DER APRIL 1963

8. Jahrgang, Heft 5

 

Wetterwendisch wie der April war auch das Programm und das Niveau der Aufführungen in diesem Monat, jedoch überwog das Gute durch die Anwesenheit des Chefs (der uns nach Ostern wieder für längere Zeit verläßt) in den ersten Tagen und das völlig überraschende Engagement von Cesare Siepi, der so recht ein Sänger für Feinschmecker ist. Dieser prachtvolle Künstler hätte etwa besseres verdient, als die Dirigenten Verchi, den falsch eingesetzten Keilberth und Märzendorfer. Obendrein fiel ihm die Aufgabe zu, uns den Abschied von der Don Giovanni-Inszenierung der sogenannten Austrian Coronation zu erleichtern, die jetzt ins Depot wandert. Wenn nur die Aida auch schon dort wäre, dann hätten wir die Folgen der Operneröffnung jetzt schon bald überstanden. Interessant war, daß alle Abende, an denen Siepi sang, zum größten Grimm des Publikums bei sehr oder fast vollkommen beschränktem Kartenverkauf vor sich gingen. Es kann uns doch niemand erzählen, daß man in der Bundestheaterverwaltung nicht gewußt hat, daß Siepi singt und das halbe Haus für seinen mit Spannung erwarteten ersten Giovanni an die Gewerkschaft verscheuern mußte, die sich sicherlich mit Rudolf Jedlicka oder Kim Borg auch zufrieden geben würde. Da der Verkauf (zu erhöhten Preisen!) an die Gewerkschaft erst erfolgte, als die Abende Siepis bereits in der Zeitung bekanntgegeben wurden, hören wir im Falle Kartenverschleichens jetzt endgültig auf, „auf blinde Meinung allein“ zu klagen! Das ist eine ausgewachsene Bosheit, nur ersonnen, um das Publikum zu reizen und zu Unmutsäußerungen zu zwingen, ein mutwilliges Verschleudern leicht erreichbaren Geldes, um den Finanzminister grantig zu machen und eine geschickte Revanche der Anhänger früherer Direktoren und versetzter Beamter. Man muß es schon als Borniertheit sondergleich bezeichnen, daß sich die Direktion der Staatsoper in der Meinung befindet, die Kartenfrage ginge sie nichts an. Es kann ihr nicht gleichgültig sein, ob die Karten in die Hände eines Publikums gelangen, das immer zu Karajan gehalten hat, oder an die versammelte Gegnerschaft desselben, die sich immer nur in den guten Aufführungen breit macht. Da muß einmal ein kräftiges Donnerwetter dreinfahren! Im ersten Stock der Wiener Oper sitzen doch Leute genug, die die Unterwanderung der Direktion Karajan, erzielt durch steigende Verbitterung des kartenlosen Publikums, aufhalten können!

 

DIE KRÖNUNG DER POPPEA am 1. April, Neuinszenierung

Die Monteverdi-Renaissance in deutschen Landen hat uns verhältnismäßig spät erreicht. Nun gut, wir sind daran gewöhnt, spät dran zu sein. Sensationellerweise ist der Wiener Staatsoper aber mit Monteverdis reifem Alterswerk eine Musteraufführung gelungen, die stilbildend wirken sollte. Es wird dem Merker der Vorwurf gemacht, daß er nur über Aufführungen, weniger über die Werke selbst berichte. Wir sehen nun nicht ein, wozu ein Elaborat etwa über das Stück Der fliegende Holländer dienlich sein sollte, wenn es dreimal des Monats gegeben wird und dazu noch die Tatsache tritt, daß unsere Leser die Stücke ohnedies kennen. Im Falle einer Aufführung von Monteverdis Poppea sind wir in der glücklichen Lage, von unserer Gewohnheit, nur selten etwas über Stücke zu schreiben, nicht abgehen zu müssen, während die Fachkritik in diesem Falle auch nichts zu berichten wußte, außer dem, was sie von Rennerts Artikel im Programmheft abschrieb. Aber wir setzen auch von unseren Lesern voraus, daß sie über den „Göttlichen Claudio“ orientiert sind, besonders über die unvollständige Aufzeichnung seiner Werke, die eine völlig neue Instrumentation erfordert. Wir haben in Wien vor vielen Jahren im Rahmen eines Musikfestes der Konzerthausgesellschaft eine Hindemith-Fassung des Orfeo gehört, auf alten Instrumenten gespielt (von den Vorläufern des Concentus musicus) und es war ein Erlebnis eigener Art. Die große, edle Linie, die stille Erhabenheit, die vornehme Form eines im Kostüm gesungenen Oratorienabends faszinierte – und machte Angst davor, einem Werk von Monteverdi zwischen Smetana und Wagner, Mozart und Puccini, Lortzing und Strauss als Repertoirestück auf der Bühne der Staatsoper Wien zu begegnen. Doch es kommt besonders in Wien immer anders, als man denkt. Die Wiener Oper benützt eine eigene Neufassung (von Erich Kraack), die außer den Cembali (Karajan schlug selbst eines davon und leitete von diesem aus das Werk wie ein Spezialist) nur moderne Instrumente benützt und eine große dramatische, opernhafte Instrumentation zur Diskussion stellte, die herrlich rauscht und trägt und manchmal überraschend modern klingt. Doch das interessanteste war die Führung der Sänger. Die Originalsprache war beibehalten worden, ein „gescheites Shakespeare-Italienisch“ wie es Rennert mit der ihm eigenen Prägnanz formulierte. Es sang das in Wien übliche gemischte Ensemble (neben Wien waren Jugoslawien, Bulgarien, Italien, Schottland und Deutschland vertreten) und dieses Ensemble sang im großen weit ausholenden, dramatischen Opernstil, packend, prägnant, theatralisch ungemein wirksam – Italianità der Renaissance. Wir unterziehen uns mit großer Freude der angenehmen Aufgabe, eine Inszenierung uneingeschränkt loben zu können, in der, wiewohl diesmal von zwei Künstlern gestaltet, alles ebenso stimmte wie etwas beim Falstaff oder Pelleas und Melisande. Die Zusammenarbeit von Dirigent und Regisseur war einfach ideal. Günther Rennerts Meisterschaft in der Führung der Sänger, besonders in den ungemein schwierig zu gestaltenden Lamenti und langen Monologen, seine choreographische Chorgestaltung (grandios der Menschenknäuel bei Senecas Abschied!) und die äußerst präzise Zeichnung der Charaktere sind ein neues Ruhmesblatt im Buch der Taten, die er an der Wiener Oper setzte. Wir haben allerdings einiges Glück gehabt, daß die Incoronazione nicht einige Jahre früher herauskam, als sie wahrscheinlich Caspar Neher noch in Grund und Boden kostümiert hätte. Stefan Hlawa schuf ein in allen Schattierungen wirksames Simultanbühnenbild und Erni Kniepert phantasievolle, in allen Farben ebenso schöne, wie originelle Kostüme. Es mag manche seelenvolle Sängerin reizen, einmal eine Dame zu spielen, die es faustdick hinter den Ohren hat, manchen Schusterpoeten, eine Liebhaberrolle darzustellen. Die Künstler der Wiener Staatsoper konnten sich hier verwandeln. Wer die glückliche Idee gehabt hat, Sena Jurinac die Poppea zu geben, sei gepriesen und bedankt. Die schöne Frau Jurinac hat Rasse und Geschmeidigkeit, ein ausdrucksvolles Gesicht und dramatische Kraft und macht somit die Rolle der ehrgeizigen Kaiserthronanwärterin durchaus glaubhaft. Dazu kommt aber noch, daß sie – mit stets vorhandener slawischer Seele – Poppea auch menschlich adelt und zur wahrhaft Liebenden emporhebt. Stimmlich war sie ebenfalls prächtig (zwei schwierige Situationen meisterte sie geschickt), und der schöne Klang ihrer fülligen Mittellage kam in den verhältnismäßig tiefliegenden Stellen der Partie ganz besonders gut zur Geltung. Margarita Lilowa hat sich mit einer großartigen Ottavia gleich in die Nachwuchs-Spitzengruppe der Wiener Oper hineingesungen. Ihr dunkler, schön timbrierter Alt wird mit dramatischer Energie und einem hohen Maß von Ausdruck geführt. Aber auch Gundula Janowitz vermochte sich als kokette Drusilla stimmlich und darstellerisch von ihrer besten Seite zu zeigen. Olivera Miljakovic legte als wohl erste Soubrette der Musikgeschichte eine weitere Talentprobe ab. Ausgezeichnet auch Hilde Rössel-Majdan als riegelsame römische Dienerin. Gerhard Stolze, dessen Stimme ja nicht so ganz italienisch ist wie die Stimmen der Damen, fasziniert immer wieder aufs Neue durch seinen unverkennbaren Personalstil, die Formung der Gestalt des Nerone und seine souveräne Technik, die ihm allergrößte Sicherheit und damit ungehemmte Konzentration auf die Rolle gibt. Carlo Cava (Seneca) ist der glückliche Besitzer einer lyrischen, weichen, dunklen Baßstimme von großer Schönheit und verbindet dieses Geschenk der Natur mit einem ungemein intelligenten Vortrag und stärkstem Ausdruck. Otto Wiener spielte und sang den Ottone mit dramatischer Kraft, großer Geste und vielen, wirksamen Nuancen. Murray Dickie brillierte als munterer Tenorbuffo, von dem aber enorme stimmliche und technische Kunststücke verlangt werden. Gerda Scheyrer, Ermanno Lorenzi und Siegfried Rudolf Frese waren gute Comprimarii, während es Erich Majkut fast gelang, seine Szene unter dem höhnischen Gelächter des Auditoriums zu schmeißen. Er outrierte derart, daß er bei jedem Auftritt schon die Heiterkeit des Hauses hervorruft. Diese Partie muß man schleunigst mit dem korrekten Herrn Equiluz umbesetzen. Herbert von Karajan leitete die herrlich strömende Musik mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit, seiner Kraft, seines Wissens und seines Könnens. Die Herren des Chores übertrafen sich diesmal selbst (Senecas Abschied!), das Orchester spielte prachtvoll. Das anfänglich erstaunte und immer mehr enthusiasmierte Publikum feierte die Künstler (Günther Rennert hatte sich leider schon abgesetzt) mit Begeisterung. L’Incoronazione di Poppea hat die besten Aussichten, ein Niveau-Knüller zu werden.

