SALZBURGER FESTSPIELE 1963
8. Jahrgang, Heft 8/9
Salzburg im Kreuzfeuer
Wieder einmal große Presseattacke, wieder einmal Fontänen von Druckerschwärze. Nur regt sich der Wiener Festival-Besucher und mit ihm der Merker weit weniger auf, wenn die Salzburger Festspiele etwas schnöde behandelt werden, als wenn das Gleiche, sei es nun aus edlen Motiven oder nicht, mit der Wiener Staatsoper und ihrer Linie geschieht. Groteskerweise wurde seitens der heimischen Presse nicht nur die Salzburger Linie, sofern überhaupt eine zu finden ist, sondern einfach alles – inklusive Publikum – einem eingehenden Verriß unterzogen. Das erscheint dem Salzburger Berichterstatter des Merker nun am interessantesten und deshalb sei auch damit begonnen. Kolonnen von Autos und Autobussen durchziehen die engen Straßen der bezaubernden Altstadt. Scharen von Menschen strömen von Haus zu Haus, von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit. Das ist in Salzburg so wie in Rom, in Paris und wie in Wien. Nur wird in den drei letztgenannten Städten kein Mensch annehmen, daß die Touristen alle dort selbst in die Opernhäuser strömen. Das macht ja doch nur ein Teil davon, der sozusagen das Angenehme mit dem Nützlichen verbindet. Die Journalisten tun aber in Salzburg geradeso, als ob nur buschbehemdete und beshortete Männlein und Weiblein die Vorstellung besuchten und der wahre Musikfreund von allem ausgeschlossen sei. Ich frage mich, wie die Wiener und Salzburger Kritiker auf diese komische Idee kommen? Ich selbst war heuer in der letzten Festspielwoche in Salzburg, weil ich dort bequem alle Aufführungen ohne Wartezeit hintereinander geschaltet hatte. Ich verfüge über ein recht gutes Personengedächtnis und habe eine ganze Menge sehr eleganter Leute genau die gleichen Aufführungen besuchen gesehen, in denen ich selbst war. (Daß ich sie quasi beruflich besuchte, ist kein Einwand, denn wäre ich nicht beim Merker, hätte ich vermutlich die gleichen Vorstellungen gehört, nur wäre ich sicherlich etwas billiger gesessen!) Ich frage mich: Was will man eigentlich für ein Publikum? Herbert von Karajan wünscht ein Premieren-Abonnement. Das ist ein etwas naiver Gedanke, denn Karajan ist ungebunden und frei und kann sich wahrscheinlich absolut nicht vorstellen, daß ein Mensch mit vier Wochen Urlaub auskommen muß, wobei er aber natürlich neben Festspielen auch noch gesündere Unternehmungen wie Schwimmen oder Skifahren und nebenbei vielleicht auch Kultur- und Besichtigungsreisen absolvieren sollte. Ich meine, daß selbst ein gutes und saturiertes Publikum hauptsächlich aus Leuten besteht, die neben ihrer Musikliebe auch noch eine nicht eben unwichtige Nebenbeschäftigung haben, von deren Erlös sie leben müssen. So viele Wochen, wie sie ein Premieren-Abonnement in Salzburg erforderte, wird aber vermutlich nicht einmal ein Generaldirektor dort verbringen, denn er geht wahrscheinlich lieber dorthin, wo das Wetter besser ist. Ein Premieren-Abonnement käme also nur für die „Adabeis“ oder für die glücklichen Lehrer und Professoren in Frage, die zwei Monate Urlaub haben. Ob letztere aber genügen, die Häuser zu füllen, ist wohl sehr die Frage. Die „Adabeis“ sind geschickt im Freikartenbezug, und ob ein Publikum, das von den Kloibers bis zum Baron Gecmann reicht (für Ausländer: Prominente Vertreter der österreichischen Society), sehr lukrativ für Salzburg ist, wage ich zu bezweifeln. Woraus schließt nun die Presse, daß das Publikum nichts wert ist? Zum Teil vielleicht aus undiszipliniertem Applaus. Und dies ohne