daß Sie einer Sonderbehandlung des technischen Personals der Staatsoper nicht zustimmen können?"
DRIMMEL: „Ja. Aber ich habe gesagt, wir könnten, wenn nötig, eine Berufungsabwehr flüssig machen – wenn Spitzenkönner der Technik ins Ausland abzuwandern drohen. Eine generelle kollektivvertragliche Sonderstellung habe ich niemals zugesagt. Außerdem hatte Karajan ,plein pouvoir’ in künstlerischen Dingen, aber nicht bei solchen Fragen. Die fallen in die ausschließliche Kompetenz der Bundestheaterverwaltung."
Ferner erklärte Minister Drimmel, daß in der Direktion der Staatsoper endlich wieder geordnete Verhältnisse hergestellt und die notwendige Disziplin eingeführt werden müßten. Der Grund für die Demission Karajans, der im Jänner die Verleihung des Ehrenzeichens für Kunst und Wissenschaft abgelehnt habe, sei ungeklärt; es könne dies weder der verhinderte Einsatz für das technische Personal sein, noch die Bundestheaterverwaltung, vor deren Leiter er sich als Ressortminister
schützend stelle. Eher vielleicht eine Verstimmung über die Schwierigkeiten, die man in der Öffentlichkeit vor ihm aufgetürmt habe.
Minister Dr. Drimmel betonte, Karajan sei ihm stets willkommen, wenn er in das alte Verhältnis zurückkehre. Eine Rückkehr sei nur auf der alten Basis möglich.
K.L.
Letzte Meldung: Betriebsrat bei Drimmel
Mitteilung an das Opernpersonal
In den gestrigen Nachtstunden wurde EXPRESS folgende Mitteilung an das gesamte Personal der Wiener Staatsoper bekannt:
Der zurückgetretene künstlerische Leiter der Wiener Staatsoper hat eine erste kurze, grundsätzliche Erklärung auf Grund der Pressekonferenz des Herrn Ministers abgegeben, deren Inhalt sich auch an das Personal unserer Oper wendet.
Unser Chef hat uns – wie wir es kaum anders von ihm erwarten konnten – aufgefordert, keinen persönlichen Interessen irgendwelchen Raum bei der Festlegung unserer Handlungsweise zu lassen.
Wir haben Herrn von Karajan wissen lassen, daß alle bisherigen Aktionen von unserem künstlerischen und menschlichen Gewissensentscheid abgeleitet waren und sind und daß diese Aktionen ausschließlich dem Wohl der Wiener Staatsoper, der geschichtlich und künstlerischen Verpflichtung dieses Hauses, seinem Personal und natürlich auch Herbert von Karajan, der unlösbar mit dieser Oper verbunden ist, gelten und gelten werden.
Unsere Auffassung unterscheidet sich von der des Orchesters offenbar dadurch, daß wir die Situation für so schwer halten, daß uns das Verantwortungsbewußtsein gebietet, über Erklärungen hinaus auch durch Taten überzeugend zu dokumentieren, daß wir Erklärungen, die heutzutage allzu oft abgegeben werden, erfahrungsgemäß für zu wirkungsschwach halten.
Wir können unseren Kollegen heute mitteilen, daß wir es dem persönlichen Vermittlungseinfluß des Herrn Präsidenten Franz Olah besonders zu danken haben, daß, der Herr Bundesminister für Unterricht Dr. Heinrich Drimmel, im Anschluß an unsere erste Loyalitätskundgebung und nach Kenntnisnahme des ihm von uns übermittelten Schreibens, eine Abordnung des Betriebsrats am Montag, um 14.00 Uhr, zu einer Aussprache empfangen wird.
Wir werden, um die Begegnung mit dem Herrn Minister nicht zu belasten, und dem in derartigen Situationen üblichen Gepflogenheiten folgend, bis zum Ausgang dieser Aussprache weitere Protestaktionen zurückstellen.
Der Betriebsrat des künstlerischen und technischen Personals der
Wiener Staatsoper
Diese Mitteilung wird heute dem gesamten Personal der Wiener Staatsoper zur Kenntnis gebracht werden. Es sind daher bis Montag Nachmittag keine weiteren Aktionen am Ring zu erwarten.
Opernorchester und Musikverein
Resolutionen für Karajan
Das Orchester der Wiener Staatsoper stellte gestern in einer Resolution fest, es wisse sich mit dem überwiegenden Teil der kunstverständigen Bevölkerung einig in dem Wunsch, daß Herbert von Karajan auch weiterhin dem Institut als künstlerischer Leiter erhalten bleibe. Das Opernorchester appelliert an den guten Willen aller Beteiligten, etwa aufgetretene Mißverständnisse hintanzustellen, betont aber, daß es Streikmaßnahmen und Arbeitsniederlegungen entschieden ablehne.
Die Gesellschaft der Musikfreunde, die Karajan auf Lebenszeit zum Konzertdirektor gewählt hat, richtete gestern an Minister Dr. Drimmel einen längeren Brief mit der Bitte, es möge alles unternommen werden, um die Ära Karajan in der Oper zu verlängern
Dienstag, 13. Februar
EXPRESS, Dienstag, 13.2.1962
KARAJAN SCHLÄGT ZURÜCK
Herbert von Karajan gab dem EXPRESS als einziger österreichischer Zeitung ein Sonder-Interview über den Wiener Opernstreit
Der zurückgetretene künstlerische Leiter der Staatsoper gewährte EXPRESS-Redakteur Karl Löbl Sonntag Abend in Zürich als einzigem österreichischen Journalisten ein Interview. Es mag dazu beitragen, endlich Klarheit zu bringen.
von Karl Löbl
„Ich bin aus zwei Gründen zurückgetreten: weil sowohl ich als auch mein bevollmächtigter Vertreter entgegen allen vorherigen Abmachungen, von der Bundestheaterverwaltung bei den entscheidenden Verhandlungen mit dem technischen Personal übergangen wurden. Und weil die neue, von der Bundestheaterverwaltung ausgehandelte Einigung für jede weitere Planung indiskutabel und daher für den Betrieb unannehmbar ist!"
Diese Feststellung traf Herbert von Karajan am Sonntagabend im Hotel Baur au Lac in Zürich, wohin er sich zum Umsteigen begeben hatte. Trotz ärztlichen Protestes beendete er seinen Urlaub („Ich kann Sie beruhigen, ich war sogar in Österreich") und reiste nach Berlin ab, wo er dieser Tage Konzerte des Berliner Philharmonischen Orchesters zu leiten hat. Vor seiner Abreis gewährte er mir und meinem deutschen Kollegen Dr. Panofsky von der Münchener „Süddeutschen Zeitung" ein dreistündiges Interview, um, wie wir wünschten, endlich einmal all das klar auszusprechen, was ausgesprochen werden muß. Denn es schien mir nötig, nach den ausführlichen Darlegungen von Unterrichtsminister Dr. Drimmel auch jenen Mann zu befragen, der noch vor einer Woche in Wien einen Optimismus gezeigt hatte, der allerdings nicht echt war: Ich wollte auch Karajans eigene Darstellung hören.
Der Schuldige
Nach dem, was ich gehört und zum Teil auch schon gewußt habe, ist nun die Verschuldensfrage, die nach der Pressekonferenz des Unterrichtsministers noch ungeklärt zu sein schien, klar zu beantworten: Die Schuld an den unerfreulichen Ereignissen der letzten Tage trifft den Leiter der Bundestheaterverwaltung, Ministerialrat Dr. Karl Haertl.
Kritik im Recht
An dieser Stelle wurde in letzter Zeit immer wieder die Tätigkeit dieses Beamten und seiner bürokratischen Maschinerie, von der man bisher immer nur gesehen hatte, wie sie den Betrieb hemmt, einer heftigen Kritik unterzogen. Einer Kritik, die, wie sich jetzt zeigt, vollkommen berechtigt war.
Doch ich möchte nicht vorgreifen. Auf Seite 5 finden Sie eine sorgfältige Rekonstruktion jener Ereignisse, die zu Karajans Rücktritt geführt haben, und das Interview mit dem Dirigenten.
Es ist nötig zuerst einmal die ganze Geschichte und Vorgeschichte des „Falles Karajan" nochmals zu erzählen. Nur dann scheint mir das, was sich in den letzten Tagen ereignet hat, verständlich zu sein:
März 1961 : Die ersten Anzeichen einer Unzufriedenheit beim technischen Personal machen sich bemerkbar.
Juni 1961: Das während der Festwochen anfallende Überstundenquantum, durch die Turandot-Proben besonders angewachsen, verursacht den ersten Konflikt. Die Premiere kann gerade noch stattfinden, weil man dem Personal eine Regelung bis zum Herbst zusagt.
KARAJAN: Es wurde damals ein verbindliches Abkommen mit der Bundestheaterverwaltung abgesprochen, daß bis Herbst eine Klärung stattfinden muß. Allerdings lag das Gutachten, das Doktor Haertl vom Österreichischen Gewerkschaftsbund verlangt hat, bis September immer noch nicht vor.
September 1961: Immer noch keine Einigung mit dem technischen Personal. Erste Kampfmaßnahme: Proben für Siegfried und Götterdämmerung wurden verweigert, die Aufführung des Ring-Zyklus mußte abgebrochen werden.
KARAJAN: Ich habe von diesem Augenblick an alle meine Ideen zurückgestellt, damit es nicht zum Ärgsten kommt. Ich hätte ja auch sagen können: Herr Minister, wenn Sie meine Funktionen wieder auszunutzen imstande sind, komme ich wieder. Bis dahin bin ich hier unnütz. Denn die Voraussetzungen für die künstlerische Leitung waren von da an nicht mehr gegeben. Meine Erkenntnis, daß die Struktur unseres Opernbetriebes geändert werden müsse, ist schon zwei Jahre alt. Konnte ich sie unter solchen Umständen realisieren?
Jänner 1962: Trotz allen Schwierigkeiten findet die Premiere von Pelleas und Melisande statt.
KARAJAN: Einer der Betriebsräte des technischen Personals sagte damals: „Diese Schlacht haben wir nur Ihnen zuliebe geschlagen!" Man wollte mir nochmals zeigen, wie leistungsfähig unser Personal sein kann!
30. Jänner: Der In den vorhergegangenen fünf Tagen ausgehandelte Lösungsvorschlag der die bekannte zahlenmäßige Festlegung der Überstunden enthielt, wird einer Vollversammlung des technischen Personals aller Bundestheater zur Urabstimmung vorgelegt und verworfen. Um 11 Uhr erscheint Unterrichtsminister Dr. Drimmel in der Operndirektion und hat mit Karajan eine zweistündige Unterredung.
KARAJAN: Minister Drimmel hat mich an diesem Vormittag, nachdem das Abstimmungsergebnis bekannt war, gebeten, ich möge doch nun einmal selbst klären, worin die Schwierigkeiten beim technischen Personal der Staatsoper lägen, und auch selbst eine akzeptable Lösung finden.
FRAGE: Wußte Minister Drimmel, daß Sie Wien am nächsten Tag verlassen würden?
KARAJAN: Ich sagte damals: „Lassen Sie mir bitte Zeit, bis ich zurückkomme (Mitte Februar Anm. d. Red.), und ich werde mir inzwischen gemeinsam mit meinen Herren (der Direktion - Anm. d. Red.) überlegen, was getan werden soll." Ich habe damals keinen Zweifel daran gelassen, daß es keinen Sinn habe, auf der alten Basis weiterzuverhandeln, solange die ersten Erkundungen der wahren Wunsche des technischen Personals stattfinden. ]ich erklärte: Wenn ich zurückkomme und das Resultat meiner Herren habe, muß ich sehen, daß eine Lösung gefunden werden kann, die allen Teilen gerecht wird.
FRAGE: Minister Drimmel sagte aber bei seiner Pressekonferenz, Sie könnten für das technische Personal der Staatsoper nicht mehr haben als Direktor Häusserman und Direktor Salmhofer für ihre Theater!
KARAJAN: Ich habe damals dem Minister zu erklären versucht, daß man mit der Pauschalbearbeitung der Forderungen einen entscheidenden Fehler gemacht habe. Erstens sind die Arbeitsleistungen nicht die gleichen, unsere Leute sind viel mehr beansprucht und in manchen Fällen hochqualifizierte Künstler. Zweitens war das Opernpersonal unzufrieden, weil die Techniker der Volksoper und des Burgtheaters in den Genuß der gleichen Begünstigung kommen sollten, ohne bei der Vertretung ihrer Forderungen einen besonderen Nachdruck gezeigt zu haben. Und drittens sind bei uns auch Chor, Ballett und Orchester besser bezahlt als etwa in der Volksoper – warum dann nicht auch die Technik?
31. Jänner: Aussprache Karajans (im Alleingang) mit dem technischen Personal: Er verspricht, wie tags zuvor vom Minister gewünscht, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Am Abend reist Karajan ab.
KARAJAN: Die eigentlichen Wünsche waren bis dahin gar nicht klar erkannt worden. Ich beauftragte die Herren Moser, Hager, Felkel und Rotter, mit den Leuten zu reden und zu erkunden, wie der Betrieb am besten reformiert werden könne und zwar so, daß bei gesicherter Arbeitsleistung die maximale künstlerische Kapazität zu erzielen sei, was wahrscheinlich ohne Schichtsystem nicht möglich sein wird. Ich wurde über alle Ergebnisse dieser Beratungen auf dem laufenden gehalten auch im Urlaub, weil ich das eigens verlangt hatte.