 

CARMEN am 2. April

Georges Pretre gelingt es, die Atmosphäre der Carmen-Musik greifbar zu machen, und zwar dadurch, daß er bei allem Temperament doch immer die Linie im Auge behält, die Grazie, die Eleganz, die französische Musik immer haben muß. Das Orchester wußte er auch in seinem Sinne zu beeinflussen. Der Chor stieg ihm gelegentlich aus. (Er weiß schon, warum er immer nach Proben verlangt, man muß sie ihm geben!) Unter solcher Leitung wurde die Aufführung natürlich vorzüglich, obzwar die Trägerin der Titelrolle in keiner Weise den Anforderungen der Partie entsprach. Sona Cervena (weiß Gott warum man sie wieder engagierte, mit den Damen Cvejic und Lilowa scheint dieses Fach doch ganzjährig belegt zu sein) trat als schlankes Wildkätzchen auf und stolperte gleich bei den ersten Schritten auf der Bühne, was sich als böses Omen erwies. Sie spielte mit roter Innenrollen-Frisur eine Carmen-Auffassung, die zwischen Trotzköpfchen auf Männerfang und Camencita à la Hollywood eine gar nicht goldene Mitte hielt, und ließ stimmlich sowohl in der Höhe als auch in der Tiefe sehr viel vermissen. Die paar schönen Töne in der Mittellage konnten daran nichts ändern. Dimiter Usunow hatte mit dem Micaela-Duett Schwierigkeiten, wuchs aber schon im Verlauf des zweiten Aktes, dessen Finale er geradezu überglänzte, in die Rolle hinein und überzeugte im 3. und 4. Akt sowohl gesanglich als auch darstellerisch. Ettore Bastianini hat den Vorteil, den Escamillo, mit dessen Darstellung sich oft verdiente und ausgezeichnete Sänger furchtbar plagen, gar nicht spielen zu müssen. Er scheint mit dieser Rolle völlig eins zu sein. Leider half ihm sein sex-appeal nicht beim Singen. Die Stimme hatte keinen Halt und bröselte in der Mittellage bedenklich. Die Höhen kamen schön und sicher. (Der obligate Ausstieg erfolgte prompt auch diesmal). Wilma Lipp sang die Micaela im ersten Akt bezaubernd. Im dritten gab sie wieder einmal viel zu viel Stimme, die, wenn sie mit Gewalt behandelt wird, zur Unruhe in den oberen Lagen neigt. Die Leistungen der Comprimarii bewegten sich zwischen vorzüglich (Frederick Guthrie und Kostas Paskalis) gut, (Lotte Rysanek) bis zumindest unauffällig (Margarita Sjöstedt, Kurt Equiluz und Harald Pröglhöf).

ARIADNE AUF NAXOS am 3. April

Eine Vorstellung mit Höchstleistungen und Versagern. Das Ereignis des Abends fand diesmal schon im Vorspiel statt. Das Zusammentreffen von zwei idealen Interpreten des Komponisten und des Musiklehrers in der Gestalt von Sena Jurinac und Paul Schöffler. Frau Jurinac fand wie immer in dieser Rolle echt empfundene hinreißende Töne, voll von jugendlichem Ungestüm schon in der Stimme. Sie war bis ins letzte Detail der Rolle überzeugend. Man glaubte ihr einfach alles. Weise, verständnisvoll dem Drängen der Jugend gegenüber, den Überschwang bremsend, mit guten Ratschlägen weiterhelfend, ein wirklicher Lehrer und Führer, Herr Schöffler. Auch in der Zerbinetta, die manchmal zu einer reinen Spielfigur und Stimmpuppe degradiert wird, schlug dank Reri Grist diesmal ein menschliches, mitfühlendes Herz, was besonders dem Duett mit dem Komponisten zu großem Vorteil gereichte. Das außerordentlich Spieltalent dieser Sängerin entfaltete sich dann vollends auf der „öden Insel“, wo sie durch quicklebendiges, kokettes Spiel und ihren frischen, durchschlagskräftigen und sicheren Koloratursopran Furore machte. Auf Naxos herrschte diesmal Lisa Della Casa, die gegen etwaige Schwierigkeiten tapfer ankämpfte. Die Höhe wirkte jedoch forciert, ohne den alten Glanz. Sie beeindruckte aber durch noble Gesangslinie, Kultur des Singens und Geschmack im dramatischen Ausdruck. James King blieb darstellerisch ein ziemlich farbloser, unpersönlicher Bacchus. Rein gesanglich war an seiner Leistung aber kaum etwas auszusetzen: Die Stimme ist kräftig, gut durchgebildet und konnte sich allen Forderungen des Komponisten gut anpassen. Es fehlt nur die Persönlichkeit, die noch immer den Künstler ausmacht. Die drei Nymphen (Laurence Dutoit, Hilde Rössel-Majdan und Gundula Janowitz) und Zerbinettas vier Verehrer (Ljubomir Pantscheff, Ferry Gruber, Erich Majkut und Kostas Paskalis) machten sich durch ungenaue Einsätze und unsaubere Intonation diesmal das Leben schwer. Im Verein mit dem Spiel des Orchesters, das manchmal sehr im Argen lag, konnte man einige Stellen kaum wieder erkennen. Die Leitung über dieses Durcheinander hatte Hans Swarowsky inne. – Armer Richard Strauss! Seine Musik wurde diesmal nur von einigen Künstlern erfaßt.

TANNHÄUSER am 4. April

Herbert von Karajan dirigierte wieder seinen Tannhäuser, der – an sich eine prachtvoller Leistung – für viele Wagnerianer alten Schlages etwas anstößig zu sein scheint, denn er macht ihn absolut nicht „deutsch“. Seine Inszenierung enthält strenges, byzantinisches Zeremoniell und die große Geste provenzalischen Troubadour-Geistes, was sich wohl mit dem mittelalterlichen Thüringen, wie es sich der Wagnerianer vorstellt, ziemlich schneidet. Das wirkt sich natürlich auch musikalisch an einigen Stellen ungewohnt aus, speziell im Tempo, bringt aber ungeahnte Steigerungsmöglichkeiten, die in einer „braveren“ Interpretation nicht drinnen sind. Aber das sind Fragen des Geschmackes. Einem gefällt es, dem andern nicht. Tatsache ist, daß die Aufführung von mal zu mal geschlossener wirkt. Wolfgang Windgassen sang nach langer Pause wieder in Wien den Tannhäuser und zeigte sich als vorzüglich in das Konzept passender, fiebernder und konzentrierter Darsteller und stimmlich in guter Verfassung. Die Romerzählung war ein Meisterstück an Aufbau und Intensität. Hermann Prey debütierte mit dem Wolfram am Ring und schien ziemlich nervös gewesen zu sein, was sich speziell im ersten Akt dadurch äußerte, daß die weiche Stimme den typischen Prey-Klang verlor. Dies wurde durch das heftige, sich wie Schluchzen anhörende Draufhauen zur Stimmverstärkung noch deutlicher hörbar. Im zweiten Akt und beim Abendstern war dann eine deutliche Besserung festzustellen, und die Stimme hatte wieder den gewohnten schönen Klang. Seine Auffassung ist allerdings ungewohnt. Preys Wolfram ist weniger Ritter, als fahrender Sänger mit Romantik im Herzen und Wehmut in der Kehle. Man muß bis zu Schöffler und wahrscheinlich noch weiter zurückgehen, um eine ähnliche lyrische Interpretation der Rolle zu finden. Walter Kreppel scheint sich wieder etwas erholt zu haben und sang den Landgrafen sicher und würdevoll. Die Damen Gré Brouwenstijn und Grace Hoffman erwiesen sich in ihren Standardpartien wieder als stilvolle und ausdrucksstarke, moderne Wagnerinterpretinnen. Die kleineren Rollen hatten die Premierenbesetzung und waren sehr gut gesungen.

DON CARLOS am 5. April

Nun haben wir jahrelang danach gerufen, daß nicht nur Tenöre und Baritons, sondern auch die großen Bässe des italienischen Fachs unbedingt in Wien singen müßten. Sechs Jahre lang geschah nichts und nun haben wir plötzlich innerhalb eines Jahres die drei größten italienischen Bassisten (was das Fach, nicht die Nationalität betrifft) hören dürfen. Man freut sich ehrlich darüber, daß es nun plötzlich gegangen ist. Der lang erwartete Cesare Siepi sang an diesem Abend zum ersten Mal in der Wiener Staatsoper. Hier stand der Meister des Belcanto vor uns, der Meister der Phrase, der mit dem dunklen Samt seiner Stimme ein Opernhaus in atemloses Staunen zu setzen vermag. Auch in Italien gibt es wenige solche Stimmen, die emporstreben wie Säulen, wo jeder Ton gleich voll und gleich schön ist und wo jede Phrase ihre vollkommene Rundung hat. Das nur im Allgemeinen. Der König Philipp Cesare Siepis ist noch dazu ein Meisterstück von Charakterisierungskunst, am ehesten von allen großen Philipp-Interpretationen ein Habsburger, ein Herrscher, dessen Überzeugung es ist, von höheren Mächten eingesetzt zu sein, und der unendlich fern und unendlich überlegen über allem steht, bis ihn die Konflikte mit den Mächten und Leidenschaften der Welt brechen. Carlo Cava bot nach seinem Seneca mit einem ausgezeichnet gesungenen und eindrucksvoll gespielten Großinquisitor die zweite große Überraschung. Ettore Bastianini begann gut und sang die Szene mit dem König prächtig, wurde aber zusehends müder und unkonzentrierter. (Ein Schmiß im Quartett!). Bei Posas Abschied kam er nur mehr mit Technik über die Runden. Der Tod war dann wieder gut. Immerhin paßten die drei dunklen Stimmen herrlich zueinander. Manchmal ergeben sich zufällig solche Übereinstimmungen, die von den verantwortlichen Besetzern wohl kaum geplant worden sind. Giuseppe Zampieri sang einen erfreulich guten und stimmlich kraftvollen, dazu wunderbar phrasierten Carlos und Sena Jurinac war als Königin nicht nur ein Idealbild der Rolle, sondern auch stimmlich gut. Störend wirkte die eingesprungene Oralia Dominguez als Eboli, die drei verschiedene Stimmen hat, wovon eine steife, schrille Höhe die unangenehmste ist. Kurt Equiluz ist der erste gute Herold, den wir je gehört haben. Alberto Erede war ein gelegentlich etwas zu harter und zu lauter, aber immerhin dramatischer Dirigent.