Stehplatz, denn es gibt nur im umgebauten Kleinen Haus einen! Doch mußte sich Karajan auch in Wien sehr plagen, bis er erreichte, daß ihm nicht mehr in die Aktschlüsse hineinapplaudiert wird und in Italien ist sogar er dagegen machtlos. Das scheint also nicht unbedingt ein Negativum zu sein. Die Kleidung des Publikums? Dazu ist zu bemerken, daß die Hörer natürlich bei Karajanaufführungen eleganter sind als sonst, aber die oft zitierten offenen Hemdkragen habe ich in meinen Aufführungen nicht vorgefunden. Ich sah einen Herrn in schwarzem Rollkragen-Abendpullover, zu dem er, offenbar aus Snobismus, eine goldene Kette um den Hals trug. Er sah übrigens aus wie Stokowski, war es aber nicht. Vom „Bau“ scheint er immerhin gewesen zu sein. Die schlechtest angezogene weibliche Besucherin, die zu einem blau-grün-breitgestreiften Kleid, dessen Dessin sehr gut an einen Strand gepaßt hätte, einen schäbigen Silberfuchs, Lackschuhe und ein mit Männchen besticktes, folkloristisches Täschchen (sichtlich jugoslawisch oder griechisch) trug, und die ich fasziniert umkreiste, bis ich festgestellt hatte, welche Sprache sie spricht, entpuppte sich zu meiner unbeschreiblichen Erleichterung als Salzburgerin. Aber vielleicht stammte besagte Dame aus Maxglan oder Morzg und ist daher vielleicht, wenn sie mit dem Bus zum Festspielhaus gekommen war, auch schon in die Sparte „Sozialtourismus“ einzureihen. Eines konnte ich jedenfalls feststellen. Die ausländischen Journalisten, die ich beobachtete, kamen auch zu Reprisen und Konzerten durchwegs im Smoking oder festlichem Schwarz, während es von den österreichischen Vertretern dieser Branche keiner für nötig befand, bei solchen Anlässen mehr als äußerstenfalls einen halbwegs dunklen Straßenanzug zu tagen, der sich bei manchen Vertretern der kultivierten Wiener Kritik in einem derart zerknitterten Zustand befand, daß man annehmen mußte, der Herr habe damit geschlafen. Ich kann abschließend nur sagen: Die haben’s nötig, auf die Kleidung des Publikums zu schimpfen!
Doch Spaß beiseite – reden wir vom Programm. Das „Reprisen“-Festival hatte mit Troubadour und Rosenkavalier zwei Aufführungen von einsam hoher Klasse zu bieten, wie sie in der Gesamtwirkung heuer niemals von anderen Festspielen erreicht wurden. Sie hatten Così fan tutte in gleich bleibender und Iphigenie in Aulis und Die Hochzeit des Figaro in musikalisch erheblich verbesserter Qualität. Sie hatten eine Zauberflöte, die zwar musikalisch glatter Durchschnitt, im Szenischen immerhin so war, daß man darüber reden kann – und eine Provinz-Entführung, die wir gar nicht besuchten, da sich kein Merker fand, der hineinzugehen gewillt gewesen wäre. Der Jedermann war allerdings arg und Faust II nicht ohne Widersprüche. Es ringen also in der Salzachstadt zwei Machtansprüche um das Regiment. Einerseits fragt sich eine Gruppe: „was hätte Reinhardt gesagt“, andererseits wünscht die andere Partei große Aufführungen großer Werke, die international Aufsehen erregen sollen. Ich persönlich glaube, daß man hier wieder einmal den berühmten goldenen Mittelweg suchen müßte. Wenn ich mich streng programmatisch orientieren will, wenn ich die Geschlossenheit einer Aufführung, ohne Rücksicht auf große Einzelleistungen der vielgeschmähten und doch so gezüchteten Stars suche, werde ich wohl eher Bayreuth als Salzburg besuchen. Bin ich ein Snob, fahre ich nach Glyndebourne. Will ich ein spettacolo gehe ich nach Verona. Und will ich vom Normal-Festival ausweichen, gehe ich nach Spoleto, dort ist alles anders. Wenn