FRAGE: War der Leiter der Bundestheaterverwaltung darüber informiert worden, daß Minister Drimmel den Wunsch geäußert hatte, Sie mögen in den Konflikt mit dem technischen Personal selbst eingreifen?
KARAJAN: Selbstverständlich. Ich habe Dr. Haertl persönlich über diesen Wunsch des Ministers am Telefon informiert!"
FRAGE: Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Ist ein Irrtum ausgeschlossen?
KARAJAN: Ich wiederhole: Ich habe selbst Dr. Haertl mitgeteilt, es sei der Wunsch des Ministers, daß ich die Sache in die Hand nehme."
In den nächsten Tage überstürzten sich die Ereignisse. Ich muß sie hier, um alle Details beleuchten zu können, nach Karajans Darstellung nochmals kurz aufzählen:
Haertl war informiert
Es existiert über diese Tage ein Gedächtnisprotokoll. Dem ist zu entnehmen, daß bereits am Tag nach Karajans Abreise, also am 1. Februar, die ersten Gerüchte über Besuche der Gewerkschaftsvertreter in der Bundestheaterverwaltung den Herren der Operndirektion zu Ohren kamen. Diese Gerüchte verstärkten sich am folgenden Tag.
3. Februar : Direktor Moser soll um 9.30 Uhr bei Dr. Haertl erscheinen. Dieser Termin wird knapp vorher auf unbestimmte Zeit verschoben. (Um diese Zeit empfing Dr. Haertl die Gewerkschaftsvertreter.) Um 11 Uhr hat Direktor Moser noch immer keine Nachricht, wann er in der Bundestheaterverwaltung erscheinen soll. Um 14 Uhr immer noch nicht.
Daraufhin versucht Direktor Moser, einen Herrn der Bundestheaterverwaltung zu erreichen. Er erreicht Dr. Reif-Gintl daheim und teilt ihm mit, daß er gerüchteweise von neuerlichen Verhandlungen gehört habe. Doktor Reif-Gintl bestätigt den Abschluß der Verhandlungen unter Ausschluß der Direktionen nach Übereinkunft mit der Gewerkschaft. Direktor Moser erhebt sofort am Telefon formellen Protest. Dr. Reif-Gintl erklärt, man könne doch nicht annehmen, daß die Bundestheaterverwaltung schlechtere Verhandlungsergebnisse erzielen würde als bisher. Er bestätigt allerdings, daß im neuen Vertrag das Überstundenlimit nicht mehr aufscheinen.
4. Februar: Direktor Moser verständigt Herbert von Karajan über die Ereignisse der letzten zwei Tage und erhält den Auftrag, die genaue Formulierung des neuen Vertragsentwurfes am Montag um 11 Uhr, bei seinem üblichen Besuchstermins in der Bundestheaterverwaltung zu besorgen. Karajan bestätigt die Richtigkeit des formellen Protestes.
5. Februar: Karajan ruft um 9 Uhr früh an und teilt mit, er werde sofort nach Wien kommen. Direktor Moser wird in der Bundestheaterverwaltung auf seinen Wunsch (!) der Text des Kollektivvertrages betreffend die Überstundenregelung verlesen. Dr. Haertl ersucht Direktor Moser um eine Stellungnahme. Direktor Moser erklärt, daß er den Text erst genauestens studieren müsse und erbittet zu diesem Zweck eine Abschrift. Diese Abschrift muß erst eigens angefertigt werden. Neuerlich um seine Meinung befragt, erklärt Direktor Moser, daß das. Fehlen des Limits Schwierigkeiten mit sich bringen würde, und daß wohl auch noch andere Punkte , einer zusätzlichen Klärung bedürfen. Dr. Haertl weist nochmals darauf hin, daß dieser Vertrag das Maximum des Erreichbaren darstelle. Um 17 Uhr trifft Herbert von Karajan, früher als vorgesehen, in Wien ein.
FRAGE Als Sie nach Wien kamen, wurden Sie also, entgegen dem Wunsch und Auftrag des Ministers, vor vollendete Tatsachen gestellt.
KARAJAN: Ja. Ich hatte noch am gleichen Abend mit Dr. Haertl eine kurze Unterredung. Er sagte mir, er könne mir das wirkliche Motiv für die Vorantreibung der Verhandlungen nennen, falls ich garantiere, daß es „nicht herauskommt": Es sei gelungen, gemeinsame Interessen mit dem Gewerkschaftsbund zu finden ... Welcher Art diese seien, erfuhr ich leider nicht, denn Dr. Haertl wollte vor den Herren meiner Direktion, die dabei waren, nicht reden. Ich erklärte, dieser neue Lösungsvorschlag sei für uns nicht akzeptabel, weil er die Limitierung der zu leistenden Überstunden zu Gunsten einer ganz vagen Formulierung aufgegeben habe, aber gleichzeitig gemäß Arbeitszeitgesetz dem Minister die Möglichkeit gäbe, trotzdem die Überstundenleistung als Verpflichtung zu erklären. Und so einen Trick lehne ich ab. Ich will nicht zu einer Körperschaft in ein dubioses Verhältnis treten, das weder vom wirtschaftlichen noch vom sozialen Standpunkt vertretbar ist.
FRAGE: Der Unterrichtsminister hat darauf verwiesen, daß Ihr Vertreter den neuerlichen Lösungsvorschlag gleichzeitig mit dem Finanzminister und dem Bundeskanzler erhalten habe.
KARAJAN: Wir sind nicht an vollendeten Tatsachen interessiert, sondern an der Entwicklung eines solchen Vertrages. Außerdem hat Herr Moser den Entwurf erst auf dringendes Ersuchen erhalten. Daß er erst abgeschrieben werden mußte, spricht auch nicht für die Gleichzeitigkeit der Übergabe. Abgesehen davon: Es handelt sich nicht um den Zeitpunkt, zu dem man eine Verständigung für angebracht hielt, sondern um den Bruch einer Vereinbarung.
FRAGE: Glauben Sie, daß Minister Drimmel von dieser Umgehung der Operndirektion wußte?
KARAJAN: Eher nein. Er behauptete mir gegenüber, Herr Moser sei bei den Verhandlungen dabeigewesen. Ich sagte, dies sei unrichtig. Minister Dr. Drimmel glaube es nicht. Als er seinen Irrtum erkannte, ließ er sich bei Herrn Moser entschuldigen. Weitere Folgen hatte diese offensichtliche Täuschung bisher nicht. Da er damals während der kritischen Tage auf dem Semmering war (bei der ÖVP-Tagung, Anm. d. Red.), muß er wohl von der Bundestheaterverwaltung falsch informiert worden sein.
Ein Kranker soll nicht tanzen
FRAGE: Glauben Sie, daß der Opernball bei der plötzlichen Beschleunigung eine Bedeutung hatte?
KARAJAN: Ich habe dem Minister gesagt, ein schwerkranker Mann gehe nicht tanzen. Und die Oper war schwerkrank. Inwieweit man den Patienten wegen des Balles durch eine Roßkur schnell heilen wollte, vermag ich nicht zu beurteilen.
FRAGE: Man hat in den letzten Jahren die Wiener Oper mehrfach als luxuriöses Durchhaus bezeichnet. Sie war weder ein Ensemble-Theater alter Prägung noch ein modernes Stagione-Theater. Sie war vielfach bloß ein Sängertheater. Sollte die von Minister Drimmel angedeutete, von Ihnen vorgesehene Planung eines weltweiten Kombinats der fünf oder sechs größten Opernhäuser aus dem Dilemma der heutigen Besetzungskoppelung und Gagenpolitik heraushelfen? Sollte dieses Kombinat ein Königreich Karajan oder eine demokratische Zusammenarbeit der großen Opernhäuser, mit einander gleichberechtigten Partnern also, sein?
KARAJAN: Ich müßte wohl ein weltfremder Narr sein, wenn ich mir damit einen weltweiten Machtbereich hätte schaffen wollen. Wer sollte denn Direktor dieses Konzerns der Opernhäuser sein? Nein, meine Planung war darauf gerichtet, mit jenen Opernhäusern, die große Gagen zu zahlen bereit sind (in Europa die Scala, in Amerika die Met, ferner Chicago und San Francisco), sowie mit zwei, drei weiteren Häusern – etwa Berlin und München – zu einer gemeinsamen Disposition über die vorhandenen Spitzensänger, die ja in allen genannten Städten singen, zu gelangen. Ich wollte weder die Sänger versklaven noch ein Kartell gründen.
FRAGE: Das Projekt ist ja gar nicht so neu. Schon vor vier oder fünf Jahren hat mir der damalige Berliner Intendant Carl Ebert alle Vorzüge eines solchen Übereinkommens auseinandergesetzt. Erstaunlich ist nur daß Minister Drimmel es so darstellt, als wollten Sie damit die Wurzeln oder, wie er es ausdrückt, den Nährboden der Wiener Opernkunst zerstören.
KARAJAN: Ich habe Dr. Drimmel am 30. Jänner zu erklären versucht, daß es in Zukunft nötig sein wird, eine künstlerische Organisation zu schaffen, der es möglich sein müßte, die Spitzensänger so auf die einzelnen Häuser zu verteilen, daß jedes Operninstitut aus der gemeinsamen Disposition den maximalen Nutzen, nämlich künstlerischen Nutzen zu ziehen imstande ist. Dadurch wäre eine weitgehende Ökonomie des Repertoirebetriebes gewährleistet. Die Wiener Oper wäre bei einer solchen Vereinbarung ja besonders bevorzugt, weil wir das größte Repertoire haben und uns nach der vorhandenen Besetzung richten könnten. Selbstverständlich würde der Wiener Spielplan nur so erstellt werden, wie er für Wien geeignet ist.
FRAGE: Somit deckt sich dieser Plan mit jenem, den Sie mir vor einer Woche in Wien erklärt haben?
KARAJAN: Ja. Ich wollte in den nächsten zwei Jahren versuchen, das neue Prinzip einzuführen. Stückensembles, die mindestens sechs bis sieben Wochen in Wien anwesend sein müssen – ohne irgendwelche sonstige Verpflichtung. Fünf oder sechs Stücke, die in ebensoviel Wochen etwa einmal pro Woche in stets gleicher Besetzung gespielt werden. Nach sechs Wochen Schichtwechsel. Neue Opern, neue Stückensembles, ein neuer Spielplan. Meiner Meinung nach die einzige Methode, um der Repertoireabnutzung zu entgehen. Wenn man höchstes sängerisches Niveau will! Der Plan einer Strukturreform der Wiener Oper ist übrigens ganz unabhängig von den Problemen des technischen Personals entstanden. Seine Durchführung wurde vielmehr in den letzten Monaten verzögert.
FRAGE: Dieses Projekt wäre aber wohl nur dann durchführbar gewesen, wenn man Ihnen die völlige Freiheit der Disposition gewährt hätte. Derzeit sind doch alle finanziellen Abmachungen vom Placet der Bundestheaterverwaltung abhängig?
KARAJAN: Um diese Eigenverantwortlichkeit der Staatsoper geht der Kampf nun schon seit dem Tod Ernst Marboes. Ich kenne zum Beispiel nicht das genaue Limit meines Budgets. Und ich habe immer wieder verlangt, daß wir im Rahmen unseres Budgets volle Freiheit haben müssen. Es ist doch absurd, daß uns von der Bundestheaterverwaltung immer wieder gesagt wird, dies und jenes könne uns nicht bewilligt werden, obwohl wir damit im Rahmen unseres Budgets blieben. Solange ich nicht den vorgesehenen Etat überschreite, muß man uns auch finanzielle Disposition zubilligen. Denn wer kann wohl besser beurteilen, ob zum Beispiel die Gagenforderung eines Sängers berechtigt oder eine Lizitation ist – eine Operndirektion oder eine Behörde?
Bei Marboe war alles klar
FRAGE: Hat bei Bestellung des künstlerischen Leiters im Jahr 1956 eine präzise Klärung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen der Bundestheaterverwaltung und Ihnen, Herr von Karajan, stattgefunden?
KARAJAN: Die Abgrenzung der Kompetenzen ist bei Ernst Marboe nicht nötig gewesen. Marboe sagte immer: „Mit dem Geld, das Ihnen zusteht, können Sie machen, was Sie wollen." Die Schwierigkeiten begannen erst nach seinem Tod, und sie wurden bei Dr. Haertl eigentlich immer größer.
FRAGE: Wieso ist das Budget für die Staatsoper in den Jahren Ihrer Leitung so gesteigert worden? Deutet das nicht eher auf eine Großzügigkeit der Behörde hin?
KARAJAN: Ich bin kein Verschwender! Alle meine Kritiker – und Sie bilden da keine Ausnahme – haben etwas übersehen. Daß nämlich mein Etat erhöht wurde, aus diesem Etat aber alle Lohn-, Gehalts- und Gagenerhöhungen bestritten werden mußten. Es handelt sich also mehr um eine Anpassung an die gleitende Lohn- und Preisentwicklung als um eine tatsächliche Erhöhung. Außerdem kann ich ja nur die Steigerung der Einnahmen kontrollieren. Und da muß ich sagen: Alle unsere Mehreinnahmen, die über den Ansatz im Budget hinausreichen, kommen leider nicht uns allein zugute, obwohl sie auf unserer Leistung basieren, sondern wieder der Bundestheaterverwaltung. Auch dieser Umstand erscheint mir unfair.