DER ROSENKAVALIER am 6. April

Wegen mehrfacher Erkrankungen mußte Figaro dem Rosenkavalier weichen. Ernst Märzendorfer übernahm das musikalische Szepter und dirigierte einen Richard Strauss, den Richard Strauss seinerzeit als Direktor sicherlich abgelehnt hätte. Doch – tempora mutantur – Ernst Märzendorfer wurde sogar für dieses Werk nach Rom eingeladen. Rom ist aber in punkto deutscher Oper noch lange nicht richtungsweisend. Die Titelrolle verkörperte Irmgard Seefried mit allen ihren Vorzügen (Mittellage und Gesangskultur) und Nachteilen (stumpfe Höhe und neckisches Spiel). Einen ganz glaubhaften Quin-Quin auf die Bühne zu stellen, wird ihr kaum gelingen, weil sie dazu viel zu weiblich ist. Die Marschallin sang Lisa Della Casa routiniert in der derzeit üblichen Form. Hanny Steffek war die Sophie. Der Erfolg bleibt ihr in dieser Rolle versagt. Sie ist zu wenig charmant, und die Rosenüberreichung ist für sie ein in gesanglicher Hinsicht kaum zu überwindendes Hindernis. Otto Edelmann bot als Ochs seine gewohnte Leistung. Die übrigen Nebenrollenträger waren wie gewohnt besetzt und verdienen weiter keinen Kommentar. Ein Straussabend, der zwar für die Wiener Oper charakteristisch ist, aber dennoch im Interesse des Institutes nicht vorkommen sollte.

TOSCA am 7. April

Miltiades Caridis war als Dirigent des Abends viel zu eigenwillig, um den Künstlern auf der Bühne eine Stütze zu sein. Viel zu breit ließ er das Werk dahinströmen, wobei die Spannung auf ein Minimum beschränkt wurde. Gré Brouwenstijn in der Titelrolle war keine Primadonna im italienischen Stil. Zwar hat sie genug Ausstrahlung und Persönlichkeit, um darstellerisch überzeugen zu können, doch letzten Endes gehört die Partie auch im italienischen Stil gesungen und das tat Frau Brouwenstijn nicht. Die Stimme ist im Vergleich zu den letzten Jahren matter geworden, die dramatischen Ausbrüche verloren dadurch an Wirkung und last not least muß sich die Künstlerin mit den Spitzentönen, die teilweise falsch ankamen, sehr plagen. Ettore Bastianini dürfte ebenfalls den Höhepunkt seiner Karriere überschritten haben. Diesmal wirkungsvoller im Spiel als sonst, hörte man wieder, daß das samtene Organ des Sängers eine Einbuße erlitten hat. Der baritonale Glanz, den er als Scarpia sowieso auch in seiner besten Zeit nur stellenweise im zweiten Akte ausspielen konnte, ist in seiner Stimme nicht mehr vorhanden. Die geballten stimmlichen Ausbrüche, die die Grenzen seiner Stimmkapazität erkennen lassen, bieten dafür keinen Ersatz. Angenehm überraschte diesmal Giuseppe Zampieri, der sehr kultiviert und animiert den Cavaradossi sang. Seine übliche Lethargie schien er an diesem Abend daheim gelassen zu haben, was die Szene mit Scarpia bewies, wo man nicht nur um den Polizeipräfekten, sondern auch um die Einrichtungsgegenstände der Inszenierung bangte. Endlich hörte man einen gesungenen Angelotti! Dafür gebührt Carlo Cava herzlicher Dank. Der Beifall des Hauses hielt sich in Grenzen, was verständlich ist, weil Tosca so oft auf dem Spielplan steht und die zahlreichen Vergleichsmöglichkeiten auch dem breiten Publikum ein Werturteil gewähren.

DIE KRÖNUNG DER POPPEA am 8. April

Die zweite Aufführung brachte als einzige Änderung gegenüber der Premiere den Strich einer Szene. Das Duett Miljakovic – Dickie, also die Buffoszene, fiel ohne Angabe von Gründen weg, sodaß man nur vermuten konnte, daß entweder Frau Miljakovic nicht zur Hand war oder daß die Szene gestrichen wurde, weil sie ja nichts zum dramatischen Bau des Werkes beiträgt. (Im letzteren Fall müßte sie aber auch aus der Inhaltsangabe des Programms gestrichen werden). Dankbar registrierte man, daß man keine der üblichen „zweiten“ Aufführungen hörte. Es gab keinen der nach Premieren üblichen Leerläufe, kein Nachlassen der Spannung. Sänger und Orchester boten unter der Leitung von Herbert von Karajan Höchstleistungen. Das Werk verliert auch beim zweiten Hören nichts an Frische und Unmittelbarkeit. Die Jahrhunderte scheinen spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Es sind keine blassen Schemen, sondern Menschen, die in ihm leben und lieben und deren Sprache so klar, so ungekünstelt ist, daß wir sie auch heute noch als die unsere ansehen. Klang, aus dem Wort und dem Gefühl heraus geboren! Eine der zutiefst beeindruckenden Szenen des Werkes ist Senecas Abschied, der wieder von Carlo Cava mit Würde und Erschütterung gesungen wurde. Dieser Szene Gleichwertiges aus der nachfolgenden Opernliteratur zur Seite stellen zu wollen, fällt schwer. Die szenische Realisation des Werkes durch Rennert überzeugt auch bei wiederholtem Sehen. Erneut fiel die Lösung der Chorszenen auf, das ruhige, edle Netz, das sich bei Senecas Abschied um ihn bildet, ihn umschließt und nur zögernd wieder freigibt zum letzten Gang, und der trunkene, wirre Knäuel aus Menschen, um Nerone, ohne Zucht, ohne Ordnung – größere Kontraste in aufeinander folgenden Szenen kann man sich kaum vorstellen. Die Wiedergabe dieses Werkes ist eine in allen Belangen ideale Ensembleleistung, allerdings mit einem Ensemble erste Künstler. Unter den Besuchern war auch Münchens Intendant, der einmal von den „Resten des Wiener Ensembles“ sprach. Immerhin hat er an diesem Abenden auch drei Mitglieder aus diesen „Resten“ gehört, die in München zu den Spitzenkräften zählen (Jurinac-Wiener-Stolze).

DIE WALKÜRE am 9. April

Der mit Walküren nicht gerade verwöhnte Opernbesucher bekam endlich wieder einmal eine ausgezeichnete Aufführung des Werkes zu hören und das, obwohl die österliche Parsifal-Welle eine starke stimmliche Beanspruchung für alle Wangersänger mit sich brachte. Wolfgang Windgassen als Siegmund hatte dementsprechend auf Sparflamme geschaltet, bestach aber wie fast immer durch Schönheit, Natürlichkeit und Mühelosigkeit in Gesang und Spiel. Man hätte sich bloß noch gewünscht, ihn auch nur einmal völlig aus sich herausgehen zu sehen. Gré Brouwenstijn als Sieglinde hatte einen deutlichen Formanstieg zu verzeichnen und sang eine gute Sieglinde. Zur hervorragenden fehlt ihrer Stimme der jubelnde Klang. Nach ihrer ausgezeichneten Turandot und Aida stellte sich Amy Shuard nun als Wagner-Sängerin vor, und sie hat alle Aussicht, eine der ganz wenigen großen Brünnhilden unserer Zeit zu werden. Was an Frau Shuard neben der musikalischen Sicherheit und der fast akzentfreien, nur zu wenig wortdeutlichen Aussprache am meisten beeindruckt, ist ihre keinen Augenblick nachlassende, fast beängstigende Intensität. Im kämpferischen Aufbegehren und in der demütigen Bitte ist sie gleichmaßen ganz Wotans „kühnes, herrliches Kind“. Vor allem aber hat sie eines, was diese Heldenjungfrau der Vorzeit unserem Empfinden so nahe rückt: Herz. Hans Hotter als Wotan sang zwar den Abschied sehr schön, hatte aber ansonsten stimmlich einen schwächeren Abend. Doch hatte er gerade diesmal, vor allem im Zusammenspiel mit Amy Shuard so besonders viele große, unvergeßliche Momente in der Darstellung, daß man alle rauh hervorgestoßenen Töne vergaß und beglückt und ergriffen auf die Bühne starrte. Am Schluß blieb angesichts dieser Göttergestalt auf dem Felsen nur die Frage: Wer wird Hotters Wotan je ersetzen können? Otto von Rohr als Hunding und Grace Hoffman als Fricka komplettierten das Ensemble in zufrieden stellender Weise. Der Dirigent des Abends, Joseph Keilberth, nahm die Tempi fast durchweg sehr breit, was aber gar nicht schadete, da sein Musizieren von starker innerer Spannung und echter Liebe zum Werk erfüllt war, die sich auch dem Publikum mitzuteilen schienen, das ihn, Amy Shuard und Hotter am Schluß mit lang anhaltendem, dankbarem Beifall belohnte.

AIDA am 10. April

„O, wäre ich erkoren…“ An diesem Abend wurde keinem der Sänger diese Auszeichnung zuteil, zum Star des Abends erkoren zu werden. Auch nicht Leonie Rysanek, die mit großer Primadonnengeste das Spiel an der Rampe suchte und mit ganz anderen stimmlichen Mitteln arbeitete als sonst. Machte man ihr vor Jahren den Vorwurf, überzüchtet in ihrer Pianokultur zu sein, so war sie diesmal mit dem Forte sehr freigiebig und daher auch in der Triumphszene und in der großen Auseinandersetzung mit Amneris am erfolgreichsten. Enttäuschend dagegen waren ihre beiden Arien, die nicht intonationsrein gesungen waren. (Nach „O patria mia“ rührte sich keine Hand!) Noch mehr enttäuschte ihre bewußt gefärbte Tiefe, die an Klangfarbe nicht zu ihrer Stimme passen wollte. Alte Stammbesucher erklärten übereinstimmend, daß ihnen die mit Schilling dotierte Aida besser gefallen hat, als die mit Dollars aufgewogene. In dieser sehr harten Formulierung liegt mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit. Ihr Partner Dimiter Usunow war ebenfalls nicht erkoren, den Abend zu einem Erlebnis zu machen. Zwar sang er mit Theatersinn forsch und mit Elan die ganze Partie hindurch, aber wo war die Biegsamkeit seines zweifellos mit Stahl gesegneten Tenors? Margarita Lilowa als Amneris blieb vorläufig in dieser Partie noch ein Versprechen für die Zukunft. Wunderbar das Timbre ihrer Stimme, sehr schön die füllige Mittellage und das Aufglänzen ihrer Spitzentöne. Nicht so eindrucksvoll ist die Tiefe, die nicht genug sonor ist. Phrasierung und Gestaltungskraft lassen ebenfalls noch zu wünschen übrig. Echt italienischen Gesangsstil präsentierten einzig und allein Ettore Bastianini als Amonasro und Cesare Siepi als Ramphis. Der Bariton zeigte Temperament und hat trotz einiger vulgärer Phrasen den natürlichen Stimmeffekt, um den sich die anderen außer Siepi umsonst bemühten. Cesare Siepis makellose Stimmführung ist einfach unüberbietbar. Miltiades Caridis am Pult erwies sich als erstklassiger Taktschläger, der hart und breit taktierte, aber die italienische Oper mit ihrer Sinnenfreude ist ihm fremd.

DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG am 11. April

Eine mittelmäßige Meistersinger-Aufführung bescherte uns Joseph Keilberth. Man ist von ihm einen sehr schönen und gefühlvollen Wagner gewohnt, doch an diesem Abend wollte nichts klappen, was teilweise auch an einzelnen unzureichenden Besetzungen lag. Die beste Leistung der Aufführung bot Gerhard Unger als David, frisch und natürlich in Stimme und Spiel. Auch seine Magdalena war mit Ira Malaniuk gut besetzt. Alfred Poell gestaltete einen witzigen, jedoch seine Aufgabe sehr ernst nehmenden Kothner. Wolfgang Windgassen bot, im ganzen gesehen, eine einheitliche Leistung, doch war er stimmlich nicht gut disponiert und auch nicht mit sehr viel Liebe bei der Sache. (Am besten die Szene mit David). Otto Edelmann kämpfte mit der Höhe und der Tiefe und seine Mittellage ließ zu wünschen übrig. Die Aussprache ist undeutlich und zeitweilig verfällt er in wienerischen Dialekt. Aber von Wien nach Nürnberg ist ein weiter Weg! Auch seine Darstellung ist plump und bauernhaft. Was bleibt da wohl noch für den Hans Sachs? Lisa Della Casa bringt das Evchen nunmehr als zorniges junges Mädchen mit Schmollmund und von Anfang an viel zu siegesbewußt. Sie scheint momentan stimmlich nicht in Hochform zu sein, was man besonders in der Schusterstube merkte. Im Quintett fehlte ihr das sichere Gefühl für den Sinn der Worte und der Musik. Schade, daß gerade diese Szene zum absoluten Tiefpunkt des Abends wurde. Kurt Böhme hatte mit dem Pogner seine rechte Mühe. Karl Dönch übertrieb als Beckmesser wie eh und je. Schade, denn wir hatten gehofft, er würde aus Amerika etwas Besseres oder doch etwas Neues mit nach Hause bringen. Die Meister waren wie üblich besetzt. Enttäuscht und erschöpft trat man um elf Uhr den Heimweg an.

KEINE VORSTELLUNG am 12. April, Karfreitag

DON CARLOS am 13. April

Restlos ausverkauftes Haus und Stürme der Begeisterung! Das waren die äußeren Zeichen einer Festtagsaufführung von Verdis Don Carlos. Cesare Siepi übertraf an diesem Abend noch seine Debütleistung, und man war vom ersten bis zum letzten Auftritt von diesem großen Künstler gefesselt. Wie prachtvoll läßt Siepi seine herrliche Stimme fließen, ohne den ganzen Abend über auch nur ein einziges Mal zu forcieren. (Selbst der Großinquisitor konnte ihn nicht dazu verleiten). Die Elisabeth von Valois sang Leonie Rysanek, und sie sang sie wieder ganz anders als im Vorjahr. Während man damals bemängelte, daß sie die Stimme zu sehr zurückhielt, so hat man heute das Gefühl, daß sie Schwierigkeiten mit der Tiefe hat. Die Intonation ist in dieser Lage unsicher und die Piani sind nicht mehr so zauberhaft. Giulietta Simionato sang nach langer, allzu langer Abwesenheit von Wien die Eboli. Trotz einiger Schärfen in der Höhe ist sie heute die einzige Künstlerin, die die Kraft für die schwere Arie hat. Giuseppe Zampieri war als Don Carlos gut disponiert. Es ist erfreulich, wie gut er im Gegensatz zu früher die Partie jetzt beherrscht. Darstellerisch bleibt er blaß. Ettore Bastianini war der Posa der Aufführung. In dieser Partie ist er heuer nie wirklich erstklassig gewesen, so auch diesmal nicht. Wohl ist das schöne Timbre noch vorhanden, doch scheint das Volumen der Stimme geringer und außerdem die Intonation unsicher. Kammersänger Erich Majkut kündigte in der Aufführung Kammersänger Hans Hotter (Großinquisitor) an. Welch ein himmelweiter Unterschied ist doch zwischen beiden Kammersängern. Man könnte darüber eine ganze Abhandlung schreiben. Welchen Wert hat der Titel eines Kammersängers heutzutage eigentlich noch? Hans Hotter war von darstellerischer Eindringlichkeit wie immer, stimmlich forcierte er über Gebühr. Tugomir Franc war als Karl V. richtig eingesetzt und Kurt Equiluz erfreute abermals als Herold. Alberto Erede leitete die Aufführung mit sicherer Hand und konnte sich im Kreise der Sänger für die stürmischen Ovationen bedanken.

PARSIFAL am 14. April

Diesmal hatten die Wiener aber Glück! Nach endloser Pause (Festwochen 1962) gab es zu Ostern tatsächlich einen Parsifal, einen wenigstens und unter Herbert von Karajans Leitung und das garantiert fast immer einen großen Abend. Die Inszenierung, wie die gesamte Aufführung ist taufrisch, wie bei der Premiere (wodurch hätte sie sich auch abnützen sollen?) und auch die Eindrücke sind unverändert geblieben. An den Gralsritterchor hinter der Szene haben wir uns noch immer nicht gewöhnt und daran wird sich auch nichts ändern, denn der – zugegebenerweise – subtile Klang hat mit dem, was Wagner wollte, nichts mehr zu tun. Vielleicht versucht es der Maestro doch einmal mit der Originalfassung? Unverändert gut ist die Leistung Christa Ludwigs geblieben. Walter Berrys Klingsor wirkte verbessert. Fritz Uhls Stimme ist hörbar gewachsen. Eberhard Wächter sang seinen überzeugenden Amfortas und Hans Hotter machte im dritten Akt gut, was er im ersten verdarb. Dieser große Sänger tut nicht klug daran, zu forcieren, wenn er sich vielleicht nicht bestens disponiert fühlt. Seine Persönlichkeit und Kultur wirken stets ausgleichend. Stimmliches Outrieren hingegen erscheint unnötig. Elisabeth Höngen charakterisierte die dienende Kundry neuerlich großartig. Unter der Führung Karajans waren Bühne und Orchester von bezwingender Einheit und musikalischer Pracht. Die Streitfrage im Publikum „Beifall oder Andacht“ wurde wieder einmal hörbar durchgekämpft. Der Erfolg ging an die Konservativen und die Tradition siegte, schweigend.

DER ROSENKAVALIER am 15. April

Zu hohen Festtagen erwartet man sich, festlich gestimmt, auch immer ganz besondere Opernabende. Doch nicht immer werden diese Erwartungen erfüllt. Der Rosenkavalier am Ostermontag war nur guter Durchschnitt. Das lag vor allem am Orchester, das streckenweise sogar unter dem Durchschnitt spielte. Doch wen wunderte das, wenn er ins Orchester hinunterblickte: kaum ein bekanntes „philharmonisches“ Gesicht war zu erblicken! Warum fast lauter Substituten – geführt von einem unzulänglichen, weil überalteten Konzertmeister – gerade beim Rosenkavalier? War der am Vortag gespielte Parsifal so erschöpfend? Heinz Wallberg dirigierte dieses Orchester routiniert und schwungvoll, ohne jedoch, das Schlußterzett ausgenommen, besondere Höhepunkte zu bieten. Lisa Della Casa sang ihre kühle, von aller Menschlichkeit zu sehr distanzierte Marschallin gut und sicher, wenn auch die Stimme derzeit sehr müde und strapaziert klingt. Sie wird sich stimmlich hoffentlich wieder erholen, aber auch dann für uns keine ideale Marie-Theres sein. Man kann ihre Fürstin Werdenberg betrachten, beschauen, man kann ihr zuhören, sie wunderschön und klug finden, aber man kann kein einziges Mal mit ihr mitfühlen. Frau Casa läßt das Herz der Marschallin, dieses warme, so viel leidenschaftliche und menschliche Liebe und Anteilnahme verströmende Frauenherz unentdeckt. Als Beweis eine einzige, aber typische Szene: während des Lever im 1. Akt ist Frau Casas Fürstin Feldmarschall ausschließlich damit beschäftigt, ihre unbestritten prachtvolle lila Perücke möglichst vorteilhaft aufzusetzen. Eine schöne Frau vor dem Spiegel, ohne Interesse für alles, was Mensch ist in ihrer Umgebung… „und weiter nichts!“ Wärme, Ausdruck und Seele in der Stimme fand man beim Rosenkavalier Irmgard Seefrieds. Auch sie muß gegen eine Idealbesetzung dieser Rolle ankämpfen, aber es gelingt ihr weitaus besser. Und wenn diesem Rofrano auch oft das Temperament und die Spielfreude durchgehen und er in Mädchenkleidern allzu neckisch tut, bleibt er doch eine liebenswerte Gestalt und ein „Herr aus großem Haus“. Die Partie des Oktavian kommt dem derzeitigen Stimmumfang Frau Seefrieds sehr entgegen. Sie singt wunderschön, ausdrucksstark und tadellos, vor allem im 2. Akt. Die Überreichung der silbernen Rose und die beiden Duette mit der Sophie Wilma Lipps waren die musikalischen Höhepunkte des Abends. Frau Lipp singt die Partie mühelos und spielt ein bezauberndes junges Mädchen, das nur um eine Spur zu einfältig tut. Der Lerchenauer von Otto Edelmann, bestimmt seine beste Figur sowohl darstellerisch wie auch gesanglich, vermeidet erfreulicherweise allzu derbe Komik und Übertreibungen billiger Art. Alfred Poell war ein nobler Faninal. Von den Trägern der Nebenrollen sei nur Anton Dermota als Sänger hervorgehoben. Er singt ihn nicht mehr so schön wie früher, dafür aber überraschend sicher, auch in der exponierten Höhe.