ich aber nach Salzburg fahre, dann suche ich die Vielfalt des Repertoires, in dem sich die Musikkultur Europas wie in einem Brennspiegel sammeln sollte. Ich suche das große Konzept ohne tierischen Ernst. Ich suche die freiwillige Unterordnung großer Künstler unter das milde Diktat großer Persönlichkeiten. Ich suche die Schönheit ohne Krampf und die Leistung ohne Tam-Tam. Ob dies jetzt Reinhardt recht gewesen wäre oder nicht, ist mir ziemlich egal. Überdies glaube ich, daß sowohl Reinhardt wie auch Hofmannsthal neben ihren künstlerischen Qualitäten kaufmännisch und propagandistisch sehr wohl beschlagen waren, wogegen auch gar nichts einzuwenden ist. Sie hätten sich weit eher den Sechzigerjahren unseres Jahrhunderts anzupassen gewußt, lebten sie heute noch, als ihre Nachfahren und –beter, für die die Zeit anno 35 stehen geblieben zu sein scheint. Überdies hätten sie ihre persönlichen Geschäfte weit dezenter gemacht, als der jetzige Festspiel-Präsident, der alljährlich mit Wolfgang Amadeus Mozart abräumt. Seit ich mich für die Salzburger Festspiele interessiere, geht es mir auf die Nerven, daß die Matineen und Kammerkonzerte, die wahrscheinlich neben dem Jedermann am ehesten dem Autobus-Tourismus ausgesetzt sind, (weil die „nicht nach Salzburg passenden “Stücke meistens bereits im Februar ausverkauft sind) auch bei den Rundfunkübertragungen noch Gelegenheit zum „Rebbach“ bieten. Vernehme ich die Ansage „Sie hören jetzt die 45. Folge der Reihe Mozart auf der Reise nach Neu-Lengbach, es liest der Autor“, drehe ich wütend das Radio ab. Aber Professor Paumgartner war doch allen jenen so recht, die sich genötigt sahen, das Spezifisch Salzburgische der Festspiele gegen den Imperialen Internationalismus eines Karajan zu wahren. Dabei haben sie übersehen, daß Salzburg in der Provinz liegt. Jetzt haben sie das Resultat, dazu noch das Diktat einer Schallplattenfirma, die sich wortwörtlich in ihrer Presseankündigung zu publizieren traut:…„diese Dokumentation…die die enge Verbundenheit unseres Kataloges mit dem Programm der diesjährigen Salzburger Festspiele auf den Gebieten Oper und Schauspiel nachweist“…Ich finde, daß man sich eher über diese Erscheinung aufregen sollte, als über die Kleidung des Publikums oder über die Frage, ob Verdi nach Salzburg passe oder nicht, wobei man noch übersieht, daß bereits in den Dreißiger-Jahren italienische Opern auf dem Spielplan der Festspiele standen.
IPHIGENIE IN AULIS am 23. August in der Felsenreitschule
Die Aufführung, in unveränderter Besetzung wie die vorjährige, schien im Vergleich zu dieser noch ausgeglichener, geschlossener. Die Sänger waren mit ihren Partien um vieles mehr eins geworden als letztes Jahr. Karl Böhm nahm die Tempi etwas rascher als früher, sehr zum Vorteil des Werkes. Von den Sängern muß man nach wie vor Christa Ludwig als Iphigenie zuerst nennen. Die Schönheit der Stimme, die technische Beherrschung und die Intensität des Singens sind einmalig. Neben ihr Walter Berry, dessen Stimme seit dem Vorjahr um etliches größer und geschmeidiger geworden ist, als Agamemnon, auch eines „Oskar“ würdig. James King, im Vorjahr durch die kurzfristige Übernahme der Partie gehemmt, hat sie sich jetzt ganz zu eigen gemacht, singt alles in der Originaltonart und vieles sogar in der schwierigeren Fassung (im Auszug durch kleine Notenschrift kenntlich). Stimmlich am Unausgeglichensten war Inge Borkh als Klytämnestra. Die übrigen Mitwirkenden hielten das Niveau vom Vorjahr. Orchester und Chor waren in Festspielverfassung.