FRAGE: Abschließend noch eine Frage, obwohl ich mir nach dem, was Sie bisher gesagt haben, die Antwort eigentlich denken kann. Aber die Wiener wären momentan sicherlich daran interessiert, zu erfahren, ob und wann und in welcher Eigenschaft Sie voraussichtlich wieder nach Wien zurückkehren möchten oder können.
KARAJAN: Sie werden verstehen, daß ich in der momentanen Situation diese Frage selbst nicht gern beantworten möchte.
Ehrenkreuz
Minister Dr. Drimmel behauptete bei seiner Pressekonferenz, Karajan habe die Verleihung des Ehrerkreuzes für Kunst und Wissenschaft abgelehnt. Dazu erklärt Karajan:
„Ich habe im Jänner, als man mir mitteilte, die Verleihung des Ordens sei nicht mehr aufzuhalten, den Herrn Minister angerufen und ihm folgendes gesagt: ,Ich bitte Sie, mir diesen Orden nicht zu verleihen, weil ich mich nicht würdig halte. Ich bin momentan in der Oper an jeder künstlerischen Arbeit behindert. Warten Sie bitte ab, bis wir wieder normale künstlerische Leistungen zu bieten in der Lage sind. Ich glaube, es hätte katastrophale Folgen, wenn ich gerade jetzt, da es ums Überleben geht, mich öffentlich feiern ließe!’ “
DIE PRESSE, Dienstag, 13.2.1962
Künstlerisches Personal blieb fern
Auswirkung der Fernsehsendung Drimmels auf die Verhandlungen
Die sonntägige Fernsehsendung „Im Kreuzfeuer der Presse", bei der sich Unterrichtsminister Drimmel vier Redakteuren zur Diskussion stellte und bei der es vor allem um die Demission Karajans ging, hatte am Montag ein Nachspiel. Angesichts dieser Sendung beschloß der Betriebsrat des künstlerischen Personals der Oper, von der 14 Uhr geplanten Vorsprache beim Minister Abstand zu nehmen.
In der Diskussion stand Drimmel im wesentlichen zu den Erklärungen, die er bereits auf der Pressekonferenz am Freitag abgegeben hatte. Er fügte noch hinzu, Karajan sei weder in künstlerischer Hinsicht noch an Arbeitsfleiß, etwas schuldig geblieben. Im Gegenteil, er habe viel mehr geleistet als auch mit dem besten Vertrag aus einem routinemäßigen Direktor herausgeholt werden könne.
Der Opernball sei kein Motiv für die Verhandlungen gewesen, auch sei dessen Abhaltung heute durchaus noch nicht sicher. Der Minister wiederholte, daß die Brücken zu Karajan nicht abgebrochen seien, betonte aber, daß man nicht bitten werde.
Auf diese Äußerung reagierte der Betriebsrat des künstlerischen Personals. Er habe, so heißt es in einer Aussendung der APA, die Ablehnung Drimmels, von sich aus Karajan als künstlerischen Leiter der Wiener Staatsoper zurückzurufen, mit großem Bedauern zur Kenntnis genommen und unter diesen Umständen beschlossen, von der Vorsprache beim Minister zurückzutreten. Der Betriebsrat des künstlerischen Personals fordert alle maßgeblichen Persönlichkeiten auf, alles zu unternehmen, um den Künstler Karajan um jeden Preis für die Wiener Staatsoper zurückzugewinnen.
Zur Aussprache im Unterrichtsministerium fanden sich daher nur die Betriebsräte des technischen Personals der Staatsoper, jene des technischen und künstlerischen Personals des Burgtheaters und der Volksoper ein. Die für 14 Uhr anberaumte Verhandlung dauerte bis nach 17 Uhr.
In dem am Abend durch das Unterrichtsministerium ausgeschickten Kommuniqué heißt es lediglich, daß die gegenwärtige Lage an den Bundestheatern dargelegt und insbesondere von der Personalvertretung der Staatsoper die Loyalität gegenüber dem bisherigen künstlerischen Leiter zum Ausdruck gebracht worden sei.
Der Minister betonte, daß eine „scharfe Unterscheidung" der Gehalts- und dienstrechtlichen Stellung des technischen Personals der einzelnen Bundestheater unmöglich sei, jedoch eine gesonderte Behandlung einzelner Spitzentechniker im Verhandlungsweg durch die Bundestheaterverwaltung geregelt werden könnte.
Kamitz als Vermittler
Wie der ÖVP-Pressedienst Montag Abend mitteilte, wird der Sessel des Direktors in der Staatsoper vorläufig leerbleiben. Die Entscheidung wird erst am 24. Februar fallen, wenn Karajan, der zur Zeit in Berlin Konzerte mit den Berliner Philharmonikern leitet, wieder nach Wien zurückkehrt, um hier die h-Moll-Messe von Bach im Musikverein zu dirigieren.*) Inzwischen bemühen sich prominente Persönlichkeiten, darunter Nationalbankpräsident Kamitz, um eine Vermittlung, über deren Ergebnis jedoch noch nichts bekannt ist. Wie Karajans Sekretär Mattoni der PRESSE mitteilte, ist von seiten Karajans eine offizielle Stellungnahme nicht vor Donnerstag zu erwarten.
Am Montagvormittag hätte der Kartenverkauf für den Opernball beginnen sollen, doch wurde nach neun Uhr den Wartenden mitgeteilt, daß keine Karten verkauft würden.
Seit Donnerstag macht ein Aufgebot von Kriminalbeamten, das sogar größer ist, als das normalerweise beim Opernball eingesetzte, bei jeder Aufführung der Staatsoper Dienst. Auch am Sonntag kam es vor Beginn der Walküre-Aufführung zu den bekannten Rufen „Wir wollen Karajan", worauf lang anhaltender Applaus einsetzte. Es geschah jedoch nichts, was den Sicherheitsorganen Grund zum Einschreiten gegeben hätte. Bezeichnend für die Verwirrung innerhalb der Oper ist der Umstand, daß sogar Gerüchte zirkulieren, denen zufolge Telephongespräche im Haus abgehört werden.
*) Nur sehr naive oder völlig ahnungslose Gemüter konnten damit rechnen, dass Karajan diesen Termin bei dieser unklaren Situation in Wien auch wirklich wahrnehmen würde. Am 19. Februar 1962 erfuhr man von der Verschiebung der Konzerte – Karajan hatte sich wegen auftretender Zirkulationsstörungen unter ärztliche Kontrolle begeben.
Mittwoch, 14. Februar
EXPRESS, 14.2.1962
Anfrage im Parlament wegen Karajan
Opernball-Vorbereitungen laufen an
Wie EXPRESS erfährt, wird in der heutigen Sitzung des Nationalrates der Rücktritt Herbert von Karajans vor das Parlament gebracht. Die FPÖ-Abgeordneten Doktor van Tongel und Genossen richten heute an den Bundesminister für Unterricht, Dr. Heinrich Drimmel, folgende schriftliche Anfrage:
1. Warum wurde entgegen einer mit Herrn von Karajan am 30. Jänner 1962 getroffenen Vereinbarung die Direktion der Staatsoper und im besonderen ihr künstlerischer Leiter bei den Verhandlungen mit dem technischen Personal ausgeschaltet bzw. übergangen? Warum wurden diese Verhandlungen trotz eines von Herbert von Karajan am 3. Februar erhobenen Protestes gegen diese Vorgangsweise ohne seine Mitwirkung abgeschlossen?
2. Warum wurde nach Einlangen des Rücktrittsschreibens Herbert von Karajans vom Bundesminister für Unterricht in einer höchst auffallenden sowie ganz und gar ungewöhnlichen Schnelligkeit die Nachfolgefrage in einer amtlichen Erklärung aufgeworfen, im übrigen aber dem bisherigen verdienstvollen künstlerischen Leiter kein Wort des Dankes und der Anerkennung für seine mehrjährige Tätigkeit ausgesprochen? Warum vor allem wurde kein Versuch unternommen, Herbert von Karajan zu einem Widerruf seines Rücktritts zu bewegen? Womit rechtfertigt der Herr Bundesminister für Unterricht diese so ganz und gar ungewöhnliche und den österreichischen Traditionen und Gepflogenheiten widersprechende Vorgangsweise, zumal für eine solche kein zwingender Grund oder Anlaß vorlag?
3. Ist der Herr Bundesminister für Unterricht bereit, der von allen am Musikleben der Bundeshauptstadt interessierten Kreisen nachdrücklichst geforderten Rückberufung Karajans in seinen bisherigen Wirkungskreis als künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper zu entsprechen bzw. welche Schritte wurden bisher in dieser Richtung unternommen? Falls eine Rückberufung noch nicht erfolgt sein sollte: Mit welcher Begründung glaubt der Herr Bundesminister für Unterricht den Verzicht Österreichs auf die einmalige künstlerische Persönlichkeit Karajans rechtfertigen zu können?"
Die Tatsache, daß das Parlament mit diesem Fragenkomplex beschäftigt wird, ist immerhin bedeutungsvoll. Wie man hört, ist es möglich, daß sich auch sozialistische Abgeordnete der Anfrage anschließen.
Im übrigen wurden gestern die Vorbereitungen für den Opernball 1962, der am 1. März stattfinden wird, nunmehr offiziell wieder aufgenommen. Dr. Drimmel hat am Montag, bei der Unterredung mit den Personalvertretern der Bundestheater, die Versicherung erhalten, daß die Vorbereitungen für den Ball klaglos vonstatten gehen werden.
Donnerstag, 15. Februar
EXPRESS, Donnerstag, 15.2.1962
Minister Dr. Drimmel beauftragt Leiter der Kunstsektion, „Karajan-Material" zu sichten
Unterrichtsminister Dr. Heinrich Drimmel hat gestern den Leiter der Kunstsektion seines Ministeriums Dr. Alfred Weikert, beauftragt, „die Ergebnisse aller Bemühungen zu sammeln und zu sichten", die darauf gerichtet sind, Herbert von Karajan nach Wien zurückzubringen, und dem Minister „darüber spätestens am 24. Februar antragstellend zu berichten". Doktor Drimmel betont, er danke für alle diese ernsthaften und reellen Bemühungen und wolle ihnen mit dieser Betrauung entgegenkommen.
Dr. Weikert, der normalerweise mit den Obliegenheiten der Bundestheater nichts zu tun hat (der Leiter der Bundestheaterverwaltung untersteht direkt dem Minister), dürfte mit dieser Aufgabe betraut worden sein, damit der Minister selbst sich von den Ereignissen der letzten Tage etwas frei machen kann, und weil ein „Unparteiischer" die Angelegenheit wahrscheinlich am besten klären kann. Herbert von Karajan hat gestern seine Präsenz an der Wiener Staatsoper für nächste Woche abgesagt. Dieser erwarteten Absage fallen zwei Aufführungen von Pelleas und Melisande zum Opfer, da man sie am Ring keinem anderen Dirigenten übergeben wollte.
Rudolf Gamsjäger, Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, ist gestern mittag nach Berlin abgereist, um mit Karajan Besprechungen zu führen. Zu klären sind u. a. auch Karajans nächste Musikvereins-Verpflichtungen. Gamsjäger reiste, wie er betonte, ohne offiziellen Auftrag.
Und jetzt tauchte plötzlich ein Hoffnungsschimmer am Horizont auf!
Am Samstag, 17. Februar 1962 fand man folgenden „Leserbrief"
KURIER, Samstag, 17.2.1962
Joseph Wechsberg:
Sehr offener Brief eines Opernnarren
Meine Herren (und Sie wissen genau, wen ich meine.)!
Vielleicht sollte ich zuerst klarstellen, was ein Opernnarr ist, denn der Begriff ist in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit geraten. Ein Opernnarr – das Wort steht weder im Duden noch in einem der dicken Musiklexika - ist einer, der in die Oper (am Ring) geht, weil er die Oper (die Kunstgattung) liebt. Sie würden sich wundern, wie wenige unter den Zuhörern sich als 18karatige Opernnarren qualifizieren könnten. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Leute in die Staatsoper gehen, weil sie eine Weltattraktion ist und man einmal dort gewesen sein muß; weil der Karajan dirigiert oder der di Stefano singt; weil man bei Premieren, vor allem bei Karajans Nobel-Premieren adabei-gewesen sein will; weil man eine Karte geschenkt bekommt; weil der Besuch der Staatsoper in allen Reiseführern als ***-Sehenswürdigkeit angegeben ist; weil die Reisegruppe, der man angehört, in die Oper geschleust wird, wie zum Heurigen oder in die Kapuzinergruft.
Zum Opernnarren ist man geboren, nicht erzogen. Man erzieht sich selbst dazu. Man ist der Oper verfallen. Man liebt sie, wie alle wirklich Liebenden, mit allen ihren Schwächen. Man weiß, sie ist nicht vollkommen, aber Vollkommenheit wäre ja langweilig. Die Oper hat Launen und Kapricen, wie eine attraktive Frau, und darf nicht immer ernst genommen werden. Aber gerade das macht sie so attraktiv.
Meine Liebesaffäre mit der Wiener Oper datiert von einem Tag in den inflationslustigen zwanziger Jahren, als ich zu Onkel Alfred auf Besuch nach Wien kam und man mich auf einen noblen Parkettplatz, vierte Reihe, zu „Figaros Hochzeit" schickte. Ich war damals etwa fünfzehn Jahre. Schalk dirigierte, und Mayr sang den Figaro. Seither habe ich den „Figaro" viele Dutzende Male gehört, aber Mozarts Zauber wirkt noch immer.