DIE KRÖNUNG DER POPPEA am 16. April

„Welch herrliches Werk“ ist die einheitliche Meinung aller Musikliebhaber, die diesen Monteverdi zuvor noch nicht kannten. Die ausgezeichnete Aufführung trägt natürlich das Ihre zur allgemeinen Begeisterung bei. Hier ist der Wiener Staatsoper wieder einmal etwas Einmaliges gelungen. Hans Swarowsky leitete die dritte Aufführung und tat dies gekonnt – bekanntlich besorgte er auch die Voreinstudierung. Die Ensembleleistung ist eine Klasse für sich. Jeder einzelne Solist prägt eine Meisterleistung. Stimmwohlklang und höchste Gesangskultur werden von jedem der Sänger dokumentiert und der Hörer ist mit Recht davon beglückt. Der Reichtum der Monteverdischen Melodien ist erstaunlich, und es erscheint geradezu verblüffend, wie zeitlos modern das Stück anmutet. „Va morire Seneca“ und „Addio Roma“ sind unvergeßliche Höhepunkte. Ein Lob dem Chor, ein Lob dem Regisseur, Hut ab vor der vollendeten Charakterisierungskunst Gerhard Stolzes, ein Kompliment an die Schönheit dieser Poppea und für die schauspielerischen Qualitäten der gesamten Rollenträger. Das Burgtheater hat hier nicht immer Besseres zu bieten!

MARGARETHE am 17. April

Für Wien müßte das Stück zwar nicht in Faust, jedoch in Mephisto umgetauft werden, denn man kann es nur aushalten, wenn ein großer Baß zur Stelle ist. Cesare Siepi ist auch in dieser Rolle der Belcantist schlechthin, was ihm manchmal durch den Dirigenten Ernst Märzendorfer schwer gemacht wurde, der die Oper teils grell, teils larmoyant in die Länge zog und erst beim Ballett und in der Schlußszene einiges Niveau gewann. Nun ist Cesare Siepi nicht der Mann, auch nur um einen Gedanken mehr Stimme zu geben, wenn der Kapellmeister noch so hineindrischt. So mußte man bis zur Gartenszene warten, um die traumhaft schönen Baßphrasen zu hören, die eleganten Bogen der französischen Musik, die federnde Kraft der herrlichen Stimme. Dazu spielt Siepi auch den Mephisto mit einem Höchstmaß an Stilgefühl, als eleganten Monsieur le Diable mit sarkastischem Humor und gallischem Esprit. Wilma Lipp sang anfangs ziemlich zurückhaltend und steigerte sich erst in der Kirchen- und Schlußszene. Giuseppe Zampieri hatte seinen larmoyanten Tag und wurde erst munter, als ihm bei der Faust-Cavatine ein Malheur passierte. Da hatte er dann plötzlich mehr Spannung und setzte sich bis zum Schluß ein. Elisabeth Höngen sekundierte als Marthe Schwertlein auch bei Siepi wieder sehr charmant. Laurence Dutoit hatte mit dem Siebel Schwierigkeiten. Kostas Paskalis steuerte die Höhenlagen des Valentin zielsicherer an als beim ersten Mal, konnte es jedoch wieder nicht unterlassen, kräftig auf die Stimme zu hauen, was besonders in dieser Partie unangebracht erscheint. Erstens ist sie ohnedies fast zu lyrisch für Paskalis und zweitens klingt die Stimme im mezza-voce am schönsten. Gegen Intensität beim Singen ist ja nichts einzuwenden, im Gegenteil, aber gelegentlich müßte er sein Temperament zugunsten der Stimme doch etwas bremsen. Das Ballett und die Solisten Brexner, Bauer, Zimmerl, Zlocha, Dirtl, Ludwig Musil und Vondrak zeigte sich wieder in bester Verfassung. Der Chor stieg noch öfter aus als bisher und das Orchester hatte unter Märzendorfers Einwirkung zu leiden.

DIE VERKAUFTE BRAUT am 18. April

Smetanas Oper erlebte eine gute Repertoireaufführung. Erfreulich ist es, daß die Rennert-Inszenierung noch immer nicht abgespielt wirkt (wie anders ist es da um Rott und Hager bestellt!) und daß wieder Berislav Klobucar am Pult stand, der Bühne und Orchester zusammenhielt, obwohl es im Orchester nicht sehr gut bestellt war (falscher Horneinsatz bei Kezals Auftritt u. a.). Irmgard Seefried sang die Marie bis auf die exponierten Spitzentöne gut, darstellerisch allerdings wird’s immer ärger. Diesmal reichte ihre Darstellung von der Puppenfee bis zur Lady Macbeth! Waldemar Kmentt war der gut disponierte und darstellerisch gelöste Hans, Oskar Czerwenka der saftige Kezal, bei dem man nur bedauert, daß er stimmlich recht untergewichtig ist (einmal schüttelten sogar die Musiker den Kopf!). Olivera Miljakovic war die neue entzückende Esmeralda von graziler Erscheinung und mit schöner Stimme. Erich Kunz war wieder der Zirkusdirektor, der diesmal jede Anspielung auf Karajan und Schäfer unterließ und umso mehr gefiel. Hilde Konetzni, Dagmar Hermann, Hans Braun und Tugomir Franc waren die Eltern der verliebten jungen Leute. Eine köstliche Studie feinen Humors bot Peter Klein als Wenzel.

DIE HOCHZEIT DES FIGARO am 19. April

Klingende Namen auf dem Programmzettel, daher hochgespannte Erwartungen beim Publikum – und eine ermüdende, bleiern dahinfließende Repertoireaufführung. Joseph Keilberth dirigierte Mozarts Musik langsam und schwerfällig. Das Orchester klang dick und glanzlos, dadurch wurden die Sänger gezwungen, viel mehr Stimme als nötig zu geben und behielten diese Lautstärke natürlich auch bei den Rezitativen bei, die wie Wagnerscher Sprechgesang klangen. Das Werk wurde plump und lärmend – Mozart floh! Die Sänger: Lisa Della Casa – sehr unruhig in der Tongebung, die Höhe angestrengt, im Spiel nervös und hektisch. Anneliese Rothenberger: weit entfernt vom einstigen Silberglanz der Stimme. Olivera Miljakovic als Cherubino: die beste der Damen, schon mit der Persönlichkeit in der Rollenauffassung, durch die Orchesterlautstärke irritiert, aber mit etwas starrer Tongebung, Eberhard Wächter: stimmlich ausgezeichnet, nur beim Schluß der Arie mit dem Hang zum Forcieren, jederzeit zu schauspielerischen Gags geneigt, die manchmal knapp an der Grenze dessen liegen, was man sich auf einer Opernbühne erlauben darf. Erich Kunz: leicht angekratzte Höhe, ansonsten Routine. Hilde Rössel-Majdan, Alois Pernerstorfer und Erich Majkut: weit entfernt von dem, was man im allgemeinen Gesang zu nennen pflegt. Anny Felbermayer, Peter Klein und Ljubomir Pantscheff: wie immer. Gesamteindruck: enttäuschend!

BALLETTABEND am 20. April

DON GIOVANNI am 21. April

Cesare Siepi hat nun einmal kein Glück mit den Dirigenten! Bei seinem ersten Wiener Giovanni dirigierte Joseph Keilberth, dessen Anwesenheit man wesentlich besser für Wagner- oder Strauss-Aufführungen ausgenützt hätte. Aber nein, ausgerechnet Mozart muß man ihm geben, noch dazu einen italienisch gesungenen, der ihm stilistisch außerdem völlig fremd ist. Hier wurde gemächlich, langsam und spannungslos dahinmusiziert. Es gab keinen Anfang, kein Ende und keinen Höhepunkt, und die Sänger litten. Siepis wunderbare, dunkle Säulenstimme hüllte Don Giovanni in betörenden Wohllaut. Hier ist jedes Rezitativ, jede Phrase ein Kunstwerk, das man dankend genießt. Eine ohne jede Anstrengung und völlig mühelos geformte Belcanto-Champagnerarie und ein herrliches Mezzavoce-Ständchen waren die Höhepunkte des Abends. Darstellerisch hat Siepi den kämpfenden Verführer längst hinter sich gelassen. Er strengt sich gar nicht an. Er ist sicher, daß ihm die Frauen von selbst zu Füßen fallen. (Zerlina z. B. schnappt er so nebenbei, quasi im Vorbeigehen). Er ist übersättigt und immer noch voll Gier. Er hat für den Rivalen Don Ottavio nur Spott, für Elvira nur mehr Verachtung. Dieser Giovanni ist reif zum Untergang, reif für die Strafe des Himmels. Das alles spielt er mit einem unterschwelligen sex-appeal, der ein Dekolletté bis zum Nabel oder die mehr als hautengen Hosen, die manche Kollegen für den Giovanni aufbieten, völlig unnötig erscheinen läßt. Dieser Giovanni ist auch in einem weißen Hemd und bequemen Kniehosen ein Don – und ein Giovanni. Erich Kunz wollte sich in Szene setzen und drückte auf die Stimme, was sie hohl machte. Er kasperlte fast drei Stunden hindurch mit höchster Kraft und wurde durch einen einzigen Gag Siepis, der Kunzens Zepperlschritte imitierte, deklassiert. Man vergaß ihn sofort! Waldemar Kmentt sang den Ottavio technisch ausgezeichnet. Sein Timbre ist für die Rolle weniger geeignet. Maria van Dongen, permanente Einspringerin aus Zürich, hat eine der unangenehmsten Stimmen, die wir kennen. Dabei erarbeitet sie sich jeden Ton schwer, was ungemein penetrant wirkte. Lisa Della Casa konnte durch bildhafte Erscheinung und kunstvollen Vortrag die Schärfen ihrer höheren Lagen nicht kaschieren. Anneliese Rothenberger sang und spielte die Zerlina hübsch und natürlich. Komtur und Masetto wurden von Frederick Guthrie und Kostas Paskalis gesungen.