COSÌ FAN TUTTE am 25. August im Kleinen Festspielhaus
Günther Rennerts Musterinszenierung steht nun das vierte Jahr auf dem Spielplan der Salzburger Festspiele und ist charmant, heiter und bildhaft schön wie eh und je. Nur gelegentlich schleichen sich von einigen Sängern gestartete persönliche Gags ein, die den Keim der typischen Wiener Mozart-Blödelei enthalten. Es ist nun einmal der Lauf der Welt, daß in einer eingespielten Inszenierung, deren Darsteller ihre Partien und alle Gänge bereits im Schlaf können, persönliche Einfälle auftauchen. Das ist bei gleich bleibender Besetzung nicht zu verhindern. Der Merker hat immer danach gerufen, daß die Aufführung ins Theater an der Wien übersiedle, aber angesichts der Tatsache, daß sie dann bald zerfallen würde, sage ich schon bald selbst, daß es schade darum wäre. Die Salzburger sollen sie in Gottes Namen noch einmal vier Jahre spielen, aber doch wohl umbesetzt, damit die Aufführung wieder wie neu ist. (Nur fürchte ich, daß sich gar nicht alle Rollen umbesetzen lassen, denn manche Leistungen sind einmalig.) Man sieht, daß also nicht nur das Star-‚Un’-Wesen, wenn sich die Sänger erst auf der Bühne zum ersten Mal treffen, seine Tücken hat, sondern auch die Ensemble-Kultur, denn sie führt entweder zur Erstarrung oder zum Übertreiben. Karl Böhm allerdings und die Wiener Philharmoniker waren heuer besonders gut, besonders lebendig, humorvoll und klangschön. Die Damen Elisabeth Schwarzkopf, Christa Ludwig und Graziella Sciutti waren jede in ihrer Art vollendet, nicht nur stimmlich und technisch, in der Phrasierung und im Ausdruck. Jede der Damen stellt einen völlig abgerundeten Typ dar, und Dame, Weibchen und Kammerkätzchen ergänzen und überschneiden einander ideal. Von den Herren hat Hermann Prey neben seiner dezent bleibenden Komik auch die beste stimmliche Leistung zu bieten, noch dazu in einem guten, offenbar mit viel Fleiß erlernten Italienisch, sowohl im Stil als auch in der Aussprache. Waldemar Kmentt hat sich im Zuge eines allgemeinen Formanstiegs und technischer Verbesserungen der Stimme auch als Ferrando verbessert. „Aura amorosa“ macht ihm weit weniger Mühe, seit er mehr Stimme gibt und nicht mehr der weit verbreiteten Ansicht huldigt, Mozart müsse man mit Kopfstimme säuseln. Karl Dönch allerdings hat keine Stimme für Mozart und da er auf der Bühne verhältnismäßig zurückhaltend ist (speziell im Gegensatz zu dem, was er in anderen Partien zu treiben pflegt, ohne daß sich auch nur eine Stimme gegen sein Tun erhebt), fällt er weniger auf. Der Chor hielt sich im Gegensatz zum Vorjahr sehr gut. Die Verjüngung hat offenbar auch schon auf kleine Besetzungen übergegriffen.
DIE HOCHZEIT DES FIGARO am 26. August im Kleinen Festspielhaus
Diese Aufführung, die ich voriges Jahr nicht als einziger Besucher schrecklich fand, hat sich ebenso überraschend wie entscheidend verbessert. Es lag wohl zum Großteil an der musikalischen Leitung von Lorin Maazel, der straff und sicher und nur gelegentlich mit etwas persönlichen Tempi dem Orchester seinen ihm gebührenden Anteil am „Tollen Tag“ verschaffte. Beim Figaro muß das Orchester einfach mitspielen, denn sonst fehlt der Aufführung etwas, was zu der Folgerung führt, man dürfe diese Oper niemals einem Kapellmeister, sondern immer nur einem Dirigenten anvertrauen. Überdies paßte der straffe, energische Dirigent auch besser zu Raffaelis spanischer Gitterdekoration, die mich lange nicht so störte wie im Vorjahr. Erstens gewöhnt man sich offenbar an alles und zweitens paßt sie besser zu dem modernen Haus, als in den alten Gipsschlauch. Zu den schräggestellten Holztafeln, die den Raum optisch verbreitern und den Modefarben Sand und Anthrazit, die im Zuschauerraum nun vorherrschen, läßt sich wohl auch ein Gitter hinstellen. Störend finde ich nach wie vor, daß die Bewohner