Mein Leben in den vorderen Parkettreihen war von kurzer Dauer. Als ich das nächste Mal nach Wien kam, war die große Pleite da, und Onkel Alfred hatte Geld, Bank und Villa verloren. Ich etablierte mich, wie sich’s für einen Studenten und Opernnarren gebührt, auf der vierten Galerie, ganz links. Ins Parkett schaute ich manchmal sehnsüchtig hinunter. Wenn man sich um zwei Uhr nachmittags für die „Meistersinger" angestellt hatte, wurde man sogar im jugendlich-frischen Alter eines Twens während der Schusterstube müde.
In den Jahren, die folgten, habe ich zahllose Prüfungen meines echten Opernnarrentums bestanden. Wenn in der Oper „was los" war, sagte ich ein Rendezvous mit dem hübschesten Mädchen ab und verzichtete auf ein gutes Nachtmahl bei Kusine Stoffe; für große Wagner-Abende, am Sonntag, gab ich sogar den Besuch eines Fußball-Länderkampfes auf, und des will was heißen für einen ehemaligen Klassenmannschaft-Mittelstürmer. Gegen Ende des Monats, wenn meine prekäre finanzielle Situation mich vor die Wahl zwischen zwei Schinkensemmeln und der „Frau ohne Schatten" stellte, entschied ich mich schweren Herzens und leichten Magens für den Richard Strauss. Daß ich schließlich Mitglied der Schostal-Claque wurde, wird niemanden verwundern. Sooft wie ich in die Oper gehen wollte, kann man gar nicht hungern. In der Claque war ich dann jeden Abend kostenlos dort.
In den späteren dreißiger Jahren konnte ich nicht mehr in die Oper gehen; daran waren, wie man hier in gewissen Kreisen sagt, „die Verhältnisse" schuld. Aber in den späteren vierziger Jahren war ich wieder zur Stelle, und wenn immer jetzt in der Oper etwas los ist, bin ich wieder dort im Parkett, wo ich begann, aber mit dem Herzen und dem spätjugendlichen Enthusiasmus bin ich noch immer oben auf der Vierten. („Soviel ich mich erinnere", schreibt Bruno Walter in „Thema und Variationen", „ist eine der wichtigsten Potenzen in der Wiener Kunstöffentlichkeit nie von Mahler abgefallen: die vierte Galerie.") Manchmal schaue ich sehnsuchtsvoll hinauf, wie man in seine eigene Jugend zurückschaut, und denke daran, wie schön es war, als man noch hungrig dort oben stand und Richard Strauss, der seinen Rosenkavalier dirigierte, einen „Begrüßungsapplaus" machte.
Natürlich kann man uns Opernnarren mit einem mitleidigen Lächeln abtun, und manche tun es auch. Wir haben weder eine Partei, noch ein Sekretariat. Wir kümmern uns nicht einmal um den Opernball; so vernarrt sind wir Opernnarren nun doch nicht. Trotzdem gäbe es ohne uns längst keine Oper mehr. Der Betrieb wäre mangels eines inneren Fluidums zum Stocken gekommen. Wir sind genauso wichtig wie die Leute, die die Oper mit eigenen Geldern oder uneigenen Geldern (Steuergeldern) finanzieren. Die Geschichte der Oper von Monteverdi bis Verdi bis heute beweist, daß sie beides braucht, um zu leben, Geld und Enthusiasmus, Miene und Narren, Finanzminister und vierte Galerien. Wir sind die Batterien, die die gesunde und natürliche Aufregung im Opernhaus am Leben erhalten. In Ländern, wo es zuwenig Opernnarren gibt (Frankreich, Skandinavien, die Schweiz), ist die Oper nie das Tagesgespräch, höchstens eine Abendunterhaltung. Aber in Mailand und Parma, in Wien und sogar in New Kork streuen wir Opernnarren die Würze in die oft langweilige Opernhaumannskost. Im Teatro Regio in Parma, der Geburtsstadt Toscaninis haben die Opernnarren auf der Galerie nicht gezögert, Caruso, Gigli und sogar Toscanini auszupfeifen. Im Jahre 1912 schrie einer in Forza del Destino: „Maestro, die Violinen spielen falsch!" Toscanini hatte einen Tobsuchtsanfall und schwor, niemals mehr in Parma zu dirigieren. An der Scala gehört es zum guten Ton, einem überreifen Tenor überreife Tomaten an den Kopf zu werfen. Und die lieblichen Skandale zwischen den Callas-Fans und den Tebaldi-Fans an der Met sind noch unvergessen.
Wir Opernnarren haben ein gutes Gedächtnis, was unser Haus betrifft. (Ein Opernnarr hat nur ein Haus und fühlt sich in allen anderen Opernhäusern der Welt heimatlos.) Wir erinnern uns, daß die Operndirektoren in Wien im Kampf gegen die allgegenwärtige graue Hydra der Bürokratie immer unterlegen sind. Sie haben alle einen heroischen Kampf geführt, Mahler und Walter, Strauss und Schalk und jetzt Karajan; zum Schluß sind sie immer gegangen worden. Die historischen Tatsachen werden wohl in den dicken Netzen von Intrigen, Gegenintrigen, und Gegen-Gegenintrigen für immer verborgen bleiben. Einige Details über Mahlers Demission im Sommer 1907 las ich erst fünfzig Jahre später in den Memoiren Bruno Walters, aber die volle geschichtliche Wahrheit wurde wahrscheinlich mit weiland dem Fürsten Montenuovo zu Grabe getragen. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, werden unsere Enkel im Jahre 2012 die pikanten Einzelheiten des Spiels im Spiel erfahren, das gegenwärtig um die Wiener Oper getrieben wird. Macht nichts, sagen die Bürokraten. Wir haben Zeit.
Aber wir Opernnarren haben keine. Wir schätzen jeden großen Abend als ein beseligendes Erlebnis. Wir sind dabei durchaus nicht verblendet. Wir haben seit 1956 viel an Herbert von Karajan zu kritisieren gehabt. Natürlich ist er schwierig, sehr schwierig, wie alle außergewöhnlich begabten Menschen. Er spielt die gesellschaftlichen Spielregeln nicht immer mit, verschmäht Cocktailparties, Orden und formelle Besuche bei den Gattinnen einflußreicher Gatten, was ihn uns nur noch sympathischer macht. Karajan hat sogar eine ketzerische Reorganisation der Staatsoper gewagt und damit in den Augen der Bürokratie ein ärgeres Verbrechen als Hochverrat begangen. Er hat zweifellos viele Fehler begangen, so wie alle vor ihm. Er führte zu eifrig Regie, kümmert sich zuwenig um die Erziehung der begabten jungen Künstler. Er dachte viel und gern an die lockende Ferne, und er glaubte an die magischen Kräfte, die ihm sein Publikum angedichtet hatte. Karajan wäre nicht der einzige, der ein Opfer seiner eigenen Legende wurde. Wir behalten uns vor, ihn auszupfeifen, falls die Violinen unter ihm falsch spielen, in „Forza del Destino" oder sonstwann.
Aber: dieser sehr eigenwillige, sehr schwierige Künstler, der das Profil und die Umgangssprache der Wiener Staatsoper radikal verändert hat, hat die göttliche Gabe der Ausstrahlung. Die faszinierende Kraft, die von ihm ausgeht, regt alle, die mit ihm arbeiten, zu einer unsichtbaren, gar nicht zu erfassenden Extra-Anspannung an, die den ganzen Unterschied zwischen einem durchschnittlichen und einem großen Opernabend ausmacht. Solche Abende sind in allen Opernhäusern der Welt so selten wie schwarze Perlen. Karajans Meisterabende, da er nicht Verdis, sondern seinen „Othello" und „Falstaff", nicht Wagners, sondern seinen „Ring" und „Parsifal", nicht Debussys, sondern Karajans „Pelleas" zelebrierte, waren Sternstunden in der Wiener Staatsoper und im kosmischen Zauberreich der Oper überhaupt. Niemand kann erklären, wie sie zustande kamen; es waren, wie in der „Frau ohne Schatten", Übermächte im Spiel. Wahrscheinlich ist es der Zauber einer großen Persönlichkeit, der die geheimnisvollen Wechselwirkungen zwischen Bühne, Orchester und Zuschauerraum auslöst.
Um dieser Sternstunden willen, die alle musischen Menschen fühlen, hätte man - trotz allem - Karajan niemals gehen lassen dürfen. Aber Bürokraten sind ja unmusisch, sonst wären sie keine Bürokraten geworden. Ihnen ist der stolze Freiheitswille des Künstlers, sein unbändiges Unabhängigkeitsbestreben höchst suspekt, da man diese Dinge nicht aktenmäßig erledigen kann. Und wo kein Akt, ist für diese Armen kein Leben. Ein hoher Bürokrat soll gesagt haben: „Was will er denn – er war doch eh sechs Jahre hier?" Als ob es sich um einen Fußballtormann handeln würde, der allerdings selten so lange im eigenen Tor bleibt.
Die Donau fließt noch immer in der Richtung gegen den Eisernen Vorhang (was viele gute Österreicher mit Recht als Verletzung ihrer Neutralität empfinden), und in der Oper geht die Show weiter. Früher oder später werden die Schlagzeilen und die Leser müde sein der Argumente und der Dialektik, der Gerüchte und Zweifel, der Beschuldigungen und Intrigen und zur grauen Alltags-Tagesordnung übergehen. Den Schaden haben nur wir Opernnarren, die um einige unersetzliche Sternstunden kommen. Statt dessen werden uns Kompromisse angeboten. Aber wir haben keinen Enthusiasmus für die Virtuosen des Kompromisses. Kompromisse haben mit der Kunst nur den Anfangsbuchstaben und sonst nichts gemein. Kunst und Kunstausübung müssen kompromißlos sein.
Natürlich verstehen wir, daß die Bürokraten wenig Liebe für den kompromißlosen Künstler haben. Die Statistiken allein sind deprimierend. Nach den letzten Ziffern des Generalsekretariats der UNO entfallen auf jeden Bruno Walter, Klemperer, Karajan nicht weniger als 2,617.969 Bürokraten. Auf einen einzigen Karajan entfallen 103 Finanzminister und 91 Unterrichtsminister. (Es scheint, daß jeder junge Staat einen Finanzminister braucht, nicht aber einen Unterrichtsminister. Manche sollen sich dabei sogar ganz wohl fühlen.)
Wir Opernnarren bekennen uns stolz zu Schützern der verfolgten Minderheiten und Dirigenten. In dem ewigen Kampf der kleinen, provinziellen Seelchen gegen die großen, weltweiten Geister, der vergrämten, mausgrauen Bürokraten gegen den gesegneten Künstler – einen Kampf, den Altmeister Wagner so treffend im „Meistersinger"-Vorspiel komponiert hat – sind wir Opernnarren bedingungslos, voreingenommen und subjektiv auf Seiten der Kunst. Die Bürokraten, vor allem die Hoch-Bürokraten, brauchen unsere Hilfe nicht. Die können sich, wie man sieht, allein helfen, obwohl man doch das ungute Gefühl hat, daß ihnen nicht mehr geholfen werden kann. Unmusische Männer mit Titeln und Würden, die zwar nicht taub sind (und manchmal sogar das Gras wachsen hören), aber noch nie beim Vorspiel von „Tristan" selig die Augen geschlossen haben, vielleicht weil das nicht in den Vorschriften steht, an die man sich natürlich halten muß.
„Seine Anhänger standen treu zu ihm, aber seine Feinde konnten um so wirksamer gegen ihn arbeiten, als er selbst sich nicht gegen Angriffe und Intrigen wehrte... ,Ich habe mein Ziel hoch gesteckt. Nicht immer konnten meine Bemühungen von Erfolg gekrönt sein. Dem Widerstand der Materie, der Tücke des Objekts ist niemand so überantwortet wie der ausübende Künstler.’ „ 1962? Keineswegs. Bruno Walter über Mahlers Abschied in 1907.
Mahler bleibt unvergessen. Aber wo sind die Bürokraten seiner Zeit. Unter dem Staub ihrer eigenen Akten begraben, sehr sang- und ganz klanglos.
Wie singt der Baron Ochs von Lerchenau im „Rosenkavalier"? „Was einem Cavalier nit all’s passieren kann, in dieser Wiener Stadt …"
Ja, ja.
Mit dem Ausdruck meiner ... etc.
J. W.
Joseph Wechsberg wurde am 29. 8. 1907 Mährisch-Ostrau geboren und starb am† 10. 4. 1983 Wien. Er war ausgebildeter Jurist, Erzähler, Essayist und Journalist. Man kann ihn als Weltenbürger bezeichnen. 1936 wurde er Parlamentssekretär der Jüdischen Partei in Prag, kam 1938 nach New York und begann in englischer Sprache zu schreiben. Berühmt wurde er durch seine Jugenderinnerungen („Looking for a Bluebird", 1945, deutsch unter dem Titel „Ein Musikant spinnt sein Garn", 1949). Nach dem 2. Weltkrieg Militärkorrespondent in Europa, später Österreich-Korrespondent der Zeitschrift „The New Yorker" in Wien und ein oft gesehener Besucher der Wiener Staatsoper.
Sonntag, 18. Februar
Das Rauschen im Blätterwald ließ nicht nach. Auch im Ausland waren die Zeitungen voll, wie ein Auszug aus der deutschen Zeitung zeigt.
DIE PRESSE, Sonntag, 18.2.1962
Karajan zur Rückkehr bereit?
Ein Hamburger Interview.