LA TRAVIATA am 22. April

In der wohl verstaubtesten Inszenierung des Hauses am Ring ging wieder einmal das Leben und Sterben der Violetta Valery in Szene. Die billigen Bühnenbilder im Verein mit häßlichen Kostümen und einer mehr als trivialen Choreographie bilden den Rahmen hiezu. In diesem Milieu sang Mimi Coertse eine Traviata mit schöner Mittellage und steifer, scharfer Höhe. Anton Dermota als Alfred ließ an einigen Augenblicken erkennen, daß er einst Besitzer einer schönen lyrischen Stimme war und daß er dank seiner guten Technik auch heute noch zu bestehen weiß. Vager Germont war in nobler, bestechender Manier Eberhard Wächter, der mit seiner Arie den größten Erfolg des Abends erzielen konnte. In der Gesellschaft der Violetta waren zu erkennen und zu hören: Laurence Dutoit, Ermanno Lorenzi, Alois Pernerstorfer, Ljubomir Pantscheff, Hans Schweiger und Hugo Meyer-Welfing. Am Pult stand Nino Verchi und versuchte Bühne und Orchester in Einklang zu bringen, wodurch die Feinheiten der Musik zu kurz kamen. Ein Sonderlob gebührte an diesem Abend dem Souffleur.

DON CARLOS am 23. April

Eine Aufführung in Festwochenbesetzung, die auch hielt, was sie versprach. An diesem Abend fiel nur einer aus dem Rahmen, der aber gründlich. Nino Verchi am Pult wirkte wie ein blutiger Anfänger in seinem Metier. Zeitweise hatte man den Eindruck, vor dem Orchester stehe ein x-beliebiger Mann von der Straße, dem man einen Taktstock in die Hand gegeben hatte mit der Aufforderung: Andiamo! Anders als einen Versuch konnte man die Tätigkeit dieses „Maestro“ nicht bezeichnen. Carlos-Dirigenten ohne ersichtliches Konzept konnten wir schon zur Genüge erleben. Aber so krasse Unfähigkeiten im Kontakt mit der Bühne, im Einfühlungsvermögen gegenüber den Sängern, in der Homogenität des Orchesterklanges, haben wir schon lange nicht gehört. Wenn das in Italien befriedigt? In Wien jedenfalls legt man andere Maßstäbe an einen Italiener, der „seinen“ Verdi dirigiert! Cesare Siepi als Philipp ist eine Sternstunde der Opernkunst, im Gesang wie in der Darstellung. Wie Samt strömt die Stimme, ohne Makel, ohne einen forcierten Ton, gleich füllig vom tiefsten bis zum höchsten Baßregister. Mit dieser einmalig schönen Stimme verbindet sich eine in jeder Phase überzeugende Rollenauffassung: Siepi spielt den Habsburger als einen unglücklichen, mißtrauischen und vor allem einsamen Menschen, frei von Dämonie – im Gegensatz zu Christoff – wie es ja der historischen Überlieferung entspricht. Und doch, bei aller Menschlichkeit, kehrt nach ergreifenden Momenten (beim Eintritt Elisabeths, nach seiner großen Arie richtet sich Siepi verstohlen die grauen Haare) die Herrscherwürde wieder ins unmittelbare Bewußtsein zurück: sein stolzes Aufrichten vor der gedemütigten Königin, die ihm im Innersten doch leid tut. An solchen kleinen, oft nur kurz aufblitzenden Bewegungen oder Gesten erkennt man den wirklich großen Künstler. Cesare Siepi ist einer der wenigen. Leonie Rysanek sang diesmal eine hervorragende Elisabeth. Die Stimme bezaubert vor allem durch das dunkle Timbre und ihre sichere technische Führung. In der Mittellage etwas verhalten, hatte sie in den wenigen dramatischen Ausbrüchen den gewohnten Glanz. Ettore Bastianini war in guter stimmlicher Verfassung, distonierte kaum und wirkte ausgeruht und sicher. Was er beim Verbeugen vor dem Vorhang ins Publikum murmelte, entzieht sich leider unserer Kenntnis. Prinzessin Eboli war wieder einmal Giulietta Simionato. Mit ihrer wirksam vorgebrachten Arie reißt sie immer wieder den Hörer mit, und man vergißt den Registerwechsel, der leider in der Mittellage nicht zu überhören ist. Die Titelpartie war bei unserem Hausitaliener Giuseppe Zampieri in besten Händen. Verläßlicher Einsatz der schönen Stimme gibt immer das Gefühl einer tenoralen Geborgenheit beim Hörer. Als Carlos ist Zampieri zur Zeit jedenfalls unersetzlich. Aufhorchen ließ Ludwig Welter als Großinquisitor: eine relativ große und dramatisch eingesetzte Stimme, die auch die Höhen scheinbar mühelos meisterte, ließ Herr Welter im Duett mit Philipp auch Siepi gegenüber nicht abfallen. In den kleineren Partien bewährten sich Tugomir Franc, Kurt Equiluz und Liselotte Maikl (Stimme von oben).

DIE VERKAUFTE BRAUT am 24. April

Zu einer unserer schönsten Inszenierungen zählt Rennerts Verkaufte Braut. Die Vertreter des heimischen Ensembles, für die nach guter, deutscher Sitte der Regisseur eigentlich der wichtigste Mann einer Vorstellung sein sollte, spielten diesmal gegen diesen! Wäre Günther Rennert im Hause gewesen, er hätte sein Veto einlegen müssen, denn was sich Herr Kunz und Herr Klein an Eigenmächtigkeiten in der Zirkusszene erlaubten, spottet jeder Beschreibung. Die Hustenparodie beider Herren war billigstes Theater und hätte kaum an einer Provinzbühne eingeschlagen. Wenn manche Mitglieder des Hauses gegen das derzeitige Regime sind – persönliche Meinungen in der Demokratie werden zur Kenntnis genommen – so sollten sie sich wenigstens an den Regisseur halten, dem nicht zuletzt das Verbleiben der Verkauften Braut im Spielplan zu verdanken ist. In gesanglicher Hinsicht war die Aufführung sowieso nur Durchschnitt. Durchschnitt ist sie weiterhin geblieben. Am besten gefiel Waldemar Kmentt, der mit Einsatz sang und durch sein Bemühen und seinen Ausdruck manch stimmliche Unebenheit vergessen ließ. Oskar Czerwenka begann gut, aber leider war der zweite Akt von ihm in stimmlicher Hinsicht schwach. Wäre doch nur einmal seine gesangliche Leistung seiner schauspielerischen gleich! Die Saftigkeit seines Auftretens müßte einmal in seiner Stimme vorhanden sein. Irmgard Seefried wirkte als Mariechen zänkisch. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch ihre Stimme, die in der oberen Lage angekratzt ist. Das übertriebene Spiel kann das auch nicht kaschieren. Hat Frau Seefried dies notwendig? Peter Klein bot – abgesehen von der oben erwähnten Einlage – als Wenzel eine liebenswerte Charakterstudie und Olivera Miljakovic war in optischer wie stimmlicher Hinsicht eine reizende Esmeralda. Berislav Klobucar am Pult sorgte für slawische Fröhlichkeit. Die Tempi waren im Vergleich zu Märzendorfer ausgewogener und gar nicht militärisch. Das Orchester kam über eine Durchschnittsleistung nicht hinaus.

LA BOHEME am 25. April

Am gleichen Abend, an dem di Stefano sein Wiener Konzert im Konzerthaussaal absolvierte, ging in der Staatsoper Puccini in Szene, und diesmal waren aus oben angeführtem Grund die Stehplätze auf Balkon und Galerie sehr schütter besetzt. Alles ging ins  Konzerthaus, um Pippo zu hören. In der Oper gab es unter der ausgezeichneten Stabführung von Alberto Erede eine recht animierte Aufführung, in der Joan Carlyle von Covent Garden erneut die Mimi sang und zu gefallen wußte. Besonders ihr letzter Akt wird uns lange in Erinnerung bleiben. Schade, daß die Sängerin die Stimme oft sehr zaghaft ansetzt, doch läßt sie diese dann mächtig anschwellen, sodaß man sich eigentlich in absehbarer Zeit von ihr bereits eine Amelia erwarten darf (und niemals einen Oscar, wie es heuer bereits der Fall war). Mimi Coertse hatte einen für ihre Verhältnisse recht guten Abend. Schauspielerisch bleibt sie der Pariserin leider fast alles schuldig. Unter den Männern war Ettore Bastianini der Beste. Er hat zwar hie und da outriert, doch ist uns das immer noch lieber als die Lethargie seines Rodolfo-Kollegen. Stimmlich liegt Bastianini die Partie des Marcello ausgezeichnet. Besagter Rodolfo war Giuseppe Zampieri, der in guter stimmlicher Verfassung war, in schauspielerischer Hinsicht jedoch selbst bei Mimis Tod ohne Regung schien. In weitem Abstand zu diesen beiden folgten nach Frederick Guthrie und Hans Braun. Erich Majkut trug als Benoit wie meist dick auf und ließ seine ‚R’ rollen. Viel Stimmung beim Publikum.