von d’Aguas Frescas, drei Stunden von Sevilla gelegen, ob alt, ob jung, ob arm, ob reich, entweder in Leder oder in Samt gehüllt sind. Was soll denn das für ein besonderer Gag sein? Die Regie (Gustav Rudolf Sellner) hat sehr viel von ihrer Schärfe verloren. Zum Teil machten die Sänger wie Sciutti und Lear, was sie für gut befanden, genauso wie dies im Vorjahr schon Fischer-Dieskau und Evans taten. Überdies ging die Gräfin von der strengen, ernsten und verinnerlichten Jurinac auf Hilde Güden über, deren wienerischer Charme die Inszenierung einigermaßen weicher machte. Dazu hatte ich auch noch Walter Berry als Figaro gesellt, der den Abend noch dazu verwienerte. Dieses typisch wienerische Element, das ich in seiner höchsten Stufe (etwa bei Schöffler, Kunz oder neuerdings Wächter) bei Mozart sonst gar nicht sehr schätze, tat dem tierischen Ernst des vorjährigen Konzepts in dieser Dosierung sehr gut, ebenso der Schuß italienischen Gesangsstils, den Graziella Sciutti mitbrachte. Hilde Güden, die neue Rollen jahrelang äußerst sparsam dosierte, ist es passiert, daß sie innerhalb eines Monats zwei der schwierigsten lyrischen ins jugendlich-dramatische Fach tendierenden Mozartrollen sang. Für die Figaro-Gräfin hatte sie sicher mehr Proben und deshalb gelang ihr das, was bei ihrer Elvira wohl, wenn sie die Partie fünfmal gesungen haben wird, auch gelingen wird: Sie sang sie traumhaft schön und makellos, perfekt in der Phrasierung und Atemtechnik und anscheinend völlig mühelos. „Dove sono“ z. B. haben wir noch selten so vollendet dargeboten gehört. Da saß sogar der gefährliche Triller kurz vor Schluß wie angegossen und die Spitzentöne strahlten nur so. Für das Finale des zweiten Aktes klang die Stimme allerdings etwas schlank. Da mußte man sich erst an Frau Güden gewöhnen. Herrlich war aber das Briefduett, in dem ihre Stimme mit der von Graziella Sciutti so zusammenklang, als könnte man das gar nicht anders singen. Graziella Sciutti, die Charakterschauspielerin unter den hohen Sopranen (man wagt es gar nicht, sie Soubrette zu nennen) spielte ihre hinreißend echte, menschliche Susanna und sang einen Traum von einer Rosenarie. Evelyn Lear hat sich gegenüber dem Vorjahr verbessert. Ihr Cherubino ist weniger süß und weniger gewollt schalkhaft, sondern etwas ruhiger. Die zweite Arie sang sie stilvoll und sehr schön, auch im Timbre. Während gerade dieses sonst bei ihr ziemlich fehlt und durch Intelligenz ebenso wenig ersetzt werden kann wie die ihr ebenfalls mangelnde Persönlichkeit. Gerade Persönlichkeit muß auch vom Herzen her kommen, nicht nur vom Köpfchen. Dietrich Fischer-Dieskau sang mit kraftvoller, etwas verdunkelter und dramatischer Stimme eine prächtige Arie. Er war überhaupt hervorragend, wenn er sang. Das, was er bei den Rezitativen tut, ist ja nicht unbedingt als Singen zu bezeichnen. Auch eine Persönlichkeit vom Format eines Fischer-Dieskau kann sich ruhig einem musikalischen Konzept unterordnen. Als Darsteller tat er, was er für gut befand und das meistens etwas zu viel. Walter Berry, der den letzten Figaro von Geraint Evans übernommen hatte, sang prächtig, kam aber manchmal in seiner Arie im vierten Akt mit Maazel auseinander. In die Inszenierung fügte er sich gut ein. Er wirkt hier eher weich und ein wenig burschikos, aber das war, wie gesagt, ein Positivum. (In der Wiener Inszenierung ist er dagegen fast revolutionär). Peter Lagger gab einen brüllenden Bartolo, John van Kesteren und Patricia Johnson hielten sich ans vorjährige Regiekonzept und bleiben übertrieben vergreist. Die Barbarina namens Barbara Vogel hat auch eine Vogelstimme. Man dürfte sie engagiert haben, weil sie Fischer-Dieskau imitieren kann. Siegfried Rudolf Frese wird immer aufdringlicher und scheint sich bald als Dritter im Bunde dem Duo Majkut-Dönch zugesellen zu wollen.