HAMBURG. Herbert von Karajan steht einer Wiederaufnahme seiner Tätigkeit an der Wiener Staatsoper nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber – diesen Eindruck gewann der Musikkritiker der Tageszeitung „Die Welt" Heinz Joachim, in einem Gespräch mit dem Dirigenten in Berlin.
Voraussetzung sei, daß „das Haus in Ordnung gebracht" und „ein gutes Arbeitsklima geschaffen" wird. Karajan verlangt keine Entschuldigung, aber er wird sich auch nicht lediglich auf Versprechungen einlassen, - schreibt Joachim. Die Sache, die an diesem Fall exemplifiziert wurde, muß durchgestanden, das Primat der Kunst an der Wiener Staatsoper ein für allemal gesichert werden.
„Kann der Minister, können die Verantwortlichen in Wien zögern, diesen Weg zu beschreiten?" fragt Heinz Joachim und verweist auf die verlockenden Angebote, die in diesen Tagen von überallher Karajan zugekommen sind, darunter auch vom Intendanten der Deutschen Oper in Berlin, Gustav Rudolf Sellner.
Karajan berichtete In dem Gespräch Einzelheiten über die Auseinandersetzungen, die zu seinem Ausscheiden aus der Wiener Oper führten. Die Vereinbarung zwischen der Bundestheaterverwaltung und der Gewerkschaft der Bühnenarbeiter nannte Karajan einen „Vertrag, der keiner ist".
„Ich könnte meinen Mitarbeitern nicht in die Augen sehen, wenn ich daraus nicht die unvermeidlichen Konsequenzen gezogen hätte", zitiert Joachim den Dirigenten. Zu der abweichenden Darstellung des Unterrichtsministers Drimmel sagte Karajan: „Der Minister war der Meinung, daß die Direktion zu den Verhandlungen hinzugezogen worden sei. Das Gegenteil davon war der Fall."
Auch in der Folge war das Thema auf den Titelseiten zu finden. Aber man konnte letztlich doch die Bereitschaft erkennen, alles für Karajans Rückkehr zu tun.
NEUES ÖSTERREICH, Sonntag, 26.2.1962
Noch keine Entscheidung über die Operndirektion
Oscar Fritz Schuh: „Man darf die Oper nicht um ihren Glanz bringen" – Gerückte über ein Revirement in der Bundestheaterverwaltung
Die Oper steht, obwohl es keinen Arbeitskonflikt mehr gibt, im Zeichen der Improvisation - noch immer wurde keine amtliche Entscheidung in der Direktionsfrage getroffen. Bis zum 24. Februar sollte das inzwischen gesichtete Karajan-Material Unterrichtsminister Dr. Drittel vorgelegt werden.
Was auch immer dabei herauskommen mag: Karajan wird nicht zurückkehren, wenn nicht gleichzeitig ein Revirement in der Bundestheaterverwaltung durchgeführt wird. Hiebei wäre es verfehlt zu glauben, die Situation sei gerettet, wenn man den „Kopf" absägt. Man spricht davon, daß eine durchgreifende Veränderung im Verhältnis zur Oper erforderlich sein wird. Im Zusammenhang mit möglichen Umbesetzungen werden indessen in der Bundestheaterverwaltung von gewöhnlich gut informierten Kreisen Namen genannt: Dr. Leitner, früher Botschafter in Tokio, jetzt im Außenamt tätig, könnte mit der Leitung der Bundestheaterverwaltung betraut werden. Ministerialrat Haertl könnte in diesem Falle das österreichische Kulturinstitut in Rom übernehmen.
Es ist interessant, daß auch Professor Oscar Fritz Schuh nur dann die Direktion der Wiener Staatsoper übernehmen würde, wenn er gegenüber der Bundestheaterverwaltung unabhängiger arbeiten könnte. Seinerzeit hat Professor Schuh Herbert Karajan bei dessen Amtsantritt darauf aufmerksam gemacht, daß er bei seinen Vertragsbedingungen gegenüber der Bundestheaterverwaltung kein freier Mann sein werde.
Schuh ist der Ansicht, daß man die Wiener Oper keinesfalls um ihren Glanz bringen dürfe. Die Vorstellungen müßten weiterhin erstklassig bleiben, was sich vor allem auf die Qualität der Sänger beziehe. Zusätzlich müsse mehr Bedacht auf die Spielplangestaltung genommen werden. Ohne Karajan könne man die Wiener Oper jedenfalls nicht führen – man müßte dem Dirigenten lediglich die Direktionslast abnehmen.
EXPRESS, Dienstag, 27.2.1962
Um Geduld im „Fall Karajan" wird gebeten
Noch kein Kommuniqué
Du für gestern erwartete Kommuniqué im „Fall Karajan" wurde noch nicht veröffentlicht. Eine Fühlungnahme zwischen dem Unterrichtsministerium und Herbert von Karajan hat bereits stattgefunden, und man rechnet damit, daß im Laufe des heutigen Tages eine Darstellung der Situation gegeben werden kann. Dies wurde zumindest EXPRESS gestern aus dem Unterrichtsministerium mitgeteilt - doch wurde gleichzeitig betont, daß die Frage der künftigen Gestaltung der Staatsoperndirektion auch durch das zu erwartende Kommuniqué noch keine endgültige Beantwortung erfahren wird. Dr. Alfred Weikert hat jedenfalls seine Tätigkeit (die Zusammenfassung aller Vorschläge und Interventionen, um Herbert von Karajans künstlerisches Wirken für Österreich zu erhalten) „termingemäß" am Wochenende abschließen und darüber Minister Dr. Drimmel referieren können.
Am Donnerstag 1. März fand der Opernball statt!
Und nun zum Monat Februar
Diesem Monat seien folgende Sätze vorangestellt:
„Den Vorwärtsgang der Geister
in eine bess’re Welt
verklebten wir mit Kleister:
,Für sowas ist kein Geld’
Wir bleiben stier und pfeifen
im ausverschenkten Saal,
eh wir zum Gasschlauch greifen,
fahrn wir zum Opernball."
(Aus „Wir Wiener" von Josef Weinheber).
GESCHLOSSEN am 1. Februar
wegen Premierenvorbereitungen zu Rigoletto
LA TRAVIATA am 2. Februar
Ein erschreckend tiefes Niveau hatte diese Aufführung. Es kostete wahrlich Nerven, diesen Abend bis zum Ende durchzuhalten, den Teresa Stich-Randall (Violette) eigenmächtig durch gedehnte Tempi qualvoll verlängerte. Mit dem gleichen süßen Keep smiling, mit dem die Sängerin in fast allen Tageszeitungen der Welt von der Kulturseite lächelt, bohrte sie unbarmherzig schrille Spitzentöne dem Auditorium in Herz und Ohr, von puppenhaftem Spiel begleitet. Traviatas Partner war Ermanno Lorenzi. Das Trinklied und die Arie singt so mancher Naturbursche besser. Kostas Paskalis, ein braver Sänger, avancierte durch seine Kollegen solcherart zum besten Mann des Abends und wirkte sogar mit der Rauheit seiner Stimme in dieser Umgebung wohltuend. Die kleineren Rollenträger hatten Provinzniveau und (von einigen Ausnahmen abgesehen) keine Stimme. Berislav Klobucar kämpfte verzweifelt mit Violetta um einen schnellern Ablauf der Vorstellung – er unterlag, und das Publikum litt im Ritardando-Stil. Zwei Vorhänge gab es nach dem ersten Akt, nach dem letzten verließen viele Zuhörer blitzartig das Haus.
RIGOLETTO am 3. Februar, Neuinszenierung, und 10. Februar
Wunder wiederholen sich nicht. So glücklich, wie der herrliche Pelleas in dieser prekären Situation herausgebracht werden konnte, hätte Rigoletto (genial erfundene Hausmannskost des Opernnormalverbrauchers) von Haus aus nicht werden können. Auch dann nicht, wenn der Aufführung einige entscheidende Fehler, nämlich in der musikalischen Leitung, in der Besetzung und in der Regie erspart geblieben wären. Dem greisen Maestro Tullio Serafin fehlte offenbar die Kraft, das Werk in den spärlichen Proben zu erarbeiten. Die Tempi waren fast durchwegs zu langsam und wurden sie schneller, dann so abrupt, daß allgemeines Aussteigen die Folge war. Auch hemmten die Tempi zum Teil die Sänger, denen die Luft ausging. Nie wieder wird jemand, der die Regie von Ernst Poettgen gesehen hat, ein Wort gegen Frau Wallmann sagen. Und tut er’s doch, dann ist es eine gezielte Intrige. Herr Poettgen stopfte die Bühnenbilder, die von Nicola Benois ohnedies schon prunkvoll und ausführlich genug entworfen waren – man sah bis in Mantuas Kanalisationssystem – mit völlig absurden Tänzen, Pantomimen, Halstuchmorden (!!), begangen an Frau Hellwig, der Duenna, und großen Gesten an, überdrehte dabei die Geschichte bis zur unfreiwilligen Komik und inszenierte so das Werk in Grund und Boden. Und so etwas wurde von der ACH! so strengen Wiener Kritik, die sich sonst nicht genug an bösartigen Regie-Verrissen tun kann, stillschweigend übergangen? Ja, wo hatten dann da die Herren ihre „objektiven" Augen, mit dem berühmten Scharfblick? Oder sollten sie diese etwa schamhaft zu Boden geschlagen haben? Die Sänger auf der Bühne wurden erbarmungslos hin und her gejagt, statt daß man sie singen ließ, was ja bei Verdi eine nicht zu unterschätzende Wichtigkeit ist. Sogar Aldo Prottis Rigoletto der eine der Rollen für ihn ist, litt unter Distonieren und etwas Unsicherheit in der oberen Mittellage (die Spitzentöne kamen allerdings prompt, wie immer.) Giuseppe Zampieri, dessen Herzog eigentlich das ganze Stück über mehr „Student der Rechte und mittellos" zu sein scheint als ein prinzlicher Genießer, hatte bei den ersten Takten der Ballata mit hemmungsloser Nervosität zu kämpfen. Man wollte schon für ihn zu fürchten beginnen, da man seiner schwachen Leistungen in letzter Zeit gedachte – doch siehe da, er fing sich und steigerte sich von Szene zu Szene, sang die schwere große Arie bildschön und wirkte besonders durch zauberhafte Phrasierungen der „bella figlia dell’amore". Diese sang Giulietta Simionato, fürchterlich hergerichtet. Sie ließ den in dieser Rolle so penetranten Salonschlangen-Appeal weg und entledigte sich ihrer Aufgabe mit Humor und pompösen tiefen Tönen. Ruth-Margaret Pütz erwies sich als totale Fehlbesetzung. Selbst in unserem Hause, das oft und oft schon die Idealinterpretationen einer Rolle erlebt hat, glaubt man offenbar nicht, wie schwierig es für einen Sänger des deutschen Stils ist (die Nationalitätenfrage spielt hier absolut keine Rolle) eine italienische Partie ganz auszufüllen. Wir sind hier offenbar verwöhnt durch jene, die es, wie die Güden, die Jurinac, Nilsson, Christa Ludwig, wie Wächter und Hotter doch können. Frau Pütz jedenfalls demonstrierte die Schwierigkeiten, die eine ausgezeichnete Zerbinetta mit einer Gilda haben kann. Die weiße Stimme hat in der Mittellage zu wenig Farbe, in der Höhe zu wenig Durchschlagskraft. Die lyrischen Momente gingen verloren und die dramatischen wurden zu einer Strapaze des armen Kehlkopfs, der den Kampf gegen Verdi vorzeitig aufgab. Am besten gelang noch die Arie, die man mehr oder minder doch mit Kopfstimme singen kann, am schlechtesten natürlich die Stretta, die kräftige Bruststimmen verlangt. Überdies geriet Frau Pütz auch darstellerisch in die Niederungen der Larmoyanz. Ferruccio Mazzoli, der zu Beginn seiner Gastiertätigkeit gar nicht gut ankam, entpuppte sich überraschenderweise als ganz vorzüglicher Sparafucile. Rudolf Knoll, der sogenannte Charakterbariton, hat für den Monterone weniger Höhe als jeder zweite Baß, in dessen Tätigkeitsfeld diese Partie bisher gehörte. Die Damen Liselotte Maikl, Laurence Dutoit und Judith Hellwig, die Herren Siegfried Rudolf Frese und Kurt Equiluz vervollständigten die Besetzung.
Wenn man sich nachträglich dachte: „Am Ende war das die letzte italienische Premiere, man sollte nicht zu kritisch sein!", so war die Aufführung trotzdem nicht gut. Und für den Fall, daß in Zukunft italienische Premieren etwa mit dem Team Loibner, Terkal, Braun und Madeira stattfinden sollten, haben wir schon hoch herbere Worte auf Lager.