DON GIOVANNI am 26. April

Cesare Siepi stand in der Titelrolle auf dem Programm: Das bedeutete einen Ansturm auf die Karten – und abermals, wie bei allen Siepiauftritten, war der Kartenverkauf „beschränkt“. Da es einem schon seit langem bewußt ist, daß man in der Bundestheaterverwaltung besondere Aufführungen den Wienern, die den ganzen Winter über ohnehin sehr knapp an niveauvollen Aufführungen gehalten werden, vorenthält, müßte man doch annehmen daß sich ein kompetenter Herr in der Staatsoper findet, der endlich einmal mit dieser Unsitte aufräumt. Diesmal wurden neben einem geringen Sitzplatzkontingent nicht einmal dreihundert Stehplätze verkauft, in der ersten Giovanni-Aufführung sogar nur 150! Ist denn die Direktion unfähig, dieses leidige Kartenproblem endlich einmal zu lösen? Doch zurück zu Siepi! Er ist als Don Giovanni im wahrsten Sinne des Wortes einmalig. Alte Opernbesucher haben uns gesagt, daß man seit dem sagenhaften Ezio Pinza keinen so hervorragenden Giovannisänger gehört hat, als jetzt Cesare Siepi. Wir freuen uns, ihm im September erneut zu begegnen, besonders da er dann in die kommende Neuinszenierung des Giovanni einsteigen kann und nicht inmitten eines Torso die Partie interpretieren muß. Ja, die Festaufführung der Operneröffnung 1955 – schon verfehlt seit dem ersten Tag – ist im Laufe der Zeit immer unerträglicher geworden, und diesmal war man direkt froh, daß man das ganze Krempelzeug zum letzten Mal sah. Und gerade an diesem Abend gab es allerhand zu sehen! Daß die Beleuchtung schon seit Jahren nicht mehr stimmt, ist ja bekannt. Daß aber diesmal der Zwischenvorhang dem Ottaviosänger während dessen zweiter Arie auf den Kopf fällt, daß ein Lakai in der Ballszene die Gläser über die Stufen fallen läßt (auf diesen Gag warteten wir schon seit Böhms Direktionszeit!), ist dennoch neu gewesen und daß die Elvira-Arie erst nach der Friedhofszene (statt der zweiten Anna-Arie) dargeboten wurde, immerhin nicht alltäglich. Erfreulicherweise spielte man wenigstens die Ouvertüre am Anfang und nicht nach der Pause! So sah man also zum letzten Mal Giovanni auf der Straße vor den Kirchen und Brücken Sevillas unter Kristallustern speisen, das Ballorchester auf den Redoutensaaltreppen auftreten, Instrumente und Pulte in der Hand (dazu noch schauerlich falsch spielend) und die Masken während der Ballszene auf der Seufzerbrücke placiert! Und erst Giovannis Höllenfahrt; das gibt’s nicht einmal auf der Geisterbahn im Prater! Den leidgeprüften Opernfans hätte man eigentlich nach Schluß der Aufführung zur Erinnerung an eine der gräulichsten Inszenierungen (genau wie Aida und die neue Margarethe) entweder ein Versatzstück oder einen Kostümfetzen schenken müssen, denn diese Schuh-Witt-Einrichtung und die Neherschen Bühnenbilder und Kostüme suchen vergeblich ihresgleichen. Daß Cesare Siepi auch in der zweiten Giovanni-Aufführung meilenweit über allen anderen Mitwirkenden stand, ist für den Sänger ein Kompliment, für die übrigen Mitwirkenden jedoch wenig erhebend. Am nächsten kam ihm noch Anneliese Rothenberger als Zerlina, die die Arien hübsch sang und nett spielte. An den früheren Silberglanz in ihrer Stimme denkt man aber mit Wehmut zurück. Die beiden anderen Kolleginnen ließ Frau Rothenberger aber ebenfalls wieder ziemlich hinter sich. Gerda Scheyrer sang die Donna Anna. Sie war anscheinend nicht gut disponiert (daß sie die zweite Arie jetzt anscheinend schon ständig ausläßt ist ein Kapitel für sich, das auch die Verantwortlichen angeht) und ist darstellerisch sehr blaß. Der Aufwand an Gesten ist viel zu groß, um zu beeindrucken. Lisa Della Casa wiederum befindet sich zur Zeit in einer Stimmkrise. Die Höhen sind matt und glanzlos, die tiefe klingt unnatürlich. Es wäre wirklich bedauerlich, wenn das Organ weiterhin so überbeansprucht würde. Man sieht, daß man weder ohne Folgen Partien, die über den Rollenkreis hinausgehen (Salome) singen kann, noch die jahrelange Tätigkeit an den großen amerikanischen Opernhäusern spurlos vorübergeht. (Bei Siepi allerdings ist gottlob noch alles so wie vor zehn Jahren. Man kann sich am besten darüber im Don Giovanni-Film unter Furtwängler überzeugen. Siepi ist heute mindestens genau so gut, Frau Casa hingegen hat wesentlich eingebüßt.) Darstellerisch ist die Elvira eine der schwächeren Partien von Frau Casa. Sie wirkt zu kalt und distanziert. Außerdem fiel ihre merkwürdige, unnatürliche Kopfhaltung auf. Anton Dermota ließ in den beiden Arien seine einstige Position als Mozarttenor noch deutlich erkennen. Erich Kunz zog abermals seine Leporellofassung zum Entzücken der jüngsten Operngeher und zum Verdruß der langjährigen Besucher ab. Walter Kreppel distonierte und Harald Pröglhöf als Masetto war völlig unzulänglich. Am Pult stand abermals Joseph Keilberth, der einen sehr breiten Mozart dirigierte und so die Sänger mehrmals in Verlegenheit brachte. Wir bedauern sehr, daß er ausgerechnet wieder mit Mozart einen Teil seiner uns so kostbaren Abende bestritt, während man in der gleichen Woche den Rosenkavalier und Elektra unter mittelmäßigen Dirigenten spielte.

RIGOLETTO am 27. April

Durch Zampieris Absage hatten wir wieder Gelegenheit, den jungen Tenor Luciano Pavarotti zu hören. Wenn er auch in der Gesamtleistung an seinen Rudolf nicht herankam, war man doch von der lyrischen Stimme des Italieners beeindruckt. Technisch bedarf sie noch einer Ausfeilung, was sich in der schwierigen Arie des 3. Aktes bemerkbar machte. Sehr gut gelang hingegen der Auftritt und das Gildaduett, wo er sehr viel Ausdruck und Phrasierungsvermögen zeigte. Die Anlagen zu einer Karriere sind vorhanden. Mimi Coertse war gut disponiert und bot als Gilda eine brave Leistung, die nur durch höchst überflüssiges Schmieren bei „Caro nome“ gemildert wurde. Ettore Bastianini bemühte sich um die Titelrolle. Er begann gut, doch traten nach dem ersten Akt Ermüdungserscheinungen auf, sodaß er zu vulgären Phrasen Zuflucht nahm. In der Schlußszene war er dann wieder da. Margarita Lilowa erfreute als Maddalena durch reizendes Aussehen. Die Nebenrollen waren schwach besetzt. Nino Verchi spielte gegen das Orchester, das ihn bekanntlich nicht will und ihm einiges servierte. Doch ist seine Interpretation wesentlich italienischer als z. B. die Märzendorfers, der aber wieder die gesamte Presse auf seiner Seite hat. Einfach unverständlich!

 

INTERMEZZO am 27. April, Premiere im Theater an der Wien

Wir hatten in den Exiljahren der Staatsoper im Theater an der Wien dort eine Intermezzo-Aufführung, die zwar weniger pastellfarben, aber weit kurzweiliger war, als die neue es ist. Das mag uns geholfen haben, diese damalige Aufführung, die nie umbesetzt wurde und somit ein Idealfall von „Ensemble“ war, wie es auch zu Hilberts Tagen sonst nicht vorkam, fast zehnmal anzuhören und das Werk dann noch immer gut zu finden. Mittlerweise hat sich unser Standpunkt diesbezüglich etwas geändert, und wir fanden sowohl Libretto, als auch Musik einigermaßen uninteressant, zumal letztere ziemlich aus dem Strauss’schen Handgelenk geschüttelt. Daß hiebei noch immer aparte Klangwirkungen und gelegentlich stampfende Rhythmik herauskommten, spricht für den großen Richard. Aber auch dieses Stück gehört wohl zum kommenden Strauss-Jahr. Rudolf Hartmann ist einer jener Regisseure, die einmal erfolgreiche Inszenierungen bis ins letzte Detail zu kopieren pflegen. Er tat dies auch diesmal. Interessanterweise sahen die Bühnenbilder Max Röthlisbergers und die Kostüme Sophie Schröcks haargenau so aus wie die Münchner Ausstattung von Jean Pierre Ponelle. Wir haben gar nicht gewußt, daß der Einfluß des Regisseurs so weit reichen kann, zwei grundverschiedene Bühnenbildner zu zwingen, die Badezimmertüre genau an der gleichen Stelle anzubringen. Im Übrigen war der Abend natürlich flüssig und mit sicherer Hand inszeniert. Joseph Keilberth musizierte mit einer bei ihm etwas ungewohnten Subtilität, was eine absolute Wortdeutlichkeit auf der Bühne zur Folge hatte. Man kam sich dabei fast wie im Burgtheater vor. Die Zwischenspiele nützte er zum Entfalten seiner musikantischen Qualitäten und das Orchester hielt diesmal wacker mit. Man freut sich, es einmal loben zu können. Auf der Bühne stand mit Hanny Steffek und Hermann Prey ein sehr junges, auch stimmlich frisches Ehepaar Storch. Frau Steffek stattete die Rolle der Christine mit einer recht netten, schnippischen Art von Humor aus und sang, abgesehen vom Schlußduett, für das die Stimme doch zu sehr hoher Sopran ist, auch sehr schön. Hermann Prey gewann dem Hausherrn, der alles andere ist, als der Herr im Haus, recht drastische, komische Effekte ab und sang die Rolle mit wohllautenden, hellem Bariton. Er scheint sich im Theater an der Wien wohler zu fühlen als im großen Haus, aber er wird sich auch an dieses schon noch gewöhnen. So groß ist es ja auch wieder nicht. Die Rolle des Barons Lummer hätten wir aus den Resten unseres Ensembles leicht doppelt besetzen können. Ferry Gruber war nämlich für die Partie neben den jungen Hauptdarstellern etwas zu…na, sagen wir: routiniert. Er kehrte auch die Schäbigkeit dieses Herrn viel zuviel hervor. Naive Dümmlichkeit macht sich hier besser. Die Skatrunde mit den Herren Waldemar Kmentt (was ist ihm denn auf einmal eingefallen, daß er eine solche Ensemblerolle annimmt, wenn er sogar den Matteo ablehnt, weil „nichts drinnen“ ist), Oskar Czerwenka, Ludwig Welter und Alois Pernerstorfer vorzüglich besetzt. Die vier Herren hielten gerade die Mitte zwischen Kultiviertheit und Humor. Judith Hellwig und Alfred Poell zeichneten das Notarehepaar mit sicheren Konturen. Alle Mitwirkenden konnten sich für den reichen Beifall bedanken. Es ist nur zu bedenken, daß die hübsche Aufführung einem Werk gilt, das nicht zieht. Gezogen hat es ja, genau genommen, selbst seinerzeit im gleichen Hause nicht.

 

BALLETTABEND am 28. April

DER ROSENKAVALIER am 29. April

Die wienerischste aller Opern stand wieder unter Hans Swarowskys Leitung. Damit war das Interesse von Anfang an auf dem Nullpunkt. Die Aufführung lief ohne jedes Animo ab und man verließ enttäuscht das Haus. Evelyn Lear sang abermals den Oktavian und hinterließ auch diesmal keinen überzeugenden Eindruck. Sie hat anscheinend wenig Beziehung zur Partie und ist in den Mariandl-Szenen unglaubwürdig. Stimmlich konnte sie sich nicht immer durchsetzen. Lisa Della Casa war wieder die Marschallin und hatte nach schwächerem Beginn einen guten Abend. Als Sophie hörte man Anneliese Rothenberger, die in stimmlicher und darstellerischer Hinsicht gefallen konnte. Oskar Czerwenka legte den Ochs sehr saftig, an und man würde sich lieber wünschen, daß er die Partie besser singen würde. Ein völlig blasser Faninal war Rudolf Knoll, ein italienischer Sänger von mittlerer Stimmgüte Ermanno Lorenzi. Ein Rosenkavalier an der Wiener Staatsoper sollte auch als Repertoireaufführung festlicher sein, als es (wie meist in letzter Zeit) auch diesmal der Fall war.