DER TROUBADOUR am 27. August im Neuen Festspielhaus
Wir konnten es selbst kaum fassen, nicht glauben, daß die Aufführung im Niveau fast noch über der des Vorjahres lag. Im Allgemeinen wiederholen sich Wunder nicht. Und als auch noch die Nachricht von der Absage Corellis durchsickerte, war man geneigt, pessimistisch zu werden. Aber, o Wunder! Die Aufführung saß. Orchester und Chor waren besser denn je (in meiner Aufführung hatten die Herren sogar die heikle Stelle im ersten Akt…„Sull orlo dei tetti“…, die ich in meinem Leben noch nicht ordentlich gehört hatte, tadellos gesungen) und Inszenierung und Beleuchtung waren eindrucksvoll und stimmungsmäßig überragend wie im Vorjahr. Und die Sänger? Die waren noch besser! Leontyne Price hatte in beinahe umwerfendem Maße Stimmschönheit und Gesangskultur zu bieten. Man glaubt es kaum, wie sie „Tacea la notte“ singt, wie ihre Stimme engelsgleich über das zweite Finale strahlt. Die Phrase „Sei tu dal ciel disceso…“ muß ich noch gesondert erwähnen. Herrlich war die große Arie, nach deren schwebenden hohen Phrasen sie sich in die Alt-Tiefen des Miserere stürzte, um kurz nachher wieder zu glanzvollen Koloraturen zurückzukehren („Vivra…“). La grande Simionato erfüllte die Partie der Azucena mit ihrer wunderbaren Stimme, in der alles mitschwingt, was der italienischen Oper über alle Verspottung und Bemitleidung hinweg immer neues Leben und neue Kraft verleiht, ihre Persönlichkeit, die fast zur Gänze mit den Ausdrucksmitteln des Gesanges auskommt, ihre Intensität, ihre Musikalität und ihre traumhafte Sicherheit und Überlegenheit. Ettore Bastianini war heuer weit besser bei Stimme als im Vorjahr. Die Stimme hat zwar ihre Weichheit und ihren Samt zum Teil verloren, ist aber immer noch schön genug, um zu begeistern. Überdies singt Bastianini heuer weit konzentrierter, intensiver und feuriger. Die Spitzentöne haben Glanz und Metall (und der Luna ist ganz schön hoch!). Mir persönlich gefällt Bastianini jetzt fast besser, weil er erstens mehr gibt, als zu den Zeiten, da es mühelos von selbst lief, und zweitens das leidige Distonieren von früher völlig aufgehört hat. Überdies ist er für den Luna der hundertprozentig ideale Typ von der nötigen düsteren Ritterlichkeit. James McCracken schätzen wir als gewissenhaften, fleißigen, mit viel Stimme begabten Sänger schon seit langem. Daß es ihm so völlig gelang, sich in die Aufführung bruchlos einzufügen, ist sowohl für den Sänger selbst als auch für die Festspiele bedeutungsvoll und erfreulich. Die starke, metallische Stimme hat eine explosive Höhe aufzuweisen, die wir bei ihm gar nicht vermuteten. So hohe Partien wie den Manrico hat er in Wien ja nie gesungen. Geschmack und Stilgefühl kamen ebenfalls sehr gut zur Geltung. Daß er klug genug ist, sich vorteilhaft zu schminken und zu kostümieren, fiel ebenso angenehm auf, wie ein dezentes Understatement auf der Bühne. Die kleinen Rollen waren mit Nicola Zaccaria, Laurence Dutoit, Kurt Equiluz, Siegfried Rudolf Frese und Rudolf Zimmer sehr gut besetzt. Herbert von Karajan führte mit Feuer und lyrischem Gefühl, mit dramatischer Intensität und dem Herzen eines wahrhaft Großen durch Verdis Zaubergarten der Melodie.
DIE ZAUBERFLÖTE am 28. August im Neuen Festspielhaus
Diese Aufführung mag als Festspieleröffnung wohl etwas deprimierend gewirkt haben. Für mich selbst lag sie ziemlich am Ende und ich war schon darauf vorbereitet, daß andere Aufführungen besser sind. Musikalisch hätte man sich mehr Mühe geben könne. Istvan Kertesz ist ein derart uninteressanter Durchschnittsdirigent, daß eine Festspieleröffnung für ihn nicht in Erwägung gezogen werden dürfte, auch wenn er noch so fest gestützt wird. (Von seiner Schallplattenfirma, die ihrerseits auch einen – hypothetischen – Verband der Exilungarn unterstützen dürfte, denn die Ungarn sind im Musikleben schon die reinsten Freimaurer. Sie halten zusammen und lancieren ihre Leute.) Ich frage: Weiß man in Salzburg nicht, daß Josef Krips der beste Zauberflöten-Dirigent weit und breit ist? Es soll nur ja niemand einwerfen, er sage ohnedies immer ab. Eine Festspieleröffnung nach anständigen Proben hätte er sicherlich nicht abgesagt. Und apropos: Ist nicht auch der verläßliche Sawallisch ein halbes Jahr vor dem Premierentermin zurückgetreten? Das Gleiche tat Oscar Fritz Schuh, der vorgesehene Regisseur, und man muß direkt froh sein, daß der junge Otto Schenk den Mut hatte, hier einzuspringen. Ich finde nur die Verkleinerung der Bühne des Großen Festspielhauses nicht sehr sinnreich, denn wozu hat man eine große Bühne? Damit man sie kleiner macht? Das ist allerdings kein Vorwurf für Otto Schenk. Naiv, wie ich schon einmal bin, hätte ich mir den Vorgang eines Regieengagements in Salzburg eigentlich so vorgestellt, daß zweieinhalb Jahre vor der projektierten Aufführung ein Regisseur beauftragt wird, ein Konzept zu entwerfen. Wenn er nach einem halben Jahr eines gefunden hat, geht er nach Salzburg und zeigt es den maßgebenden Herren. Und die hätten jetzt sagen müssen: Lieber Herr Schenk, ihre Zauberflöte ist zwar im Treatment sehr gut, sie wollen sie eher volkstümlich, quasi auf der Pawlatschen. Das paßt aber nicht ins große Haus. Also spielen wir sie im Kleinen Haus und im Großen statt dessen den Don Giovanni unter Zeffirelli oder die Medea oder die Trionfi oder…usw. Das hätte man vor zwei Jahren sagen können, aber heuer war man, wie gesagt, in Salzburg froh, daß sich überhaupt einer gefunden hat, der die Salzburger Eröffnung inszeniert. Otto Schenk verkleinerte also die Bühne, wobei er die freibleibenden Seiten als Abstellraum für Kulissen benützte. Jörg Zimmermann, sein Bühnenbildner, stellte hier allerhand Ginkogewächse und Riesenschachtelhalme aus dem Mesozoikum auf, hielt im Hintergrund auch noch Kalkalpen bereit, klassizistische Tempelchen, aber auch solche, die wie achämenidische Felsengräber aussahen, Steinlöwen mit gutmütigen Gesichtern, wie sie die Hethiter einst den ihren meißelten, und barocke Säulen und Putten. Die Zauberflöte reizt jeden Bühnenbildner zu einem stilistischen Ragout, was aber gelegentlich, wie bei Jörg Zimmermann, sehr reizvoll sein kann. Allerdings erwies sich die Spielfläche für die Menge von Kulissen als zu klein. Wenn Tamino, Papageno, die drei Damen und die Schlange sie bevölkerten, ging sie über, und der Chor hielt sich später zum Teil im Niemandsland zwischen den beiden Bühnenrahmen auf, was ich nicht sehr sinnvoll fand. Im übrigen war die Personenführung ausgezeichnet. Gegen die Demokratisierung von Sarastros Reich habe ich weit weniger einzuwenden, als jene, denen die Freimaurerei fehlt. Es ist ja immerhin erwiesen, daß sich Mozart sehr dafür interessiert hat, aber gelegentlich wieder auch andere Sorgen gehabt hat, speziell 1791. Wenn also der Regisseur die Priester, modern diskutierend, ohne Pathos, ohne Kothurn und sogar ohne Perücken sehen will, weil ihm das eben als Ideal eines Friedensreiches erscheint, so soll er es ruhig durchführen. Er müßte nur verhindern, daß die Priester bei ihren Chören 40 Mann stark erscheinen, während die „Volksszenen“, also alle Szenen mit dem degradierten Damenchor, nur von höchstens zehn Priestern durchsetzt sind. Es erscheint mir merkwürdig inkonsequent, daß ich erst darüber nachdenken muß, ob die anderen Priester vielleicht Innendienst haben. Sonst ist nämlich Schenk gelegentlich geneigt, überdeutlich zu werden, speziell in der Szene der drei Damen. Jeder Opernfreund weiß, daß die Damen gleich, nachdem sie Tamino erblickt haben, singen, „was würde ich darum nicht geben, könnt ich mit dem Jüngling leben…“ usw. und erkennt daraus, daß es mit ihrer Moral nicht weit her ist. Die drei Damen aber dann noch im Trikot und hüftschwenkend um Tamino herumtänzeln zu lassen, finde ich unnötig. Oder sollte man in Salzburg Mozartopern speziell für Leute inszenieren, die das Werk zum ersten Mal sehen? Das will ich denn doch nicht hoffen! Blendend fand ich die Textbearbeitungen in den Papagena- und Papageno-Szenen, und ich gesteht, daß ich mich bei der im Dialekt sprechenden Papagena in der Maske einer alten Bäuerin bestens unterhalten habe. Das war echtes Volkstheater und Mozart hätte es sicherlich auch gefallen. (Ein für immer gültiges Meisterwerk ist ja der Text dieser Szenen nicht, daß man ihn nicht ein wenig ändern könnte.) Etwas unmotiviert erschien mir allerdings die Erscheinung