DON GIOVANNI am 4. Februar
Nicht immer entspricht die Besetzung der Papierform. Von diesem Mozartabend hatte man sich gar nichts erwartet und war dann umso mehr überrascht. Hans Swarowsky, keinesfalls ein Liebling des Stammpublikums, bot als Dirigent eine saubere Leistung. Er hat ein Ohr für Mozart und hielt die Ensembleszenen recht gut zusammen. Seine Zeichengebung für die Sänger war klar und deutlich. Die Titelpartie sang Rudolf Jedlicka aus Prag. Die an und für sich schöne, samtene Stimme reicht jedoch für das große Haus nicht aus, was bei den Forte-Ausbrüchen deutlich zu Tage trat. Außerdem schien der Sänger mit der Akustik noch immer nicht vertraut zu sein, wie der säuselnde Vortrag der Serenade, welche außerdem rhythmisch mit der Laute nicht übereinstimmte, bewies. (Noch ist man nicht so weit, daß Don Giovanni mit dem Mikrophon in der Hand die Damen betört.) Teresa Stich-Randall als Donna Anna bot eine passable Leistung, sang verhalten, gab nur in der Rachearie ihre gefürchteten Schrilltöne zum Besten. Wilma Lipp als Elvira beherrschte die Koloraturen souverän und blieb auch ansonsten die (Mozart-)stilsicherste Sängerin des Abends. Hanny Steffek war eine reizend aussehende Zerlina, die man ohne weiteres nach Wien importieren könnte. Verwandtschaftliche Protektionen hat sie dazu nicht nötig, denn ihr silbriger Sopran verspricht viel für die Zukunft.*) Aus Mailand kam Luigi Alva (für den absagenden Dermota) als Ottavio, und es blieb ihm vorbehalten, dem Publikum und den immer nach Mozart schreienden Ensemblemitgliedern zu zeigen, wie man Mozart auch in Italien zu singen weiß. Schade, daß unsere Mozarttenöre, ob alt oder jung, nicht im Hause waren. Der junge Mann hätte sie eines Besseren belehrt. Seine Phrasierung war makellos, seine Atemtechnik phänomenal. Er konnte den größten Publikumserfolg mit der zweiten Arie für sich buchen. Erich Kunz zog die Register seiner Schauspielkunst und seiner gesanglichen Routine. Kostas Paskalis und Frederick Guthrie prägten sich dem Gedächtnis ebenso unangenehm ein wie die Inszenierung.
*) Sie war mit Albert Moser verheiratet.
FIDELIO am 5. Februar
Hans Swarowsky stand abermals am Pult, und auch diesmal konnte er sich mit Anstand aus der Affäre ziehen. Zumindest schien er wohl vorbereitet in den Kampf gezogen zu sein, denn diesmal wirkte seine Fidelio-Aufführung weitaus profilierter als vor einem Jahr. Oder hat uns – behüt es der Himmel! – die Dirigentenmisere am Ende schon bescheiden gemacht? In gesanglicher Hinsicht lag das Plus der Aufführung eindeutig bei den Herren. Hans Beirer sang einen heldischen Florestan, dessen mächtiges Organ nicht nur die Wände seines Gefängnisses, sondern auch die des Hauses zum Erzittern brachte. Zweifellos bot er zusammen mit Otto Wiener (Pizarro), der ebenfalls einen ausgezeichneten Tag hatte, die beste Leistung des Abends. Kurt Böhme (Rocco) störte durch sein Forte das Quartett ebenso empfindlich wie Teresa Stich-Randall (Marzelline), die sich stillos in den Vordergrund sang. Bei Christl Goltz als Leonore überwogen wieder einmal die schauspielerischen Fähigkeiten gegenüber den gesanglichen. Wir ziehen zwar stets große Künstlerpersönlichkeiten den „Nur-Sängern" vor und sind durch Gestaltungskraft leicht zu bestechen, doch chronische Stimmkrisen können auf die Dauer darob nicht kontinuierlich hingenommen werden. Es ist Zeit, daß dies einmal ausgesprochen wird (was allerdings nur im Falle Goltz Berechtigung hat). Daß am Schluß Florestan doppelt so viele Phonstärken an Beifall kassierte wie Leonore, stellte daher nichts als gesundes und gerechtes Publikumsurteil dar.
DER ROSENKAVALIER am 6. Februar
Während unsere Marschallin Elisabeth Schwarzkopf im Triumph Paris erobert, kam von der Seine Regine Crespin in der gleichen Partie in die Donaustadt. Es war gewiß keine leichte Aufgabe für sie, hier in dieser Rolle bestehen zu können, doch hat sie seltsamerweise gerade als Marschallin die überzeugendste Leistung bei ihrem Wiener Gastspiel geboten. Frau Crespin singt die Partie mit sehr viel Bemühen um Ausdruck, meist in wunderschönen Piani und verblüfft durch die sprachliche Beherrschung der Rolle. Selbst der Wiener Dialekt wurde gut getroffen. Leider störte im Schlußterzett ihr messerscharfes Forte beträchtlich. Daß Regine Crescpin schon von der Erscheinung her nicht so jugendlich wie Frau Schwarzkopf und Frau Casa wirkt, sondern eher ein „mütterlicher" Typ ist, tut der stark akklamierten Leistung der Künstlerin keinen Abbruch. Irmgard Seefried gab neuerlich einen ausgezeichneten Oktavian und ein übertriebenes Mariandl. Im großen und ganzen zeigte die Künstlerin eine ausgezeichnete Leistung, hatte ihre Höhepunkte in der Rosenüberreichung und dem wunderschönen Schlußduett, in dem ihr Hilde Güden aufs Beste sekundierte. Frau Güden ist als Sophie immer wieder ein Ereignis. Man kann sich eine idealere Besetzung dieser Partie schwer vorstellen. Kurt Böhme war der in der Höhe und Tiefe schwache Lerchenauer, dessen zweiter Aktschluß auf der Wiener Opernbühne deplaciert wirkt. Alfred Poell sahen wir als sympathischen Faninal. Murray Dickie bemühte sich sehr um die Sängerarie. In den Nebenrollen fiel Karl Friedrich als guter Wirt auf. Heinz Wallberg brauchte eine längere Anlaufzeit, um sein gewohntes Format zu erreichen. Im zweiten Akt blieb kein Wunsch offen. Insgesamt gesehen haben wir jedoch von ihm schon überzeugendere Rosenkavalier-Interpretationen gehört.
ELEKTRA am 7. Februar
Die Vorstellung ging in einer Atmosphäre vor sich, die geladen war mit Nervosität, Unsicherheit und Depression (Karajan-Rücktritt). Heinz Wallberg am Pult hatte die undankbare Aufgabe, sie unter den schlechtesten Voraussetzungen trotzdem über die Distanz zu bringen, was ihm mit eiserner Konzentration auch gelang. Wohl war das Orchester manchmal zu laut – was nicht mit breiig oder dick gleichzusetzen ist – so laut als brande Zorn und Enttäuschung wie ein Donnergrollen. Die Erkennungsszene allerdings war musikalisch meisterlich, ließ für ihre Dauer das über das Haus am Ring hereingebrochene Verhängnis des Rücktritts Karajans vergessen, gewährleistete das, was Schubert mit „An die Musik" besungen hat: Entrücksein in eine bessere Welt. Doch dies waren auch die einzigen wirklich vollgültigen Werte des Abends. Wohl erweckte Regina Resniks Leistung Interesse, wohl bestach Paul Schöffler als Orest allein schon durch sein Erscheinen und bewies Hans Beirer, daß er zu den seltenen Tenören gehört, deren Todesschrei hinter der Bühne wirklich zu vernehmen und dazu noch einwandfrei gesungen ist. Alles andere aber bedeutete Trostlosigkeit. Das Mägdequintett drohte jeden Augenblick auseinander zu fallen, bis schließlich doch alles mit Müh und Not gut ging. Christl Goltz als Elektra und Hilde Zadek als Chrysothemis hatten beide einen rabenschwarzen Abend. Was hier dem Ohr zugemutet wurde, war wahrhaft „ein traurig Stück". Noch deprimierter als man gekommen war, ging man aus dem Hause.
EIN MASKENBALL am 8. Februar
Mit dem richtigen Atem für Verdis Phrase leitete Tullio Serafin diese Vorstellung und hatte in Giuseppe Zampieri, der wieder im Kommen ist, den richtigen Tenore lyrico spinto für seine Interpretationen. Regine Crespin allerdings war hier nicht gut eingesetzt und konnte die Schärfe ihrer Forte-Höhen durch einige geglückte Piani kaum kompensieren. Giulietta Simionato sang die Ulrica, die sonst nicht zu ihren besten Rollen zählt, diesmal prächtig, und Aldo Protti, der im ersten Akt etwas rauh sang, legte dann ein bestechendes „Eri tu" hin, das entsprechend viel Beifall fand. Liselotte Maikl vertrat mit einem sicher gesungenen Pagen das heimische Ensemble, und die Herren Ljubomir Pantscheff und Feruccio Mazzoli waren ausgezeichnete Verschwörer.
Das Haus war zum bersten voll. Abgesehen von der interessanten Besetzung waren viele gekommen, um ihrer Verzweiflung über den Rücktritt Karajans durch Karajan-Rufe vor der Aufführung und in den Pausen Luft zu machen.
DER FLIEGENDE HOLLÄNDER am 9. Februar
Eine etwas nervöse, aber im gesamten recht gute Repertoirevorstellung. Heinrich Hollreiser dirigierte sehr großflächig, aber spannungsreich und hielt Solisten und Orchester gut zusammen. Bei den Sängern dominierten die Herren und zwar vor allem Otto Wiener mit einem sehr kultiviert gesungenen, menschlichen Holländer. Hans Beirers stimmgewaltiger Erik hatte blendende Höhen, das Stimmaterial ist allerdings sehr explosiv eingesetzt. Der Daland Kurt Böhmes hätte mehr Notengenauigkeit vertragen. Elisabeth Höngen war wie immer als Mary eine große Persönlichkeit in einer kleinen Partie. Hilde Zadek hatte nicht ihren besten Tag, plagte sich in der Höhe und wurde in den Szenen mit Beirer von dessen Stimmkraft ziemlich erdrückt.
RIGOLETTO am 10. Februar
Diese Aufführung in Premierenbesetzung wurde mit der vom 3. Februar besprochen
DIE WALKÜRE am 11. Februar
Und wieder gab es vor der Aufführung Rufe: „Wir wollen Karajan!" und heftigen Beifall im Haus. Wagner, wie er nicht sein soll und darf, präsentierte hingegen die Wiener Oper einem nicht ausverkauften Haus. Dabei begann es eigentlich ganz gut. Hans Beirer als Siegmund und Regine Crespin als Sieglinde brachten von Natur aus die erforderlichen Stimmen und die Wagnerstatur mit, und beide Künstler verstehen, Wagner zu interpretieren. Daneben erwies sich der Baß Mino Yahia als ein Versprechen. Seine warme, dunkel gefärbte Baßstimme verrät immerhin Qualität. Dann aber nahm die Tragödie ihren Lauf. Otto Edelmann betrat als Wotan gemächlichen Schrittes die Bühne, und die Stimmung war dahin. Als Marianne Schechs Brünnhilde sich ihm beigesellte, stand der Weg zur Parodie offen. Bei der Wotan-Erzählung, die ohne Pointierung und völlig desinteressiert, mit leicht wienerischem Tonfall vorgetragen wurde, drohte man in ewigen Schlaf zu versinken. Zu allem Überfluß begann Herr Beirer im zweiten Akt zu tremolieren, so daß mit Ausnahme von Hilde Rössel-Majdan, die einen stimmlich sehr guten Abend hatte, kein vollwertiger Solist mehr auf der Bühne stand. Die Reaktion des Publikums kam prompt: es gab nur drei Vorhänge, verbrämt mit heftigen deutlichen Pfuirufen. Doch das bittere Ende für den Göttervater und seine Wunschtochter aus München ersparten sich viele, denn Wiens Opernpublikum zog es teilweise vor, das Haus bereits nach dem zweiten Akt demonstrativ zu verlassen. Die Galerie lichtete sich zusehends, und sogar das Parkett wies bald zahlreiche Lücken auf. Als im dritten Akt Wotan-Otto Edelmann gemächlich seinen Speer auf die Bühne legte, um sich von seinem „kühnen Kind" zu verabschieden, kam etwas Heiterkeit in den traurigen Abend, der endlos wirkte, woran Heinrich Hollreiser – unserer Meinung nach – keine Schuld trägt. Bei solchen Solistenleistungen kann man von einem Dirigenten keine Wunder erwarten. Daß dennoch einige Hände sich zum Beifall rührten, spricht für die Ahnungslosigkeit der zahlreichen Freikartenbesitzer.
CAVALLERIA RUSTICANA und DER BAJAZZO am 12. Februar
Ein interessanter Abend, dessen Besuch sich lohnte. Schließlich stand der Altmeister der italienischen Oper, Tullio Serafin, am Pult. Er und das Orchester, das bereitwilligst seinen Intentionen folgte, boten eine Leistung, die man nicht so schnell vergessen wird.
Selbst aus der stellenweise trivialen CAVALLERIA wußte er Momente herauszuholen, die verblüfften. Bereits das Vorspiel ließ erkennen, daß dieser Abend unter einem besonderen Stern stehen würde. Dazu trugen auch die Leistungen auf der Bühne bei. Schon rein äußerlich ist Giulietta Simionato eine überzeugende Santuzza. Sie vermeidet jedes unechtes Pathos, und – frei von Übertreibungen – wirkt ihre Darstellung gerade darum so lebensecht und ungekünstelt. Ihrer Stimme zu lauschen, ist immer wieder ein Genuß. Stimmlich gut disponiert und bei blendender Spiellaune Giuseppe Zampieri. Am besten gelang ihm der Abschied von der Mutter. Kostas Paskalis hat seit dem ersten Alfio viel dazugelernt.