DIE ENTFÜHRUNG AUS DEM SERAIL am 30. April

Der Monat endete mit Mozart, statt Karmeliterinnen. Damit war der Abfall in tiefstes Repertoire glücklich wieder hergestellt. Berislav Klobucar hielt die Aufführung zusammen, nur beim Chor gelang ihm dies nicht. Anneliese Rothenberger ist eine anmutige, stilvolle Besetzung für die Konstanze, die sie auch technisch gut, wenngleich ohne Glanz, stimmlich bewältigte. Emmy Loose als Blondchen geht einfach nicht mehr. Die bekannt noble Haltung unseres Blattes verbietet es, darüber überhaupt Näheres zu berichten. Anton Dermota hielt sich recht gut. Ludwig Welter hat als Osmin Humor und Bühnensinn, stimmlich ist nichts Neues zu berichten. Kurt Equiluz sprang für den erkrankten Gerhard Unger ein.

 

MUSIK IST EINE HEILIGE KUNST

Leitartikel, 8. Jahrgang, Heft 5

Nicht nur der Skeptiker hegt in unserer Gegenwart daran hin und wieder Zweifel. Und nur der recht harmlose und unbewanderte Opern- und Konzertbesucher wird sich über diese Zweifel wundern. Denn daß die Opernhäuser in aller Welt derzeit meistens höher dotiert sind als zuvor, daß die Festwochen und Festspiele aus dem Boden schießen wie Pilze nach dem Regen (des öfteren befinden sich auch recht ungenießbare darunter!), kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß in unserem gesamten, so saturierten Leben die Kultur nur recht im Schatten der in den Himmel gewachsenen Wirtschaftsbäume – von denen die großen Tiere die süßen Früchte pflücken – nistet. Darüber weinen und wehklagen die politischen Parteien von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken bitterlich, dagegen angekämpft wird nur mit vorsichtigen Mitteln. Aus Gründen der Klugheit natürlich, denn jeder verlorene Haufen idealistischer Intellektueller, der sich ob solch bescheidenen Einsatzes empören könnte, kann dessenthalben in keinen Generalstreik treten. Er organisiert auch kaum oder doch nur selten Demonstrationen, und sein Prozentanteil in den Wählerlisten bedeutet keine Gefahr für Mandatsverluste. Man muß unserem Unterrichtsminister zugestehen, daß er sich gegen die Benachteiligung der Kulturpolitik mutig zur Wehr gesetzt, und auch gerettet hat, was gerettet werden konnte, obwohl dies freilich nicht den finanziellen Notstand der Kultur im Wirtschaftswunderblütenreich steuern, noch ihn grundlegend ändern konnte. Wenn wir uns hier nur auf den Sektor Musik beschränken, so sehen wir allein in dieser Sparte Mißstände genug. So steuern wir z. B. der vollendeten Tatsache entgegen, daß aus unseren Künstlern in erste Linie Großkaufleute werden. Ihre Terminkalender sind ebenso überfüllt wie die der Wirtschaftsmanager. Ihre Frage nach dem Honorar beginnt die künstlerischen Ambitionen zu überwuchern. Der ständige Zeitdruck, das Rasen von Bühne zu Bühne, bringt einen grausamen Materialverschleiß und damit erschreckend schwankendes Leistungsniveau mit sich. Sie brechen vor Arbeit fast zusammen, ruinieren sich tatsächlich, aber mehr im „Dienst am Kunden“ als im Dienst an der Kunst. Wer glaubt, dies gelte nur für die großen Prominenten, der irrt. Ähnlich verhält es sich mit den einzelnen Mitgliedern des Chores, des Balletts, des Orchesters. Fast jeder hat seinen Nebenverdienst, der den Hauptverdienst oft übersteigt und daher zum vordringlichen Interesse wird. Das absolute Anliegen ist nicht mehr der restlose Einsatz für das Institut, an dem man engagiert ist, sondern der Gewinn, mit dem man nebenbei das Monatseinkommen sehr wesentlich aufbessert. Warum sollten auch die Kleinen nicht üben, was die Großen ihnen vorexerzieren? Wo sind die Zeiten hin, wo ein Sängerteam tatsächlich bei einer Neueinstudierung vollzählig zur Verfügung stand? Sich Zeit und Liebe nahm, sich ausschließlich an Ort und Stelle dieser Aufgabe zu widmen? Und wo ist der Dirigent, der heute noch ein Konzert mit allen nötigen Proben herausbringen würde? Die Großen unter den Meistern des Taktstocks haben genug Perfektion, um sich bei guten Orchestern das Niveau zu erzwingen. Die Kleinen imitieren die großen Meister, und wenn sie wirklich ehrlich proben wollten, so würde ihnen dies ohnedies nicht bewilligt, weil der Betriebsrat oder die Gewerkschaft heftige Einwände erheben. Unsere großen Regisseure haben gewiß noch große und gute Einfälle. Doch kaum ist ein solcher mit Erfolg irgendwo realisiert worden, wird er in der Folge sofort an etlichen anderen Bühnen abgezogen, wie eine etwas variierte Kopie. Verständlich natürlich, jeder Mensch hat nur ein begrenztes Maß an Produktivität, doch man will mehr verdienen als man produzieren kann. Es geht ja auch hier ums Ausgelastetsein und dies bedeutet immer Gage. Wir haben andere Regisseure, die den Erfolg, den sie auf Grund schöpferischer Arbeit nicht erringen können, durch Sensationen zu erzwingen suchen. Und diese Spekulation pflegt meistens auch aufzugehen, denn trotz aller Ablehnung, Hand aufs Herz, wer geht bei guter Gelegenheit nicht hinein, um zu sehen, wie Bajazzo in einem Bett gespielt wird? Über die Komponisten der modernen Musik haben wir uns an diese Stelle bereits vor einiger Zeit auseinandergesetzt. Betrachten wir statt dessen das Publikum. Reden wir dabei nicht von den Adabeis, nicht von jenen, die den Raum des Theaters dazu benützen, Geschäftspartnern zu begegnen, oder jenen, die Modellkleider, Schmuck und Pelze im Glanze der Kristalluster wirkungsvoll zur Schau stellen. Diese hat es immer gegeben und wird sie immer geben. Daran ist weiters nichts Aufregendes. Was aber ist nun mit den Musikfreunden, die tatsächlich das schlagende Herz eines Instituts sind, oder es zumindest sein wollen? Am Enthusiasmus hat sich grundlegend – gottlob – nichts geändert. Unsitten beginnen jedoch auch hier zu wuchern, und diesen möchten wir ganz entschieden den Kampf ansagen, noch bevor sie üppig ins Kraut schießen. Denn wenn wir wollen, daß trotz der üblen Begleiterscheinungen, denen das Musikleben heute unterworfen ist, „die heilige Kunst“ gewahrt bleibe, dann liegt diese Aufgabe bei den Musikfreunden. Das bedeutet wirkliche Verantwortlichkeit, die damit zum Großteil jungen Leuten obliegen soll. Das aber darf nicht zum Problem werden. Hier muß unbarmherzig aufgeräumt werden mit Unfug. „Cliquen“ hat es immer gegeben, und der Name hat einen üblen Beigeschmack, den er in dieser Anwendung gar nicht verdient. Denn daß dieser oder jener Kreis diesen oder jenen Künstler überschwenglich verehrt, ist keineswegs anfechtbar. Wer von uns hätte nicht einmal seinen Schwarm vergöttert? Aber die Grenzen müssen gewahrt bleiben! Wenn der oder die Göttliche einen rabenschwarzen Abend verzeichnet, ist das forcierte Beifallsgebrüll lächerlich, dem Ruf der betreffenden Künstler mehr abträglich als nützlich, und ebenso dem Prestige des Stammpublikums. Unverständlich sind uns anonyme Briefe, die von irgendwelchen Leuten an Künstler gesendet werden, was wir – gleichgültig welchen Solisten und gleichgültig aus welchem Grund ihn dies betrifft – als indiskutable Gemeinheit brandmarken möchten. Ablehnen möchten wir – auch dies taten wir schon mehrmals – neuerlich die Ehrfurchtslosigkeit, mit der vorschnelle Urteile förmlich zum Slogan geprägt werden. Denn wenn an den Mißständen, die wir hier insgesamt streiften, irgendetwas geändert werden kann, dann ist es recht und billig, damit in unseren eigenen Reihen anzufangen. Wenn diese sauber und in Ordnung sind, dann erst haben wir ein Recht zur Unerbittlichkeit. Und Unerbittlichkeit ist am Platz gegen alle Auswüchse des modernen Musiklebens. Unerbittlichkeit gegen mangelnde Leistungen, für die gutes Geld genommen wird (nicht berührt wird davon vorübergehende Indisposition), sei es weil die Zeit ihren Tribut gefordert hat, sei es weil Sänger sich um harte Dollars verheizen ließen und dann nichts mehr als den großen Namen in die Waagschale zu werfen haben. Unerbittlichkeit gegen „Sensationsentdeckungen“, die außer dieser Sensation nicht das nötige Niveau aufweisen können, und Schach pathologischen Regieauswüchsen! Denn ohne dem Größenwahn anheim zu fallen, können die Musikfreunde gewiß sein, daß kein Opernhaus der Welt auf die Dauer in der Lage ist, gegen die Intentionen des Stammpublikums zu spielen. Diese gewisse Macht, die damit an die Ränge vergeben wird, darf jedoch nicht mißbraucht werden, sie verpflichtet vielmehr. Die Theatergeschichte soll späterhin nicht sagen können „Ihr durftet nicht erlauben, es zu erlauben!“, sondern mit Genugtuung feststellen: was auch war und gewesen ist, auf jenen Plätzen des Theaters, die dem Himmel näher sind, hat man nie vergessen, was man der „heiligen Kunst“ schuldig ist!.

 

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