Den BAJAZZO eröffnete Aldo Protti mit einem stimmgewaltigen Prolog, der ihm reichen Beifall eintrug. Auch in den folgenden Szenen wußte er seine Riesenstimme wirkungsvoll einzusetzen. Hingegen konnte uns Dimiter Usunow diesmal nicht restlos zufrieden stellen. Obwohl seine intensive Darstellung nicht ihre Wirkung verfehlte, haben wir ihn stimmlich schien wesentlich besser gehört. In seiner großen Schlußszene war er auch musikalisch unsicher und sang einige Stellen sehr frei. Wilma Lipp war eine gute Nedda. Kostas Paskalis sang den Silvio.
DER FLIEGENDE HOLLÄNDER am 13. Februar
Heinrich Hollreiser scheint diese Oper recht gut zu liegen. Nach Unstimmigkeiten im ersten Akt, geriet der zweite schön und besonders im gut aufgebauten Duett stimmungsvoll, während der dritte Akt leider wieder mehr als unpräzise war. Otto Wiener sang und spielte die Titelrolle ausgezeichnet. Christl Goltz hatte einen sehr guten Abend und sang nur zwei, drei Töne im Duett zu tief. Sonst kam sie, auch in der Auffassung der Partie, diesmal glücklich über die gefürchteten Schwierigkeiten der Rolle hinweg. Hans Beirer, der stimmgewaltige Erik, ging an seine Aufgabe ohne Furcht vor der Höhenlage heran und sang laut, aber gut. Derlei naive Partien kommen ihm übrigens entgegen und stellen ihn nicht vor darstellerisch unlösbare Probleme. Oskar Czerwenka ließ, als Type ausgezeichnet, im ersten Akt Höhe, Tiefe und stimmliche Kraft vermissen, sang aber die Arie des zweiten Aktes gut. Vorzüglich war Murray Dickie als Steuermann.
RIGOLETTO am 14. Februar
An diesem Abend übernahm Hilde Güden die Partie der Gilda; Im Gesamteindruck eine weit geschlossenere Leistung als Ruth-Margaret Pütz. An jeder Phrase der Güden konnte man merken, daß eine äußerst musikalische Sängerin, eine Meisterin in ihrem Fach, auf der Bühne stand. Ihre schöne, zarte Stimme bildete einen wirkungsvollen Kontrast zu Aldo Prottis kraftvollem Organ. Dazu sieht diese Gilda wirklich wie ein junges Mädchen aus, in das sich auch ein Herzog verlieben kann. Giuseppe Zampieri wirkte stimmlich von Aufführung zu Aufführung besser, wurde auch musikalisch sicherer. Am diesem Abend gab es lediglich im ersten Akt einige rhythmische Unsicherheiten, die er noch ausmerzen müßte. Aldo Protti schien in dieser Aufführung ein wenig übermüdet, was kein Wunder war. Er sang jeden zweiten Tag eine Riesenpartie. Das war selbst seinem äußerst robusten Organ etwas zu viel. Tullio Serafin stand im Mittelpunkt des Beifalls.
DIE ZAUBERFLÖTE am 15. Februar
Schon zeigt es sich, daß das verständige Publikum der Oper nach Karajans Rücktritt fern zu bleiben beginnt. An seiner Stelle schickte man reihenweise Schulkinder im Alter von 12 bis 14 Jahren ins Haus am Ring, die beinahe die Hälfte aller Galeriesitze bevölkerten. Voll besetzt waren sie damit, das läßt sich nicht leugnen. Die Aufführung selbst hatte schwaches Niveau, und einige deutsche Gäste, mit denen wir ins Gespräch kamen, erklärten achselzuckend, daß man eine derartige Aufführung an jeder deutschen Mittelbühne sehen könnte. Soweit sind wir also glücklich wieder! Unter Heinrich Hollreisers uninspirierter und schlampiger Orchesterleitung sang Erika Mechera die Königin der Nacht, doch ging mit ihr kein Stern auf. Gerda Scheyrer und Waldemar Kmentt waren Pamina und Tamino, die ihre bekannten Vorzüge (Stil) und Nachteile (stimmliche Begrenzung und zu wenig Ausdruck!) zeigten. Kurt Böhme sang den Sarastro, unhörbar in der Tiefe und wenig kultiviert. Erich Kunz sang um die Gunst des Publikums und erzielte den stärksten Beifall mit der Prosastelle: „So soll mich die Erde verschlingen." Worauf wir uns jedes weiteren Kommentars enthalten.
DER ROSENKAVALIER am 16. Februar
Diese Aufführung machte uns mit Regina Sarfaty, die in Zürich und München verpflichtet ist, bekannt. Die Sängerin verfügte über eine gute Bühnen-erscheinung, wie über einen wohlklingenden Mezzo, dessen Stärke vorläufig noch auf Mittellage und Tiefe beruht. Die Höhen der Künstlerin klangen im ersten Akt frei, doch bald darauf trat die Überforderung mit der Partie zu Tage. Plötzlich schlich sich ein Tremolo in der Höhenlage ein, welches uns für die Zukunft der Sängerin bangen läßt. In der Darstellung war außerdem zu bemerken, daß die junge Solistin noch sehr wenig Bühnenerfahrung besitzt. Kein Wunder, daß Hilde Zadek als Marschallin neben dieser Nachwuchspartnerin sehr gut zur Geltung kam, wobei zu betonen wäre, daß ihre Phrasierung und ihr Ausdruck noch nie so stark wirkten, als neben dem Neuling. Die Krone gebührt Hilde Güden als Sophie. Sie besaß alle Vorzüge, die zum Teil ihren Kolleginnen fehlten: Persönliches Timbre, Ausdruck, Phrasierung und Technik. Den Ochs auf Lerchenau sang und spielte Kurt Böhme auf seine (nur) robuste Art, mit der wir uns in Wien nicht befreunden können. Alfred Poell wirkte noch immer durch seine charmante Darstellung des Faninal, was man von Anton Dermota als Sänger nicht mehr behaupten kann. Mit der Arie skizziert er nur mehr einen Schatten seiner Schallplattenaufnahme. Am Pult stand Heinz Wallberg, der nach einem nicht sehr differenzierten, aber dafür gedämpften ersten Akt später zu seiner gewohnt guten Form fand. Am besten gefiel uns der dritte Akt, wo Wallberg das Orchester wieder zu einer prächtigen Leistung anspornen konnte.
LA BOHEME am 17. Februar
Was das Quartier Latin an diesem Abend bevölkerte, hatte nicht immer Staatsopernformat. Weder Frederick Guthrie (Colline) noch Hans Braun (Schaunard) kamen über sehr bescheidene Leistungen hinaus und Mimi Coertse als Musetta outrierte wieder. Die positiven Leistungen überwiegen jedoch. Über Wilma Lipps Mimi gehen die Meinungen auseinander. Ihr heller Sopran ist jedenfalls für diese Puccinipartie nicht prädestiniert. Die Künstlerin bemühte sich sehr um verinnerlichte Darstellung. Trotzdem erweckte Mimis Schicksal nicht die volle Anteilnahme, blieb nur eine kleine belanglose Begebenheit anno 1870. Auch großen Sängern liegt nicht jede Partie gleich gut, doch hatte diese Leistung Niveau, jenes Niveau, das sechs Jahre lang dem Haus als Maßstab für italienische Aufführungen galt, während nun, wenn auch noch halb in der Versenkung die Nibelungen darauf lauern, daß ihr Neid gierig den Glanz zernage! Prächtig bei Stimme war Aldo Protti, ein eckiger, wuchtiger Maler, der den Pinsel wie ein Schwert umfaßt und seine Inspirationen mit der Faust auf die Leinwand knallt. Zudem ließ er seinem Riesenorgan freien Lauf, so daß er bei geöffneter Hinterbühne hätte ruhig vom Sacher aus nach seinen Freunden rufen können (1. Akt). Außerdem müssen wir Protti nachdrücklichst dafür danken, daß er jetzt in der Krisenzeit als Bariton von Weltruf die Wiener Bastion hält. Fragt sich nur, wie lange noch – wenn nicht die Krise bald beigelegt ist! Die größte Überraschung war Giuseppe Zampieri als Rudolf. Noch bis vor kurzem fürchteten wir für seine Stimme, deren früherer Glanz wie alter Lack abzubröckeln schien. Doch plötzlich ist Zampieri wieder da (von einigen Spitzentönen abgesehen, die auch jetzt noch gepreßt werden). Einen so gefühlvoll gesungenen Poeten haben wir schon lange nicht mehr gehört. Und siehe da! Die Stimmung im Haus stieg sogleich um etliche Grade. Zampieris Leistung wurde nachhaltig akklamiert. Kritisch zu vermerken: darstellerisch wirkte Rodolfo arg phlegmatisch. Die Palme des Abends (im positiven Sinne) gebührt dem greisen Tullio Serafin, der mit dieser Interpretation über sich selbst hinauswuchs. Wie er die Feinheiten der Partitur zum Erklingen brachte, die lyrischen Passagen Puccinis in weit ausschwingenden Bögen ausbaute und mit einem kecken Augenzwinkern und spritzigen Tempi ins Quartier Latin hineinleuchtete, das war einfach großartig. Mit Wehmut denken wir daran, daß auch dieser Dirigent den Lebenszenit schon längst überschritten hat. An solchen Abenden verstummt immer jegliches Gerede vom einheimischen Ensemble und von Boheme in deutscher Sprache. Jetzt steht der Gedanke daran als Alptraum drohend im Hintergrund.
ELEKTRA am 18. Februar
Heinz Wallberg am Pult sorgte für eine musikalisch spannende Elektra-Interpretation. Er wußte das große Orchester nicht nur zu dramatischen Ausbrüchen anzueifern, sondern auch gegebenenfalls richtig zu dämpfen, um den Solisten damit zu ihrer Wirkung zu verhelfen. Ausgezeichnet ist seine Schlagtechnik, die ihn weit über viele seiner Kollegen stellt. Nicht so sehr beeindruckten die Solisten in stimmlicher Hinsicht, mit Ausnahme Otto Wieners, der einwandfrei den Orest sang. Dafür gaben sich alle unendliche Mühe, ihre Rollen von der schauspielerischen Seite her zu erfassen. Christl Goltz’ Ausdrucksskala als Elektra ist ebenso bekannt wie Elisabeth Höngens überwältigende Darstellung. Doch während Frau Höngen auch an stimmlich schwachen Abenden wohl verminderte Stimmleistung, doch niemals zu tief gesungene Töne bieten, kann das aber von Frau Goltz leider nicht behauptet werden. Hilde Zadek blieb als Chrysothemis auf dem gewohnten Niveau.
RIGOLETTO am 19. Februar
Kaum ist Ernst Poettgen an die Ufer des Neckarstrandes zurückgekehrt, beginnt die Neuinszenierung schon zu zerfallen. Besonders der erste Akt ist in ein heilloses Durcheinander geraten: Tänzer und Statisten irren ziellos durch die „Tempelhalle", als habe es nie eine Ensembleprobe gegeben. Im dritten Akt wieder hocken die „Edelritter" des Hofes zu Mantua mit übereinander geschlagenen Beinen im Vorzimmer der Herzogs und scheinen gelangweilt auf die Auszahlung der Weihnachtsremuneration zu warten. Je öfter man diese Inszenierung sieht, desto mehr geht einem der Super-Realismus Poettgens auf die Nerven. Absolute „Höhepunkte" dieser Verdi-Interpretation anno 1962: die fachgerechte Knebelung Giovannas und Gildas Tod im gefütterten Schlafsack auf der Straße vor der „Ganoven-Schmiede". Wieder dominierte Aldo Prottis Hofnarr dank seiner Riesenstimme und dem großartigen Wandel in der Gestaltungskunst: Zu Beginn ein zynischer Spaßmacher, dann ein nach Rache sich verzehrender Vater, schließlich ein Verzweifelter an der Leiche seiner Tochter. Allein schon diese Partie würde Protti zur absoluten Weltklasse abstempeln. Hilde Güden sang abermals die Gilda und war ihrer Premierenkollegin um etliche Längen überlegen. Sie sang eine ruhige, gelöste und in allen Registern sehr ausgeglichene Gilda, der man lediglich etwas mehr Temperament wünschte. Giuseppe Zampieri ist zwar ein jugendlicher, aber kein feuriger Herzog. Es fehlt ihm das gewisse Etwas, um diese Partie ins Außergewöhnliche emporheben zu können. Rudolf Knoll als Monterone bleibt eine undiskutable Fehlbesetzung. Frederick Guthrie zog gegen seinen Vorgänger Mazzoli den Kürzeren. Giulietta Simionato widmete der Maddalena ihre Aufmerksamkeit. Ihre unmotivierten ‚Ha-Ha’-Rufe bei der Premiere hatte sie auf zwei reduziert. Vielleicht tut sie sich und uns den Gefallen, sie nächstes ganz unter den Tisch fallen zu lassen. Tullio Serafain dirigierte diesmal wieder sehr unausgeglichen, meist aber zu breit und zu langsam, so daß keine Funken aus dem Orchesterraum emporschlugen. Lediglich im dritten Akt riß der Maestro plötzlich die Zuhörer aus ihrem Dämmerschlaf, doch hielt die Freude darüber leider nicht bis zum Finale vor. Der greise Serafin nahm die Schlußovationen, die ihm an diesem wie auch an allen vorangegangenen Abenden von den hiesigen Opernfreunden dargebracht wurden, lächelnd und zufrieden entgegen. Es war der letzte Abend seines Wiener Gastspiels, dessen Erfolg sicher noch größer gewesen wäre, hätte sich nicht der Schatten der Karajan-Krise darüber gebreitet.
DON GIOVANNI am 20. Februar
Vor Beginn der Aufführung erklang, im Gedenken an den verstorbenen Bruno Walter Mozarts „Maurerische Trauermusik", von den Wiener Philharmonikern mit so viel Liebe gespielt, daß man spürte, wie sehr sie den toten Dirigenten verehrten. Der nachfolgende Don Giovanni hatte überdurchschnittliches Niveau. Heinz Wallberg dirigierte diese Oper das erste Mal und brachte eine Aufführung zustande, wie wir sie in den letzten Monaten nicht annähernd so gut gehört hatten. Die Tempi, manchmal etwas bereiter als gewohnt, aber klug disponiert, eine sehr ernste, dramatische Auffassung, die der Leporello-Blödelei wenig Raum gibt, sehr schön gebaute Steigerungen innerhalb der einzelnen Szenen und innerhalb des ganzen Werkes, ein gut abgestimmter Orchesterklang, der nur manchmal zwar nicht dick, aber etwas schwer war und mehr südliche Durchsichtigkeit vertragen hätte. (z. B. bei „batti, batti, o bel Masetto…", wo beispielsweise bei Karajan die bewegte, schmeichelnde Cellomelodie ganz charakteristisch hervortritt, die diesmal ganz im Gesamtklang verschwand). Gott sei Dank gab es wieder ein Cembalo für die Rezitativbegleitung. Die Sänger waren alle gut disponiert. Wilma Lipp war die beste der drei Damen. Ihre Donna Elvira war stimmlich und darstellerisch ausgezeichnet. Gerda Scheyrers Donna Anna war nach der durch den verspäteten Auftritt bedingten Nervosität im weiteren Verlauf des Abends sehr gut, und Emmy Looses Zerlina fügte sich brav ein. Bei den Herren überraschte Eberhard Wächter mit einigen neuen Charakterzügen seines Giovanni. Anscheinend bedingt durch die dunklere, schwerere Art der Wallberg’schen Interpretation, brachte er neben Charme und Eleganz etwas herrische Brutalität zur Schau, die der Partie wohl anstand. Anton Dermota war stimmlich ausgezeichnet disponiert. Erich Kunz konnte einige schauspielerische Entgleisungen nicht sein lassen. Stimmlich schwach waren Kostas Paskalis und Frederick Guthrie. Ein Kapitel für sich war das Publikum. Sehr viele Schulkinder unter 14 Jahren, viel Unruhe im Haus und einige Dauerhuster. Man stopft in diesen Tagen andauernd Schulklassen in den Zuschauerraum, damit niemand auf die Idee kommt, das Wiener Stammpublikum bleibe dem Haus nun ferne – falsch gerechnet!
LA TRAVIATA am 21. Februar
„Keine Stimmung im Haus. Auch für uns Künstler ist es in der gegenwärtigen Situation nicht leicht, eine Höchstform zu erreichen", meinte Giuseppe Zampieri bei einem Gespräch um die Mittagszeit. Abends fanden wir seine Ansicht rasch bestätigt. Die Sänger dienen gegenwärtig ihre Abende ab, gehen nicht allzu sehr aus sich heraus und beschränken sich darstellerisch auf Routinebewegungen. Für wen denn auch? Das Stammpublikum macht ums Haus einen weiten Bogen, so ist die Bahn freigebend für Freikartenliebhaber und Schulkinder. Für die nächsten Wochen ist laut Vorankündigung mit einer Invasion des „heimischen Ensembles" zu rechnen, so daß das Stammpublikum schon Pläne schmiedet, um Autobusreisen nach München und Mailand zu organisieren! Weit haben wir’s, bzw. die Bundestheaterverwaltung gebracht. Zurück zur Aufführung, deren verstaubte und restlos veraltete Bühnenbilder jeden Blick auf die Bühne überflüssig machen. Hilde Güden machte die Lebedame durch stets kultivierten Gesang und ihre großartige Technik im Bunde mit der exzellenten Beherrschung der italienischen Sprache zum Ohrenschmaus. Aldo Protti als Vater Germont hatte einen seiner rauhen Abende und schaltete auf Sparsystem um. Wir können es ihm wahrlich nicht verübeln. Dasselbe gilt von Giuseppe Zampieri (Alfredo), der nach einem sehr schwachen ersten Akt im Laufe des Abends ein wenig besser wurde. An seinen Erfolg als Rudolf vom 17. Februar konnte er nicht anknüpfen. Berislav Klobucar löste den wieder abgereisten Tullio Serafin im italienischen Fach ab und war bestrebt, möglichst rasch zum Finale durchzustoßen, gab aber den Sängern wenigstens präzise Einsätze! Der Chor war unpräzise und machte aus der Ballszene steifes, höfisches Zeremoniell.
LA BOHEME am 22. Februar
Beim Anblick der vielen Kinder, die man ins Haus schleust, um die Lücken zu füllen, wird man unwillkürlich an die Nachmittagsvorstellungen vergangener Zeiten, doch auch an das Niveau dieser Aufführungen erinnert. Gute Handwerksarbeit. Orchester, Solisten und Beleuchter tun ihr Pflicht, aber nicht mehr. Die Zeiten der Feste scheinen vorbei. In diesem Zusammenhang muß festgestellt werden, daß daran Albert Moser keine Schuld beigemessen werden kann, ihm vielmehr Dank dafür gebührt, daß er in rast- und selbstlosem Einsatz dafür Sorge trägt, daß der Spielbetrieb im herrenlosen Haus überhaupt aufrechterhalten werden kann. Waldemar Kmentt sang seinen zweiten Rodolfo in italienischer Sprache. In musikalischer Hinsicht ist er manchem italienischen Fachkollegen an exakter Beherrschung der Rolle überlegen, doch vom Stimmlichen her ist sein Poet ohne Poesie. Gundula Janowitz sprang für Frau Lipp als Mimi ein. Ihre große, schöne und kraftvolle Stimme verschluckte in den Duetten mit Rodolfo die ihres Partners. Unserer Meinung nach ist die Übernahme der Mimipartie nur eine Station in der Entwicklung der Sängerin, die deutlich ins deutsche jugendlich-dramatische Fach tendiert. Eberhard Wächter bewies, daß er als einer der wenigen der jungen Generation in die Spitzenklasse aufgerückt ist. Doch machte er auf uns diesmal als Marcello einen verdrossenen Eindruck. Dies wunderte uns nicht. Wächter ist auf der Galerie groß geworden. Die Angelegenheiten des Hauses sind ihm daher wohl über das Persönliche hinaus noch immer so heilig, wie sie es dem Stammpublikum sind, das über die derzeitige Situation mehr erschüttert ist, als man in Ministerien je ahnen und begreifen wird. Lotte Rysanek spielte die Musetta goldrichtig. Ob sie diese Partie auch einmal ebenso singen wird, bleibe dahingestellt. Hans Braun und Frederick Guthrie ergänzten das Quartett und sonnten sich im Schlußbeifall. Berislav Klobucars viele Mühe zeitigte wenig Erfolg.
DIE ZAUBERFLÖTE am 23. Februar
Das war ein unentschuldbarer Abend. Daß wir mit Strauss und Wagner unsere liebe Not haben, ist nichts Neues. Immerhin stellte sich bei Karajans Demission heraus, daß er sich sehr wohl den Kopf zerbrochen hatte darüber, wie diesem Übel beizukommen wäre und auch eine großartige Lösung fand. Sie war allerdings für manchen Horizont zu weltweit um überhaupt annähernd begriffen zu werden. Daß nach seinem Abgang auch der Glanz der italienischen Abende sich sofort in Auflösung befinden würde, war vorauszusehen, aber daß wir in unserer ureigensten Domäne, ausgerechnet bei Mozart, schon jetzt zu einer solchen Katzenjammervorstellung kämen, ist nicht verständlich. Neuerlich beherrschten Schulkinder das Bild des Hauses, ferner hineingeschleuste Sammeltransporte aus den Bundesländern, deren Teilnehmer anscheinend die Staatsoper zum ersten Mal von innen erblickten. Anton Dermota betrat die Bühne in einer derartigen stimmlichen Verfassung, wie ein Künstler von Verantwortungsbewußtsein sich dies niemals erlauben dürfte. Kurt Böhme als Sarastro produzierte eine Prosa, deren salbungsvolles falsches Theater an Gartenlaube im Stile des „Pfarrers von Kirchfeld" erinnerte. Sein Gesang stimmte um nichts versöhnlicher. Peter Klein als Monostatos war leider kaum hörbar, Papagena überragte Papageno um Haupteslänge und das nahm optisch den Szenen des Buffopaares den Charme (Liselotte Maikl und Erich Kunz), und Hilde Güden sang allzu langsam, gedehnt und ohne Temperament. Otto Wiener war ein ausgezeichneter Sprecher, dafür die Comprimarii (mit Ausnahme der Dritten Dame von Hilde Rössel-Majdan) indiskutabel. Heinz Wallberg errang diesmal auch keine Lorbeeren. Seine Tempi schwankten zwischen Dehnen und Jagen, völlig unmotiviert, und was ihm gut geriet, wurde im Eindruck annulliert durch das Damenterzett, das gegeneinander zum Kampf angetreten war.
BALLETTABEND am 24. Februar
FIDELIO am 25. Februar
Die Positiva des Abends waren Heinz Wallberg, der sich aufopfernd bemühte, Stimmung ins Haus zu bringen (was ihm – unserem Empfinden nach – erst mit dem zweiten Akt gelang) und die Florestan-Arie, gesungen von Wolfgang Windgassen. Alles übrige war nicht darnach. Christl Goltz sang zu tief, Paul Schöfflers Pizarro-Zeiten sind vorbei, Teresa Stich-Randalls Dehnungsmethode zeitigte verheerende Wirkung in den Ensembleszenen und Kurt Böhmes Gesang entbehrte jeder Feinheit. Noch schlechteres Niveau als die Leistungen der einzelnen Solisten hatte das zu „ermäßigten Preisen" hineingeschleuste Publikum, das sich bei jedem Fallen des Vorhangs zu klatschen bemüßigt fühlte und damit Unkenntnis des Werkes demonstrierte. Auf solchen Beifall brauchen die Künstler weder stolz zu sein, noch sich dadurch bestätigt zu fühlen, meinen wir.
RIGOLETTO am 26. Februar
Endlich hat sich das „heimische Ensemble" auch dieser Verdioper annehmen dürfen. Trotzdem sind wir der Meinung, daß der Volksopern Troubadour noch beträchtlich schlechter ist! Würden nicht wenigstens Aldo Protti als phänomenaler Rigoletto und Giuseppe Zampieri als passabler Herzog noch die Stellung halten, wäre es traurig um den Ruf der Oper bestellt. Auch ein leicht heiserer und darum nur mit halber Stimme singender Protti ist immer noch besser als alle deutschsprachigen Rigolettos zusammengenommen. Großartig, wie er im dritten Akt mit wuchtigem Einsatz die Zügel an sich riß, so daß der Chor und die umstehenden Comprimarii ungläubig staunten. Seine Leistung wurde nachhaltig akklamiert, übrigens der einzige Beifall des Abends – der Rest erstickte in Müdigkeit! Auch Zampieri ist von seiner Hochform noch entfernt, aber doch besser als jeder heimische Tenor im italienischen Fach. Teresa Stich-Randall als Gilda ließ zwar ihr gefürchtetes Forte nicht ertönen – trotzdem wirkten die Höhen steif und verwackelt. Dazu kam keinerlei Phrasierung und ein larmoyantes Spiel in Hollywood-Manier. Alois Pernerstorfer gab einen undifferenzierten Monterone, Frederick Guthrie versuchte sich wieder vergebens als Sparafucile, und Margareta Sjöstedt kämpfte erfolglos gegen den großen Schatten der Simionato. Ernst Märzendorfer dirigierte einen seiner Abende ab, und die Wiener Philharmoniker folgten ihm freudlos. Was bei Serafin oft zu langsam geriet, kam bei Märzendorfer viel zu schnell.
SALOME am 27. Februar
Der Februar fand sein Ende mit dieser Aufführung, die Heinz Wallberg mit der ihm eigenen Begeisterung dirigierte. Besonders dankbar sind wir ihm dafür, daß er die Judenszene glatt zudeckte und uns so viel Ärger ersparte. Christl Goltz sang und spielte die Prinzessin auf gewohnte Weise (worunter wir auch das ständige Zu-tief-Singen der Spitzentöne verstehen). Otto Wiener war ein durchschlagskräftiger Jochanaan von unwahrscheinlicher Wortdeutlichkeit. Georgine Milinkovic sang die Herodias passabel und mit viel Mimik. Anton Dermota schrie „wie schön ist die Prinzessin Salome" und verlor darob kurz vor seinem Harakiri seinen Helm. Fritz Uhl hatte das Pech, nach Gerhard Stolze den Herodes singen zu müssen, vordem hätte er sicher mit dieser Partie mehr Furore gemacht als nun. Seine Stimme entbehrte an diesem Abend der Leuchtkraft, sie klang dumpf und müde. Ausgezeichnet diesmal Kurt Böhme als erster Nazarener, dem ein weniger guter und fast unhörbarer Hans Braun zur Seite stand. Dagmar Hermanns Page war indiskutabel. Ein Strauss-Abend in solcher Wiedergabe ist zu Hauf an Dutzendbühnen zu finden, deren Niveau wir in diesem Monat mit Rasanz entgegensteuerten.
GESCHLOSSEN am 28. Februar
wegen Vorbereitungen zum Opernball