der Königin der Nacht als kretische Schlangengöttin. Da hat Otto Schenk mühsam mit dem Freimaurer-Symbolismus aufgeräumt und das ägyptische Element, das immerhin mit Isis und Osiris textlich auch erwähnt wird, gar nicht erst berücksichtigt. Er läßt die Priester abendländisch wie ganz weiße Dominikaner auftreten und dann streift er mit der Schlangengöttin erst recht einen dunklen, urtümlichen Kult. Die Muttergöttin und ihr dunkles Reich scheint nicht nur in Bayreuth, sondern nun auch schon hier ins Unterbewußtsein der Regisseure vorzudringen. Hill Reihs-Gomes kleidete die Mitwirkenden mit Phantasie, versagte aber bei der Pamina, deren unkleidsames, dunkelblaues Kostüm Pilar Lorengar mehr zu schaffen macht, als die deutsche Sprache es tut. Gesungen hat sie sehr schön und stilvoll. Roberta Peters fehlt für die Königin der Nacht nicht nur die Sprache, sondern auch die Persönlichkeit. Ihre Kopfstimme ist klar und blitzsauber, was dazu führt, daß sie die Koloraturen singt und nicht quietscht, was jahrelang nicht mehr zu hören war. Ihre Mittellage ist dafür gläsern, unschön und winzig klein. (Sie ist die typische Radiosängerin. In der Premiere, die ich im Rundfunk hörte, hat sie mir sehr gefallen.) Anneliese Rothenberger war eine köstliche, älplerische Papagena mit bewundernswertem Dialekt. Die drei Damen (Maria van Dongen, Cvetka Ahlin und Patricia Johnson) scheinen mehr nach den Qualitäten ihrer Beine als ihrer Stimme ausgesucht worden zu sein. Am besten hielt sich noch letztere, die das altjüngferliche Kapotthütchen, das sie als Marzelline zu tragen gezwungen ist, durch besonders lange Beine und ein badeanzugähnliches Kostüm kompensierte. Die drei Knaben waren gut mit Lucia Popp, Yvonne Helvey und Hildegard Rütgers besetzt. Ich ziehe eine Damenbesetzung (wenn sie jung ist, wohlgemerkt, und nicht Ensembleveteraninnen damit ihre Abende abdienen) den verhemmten Buben vor, die auf einer großen Bühne immer nervös werden. Waldemar Kmentt war sowohl gesanglich wie auch im Spiel und Ausdruck ein vorzüglicher Tamino. Erstaunlich, daß Salzburg heuer die Absage zweier Spitzentenöre (Corelli und Wunderlich) so klaglos verkraften konnte. Papageno war bei Walter Berry in den besten Händen, der seine Fähigkeiten, volkstümlich, naiv und dabei doch charmant zu wirken, noch zu steigern wußte. Er war auch stimmlich prächtig. Für das Große Haus ist seine Stimme gerade richtig. Franz Crass sang einen freundlichen, gutmütigen Sprecher, und das wunderschön. Walter Kreppels Riesenstimme schien ausgeruht und deshalb ruhiger. Die legere Auffassung, die die Regie von dem Priesterkönig Sarastro hat, stand ihm gut. Renato Ercolani war als Monostatos fehlbesetzt. Die Geharnischten gestalteten James King und Georg Litassy sehr kräftig. Den Auftritt der sprechenden Sklaven fand ich unerträglich plump, geradezu ordinär, sowie fad. Wozu man diesen Strich aufgemacht hat, weiß ich nicht. Das störte mich schon in der Eröffnungs-Aufführung des Theaters an der Wien. Abschließend möchte ich sagen, daß es nur zwei Opern gibt, die man (zumindest in Mitteleuropa) deutschsprachig besetzen muß: Der Rosenkavalier und Die Zauberflöte. Daß man die Zauberflöte mit Fremden Akzenten, die von Englisch, über Italienisch, Spanisch und Tschechisch bis Ungarisch reichten, derart überlastete und dadurch eine Sprachregie unmöglich machte, finde ich paradox. Immerhin ist aber die Zauberflöte eine Aufführung, die vielleicht im nächsten Jahr, bei glücklichen Umbesetzungen auf der Bühne und am Pult, erheblich besser werden könnte.
DER ROSENKAVALIER am 29. August im Neuen Festspielhaus
Diese Aufführung kann in der Geschichte der Salzburger Festspiele einen Ehrenplatz einnehmen und zwar insofern, weil alles „so stimmt“. Hier ist Rudolf Hartmann eine seiner dezentesten, schönsten und vornehmsten Inszenierungen gelungen. Hier beweist Herbert von Karajan, daß er einen schöneren Strauss dirigiert, als mancher Spezialist. Ich bin so weit, ihn neben, ja fast über Krauss, Kleiber und Kna zu stellen, weil ich einen solchen Blumenteppich bei den hundertzehn Rosenkavalieren, die ich hörte, noch nie erlebt habe. Elisabeth Schwarzkopf durchlebte und durchlitt die Marschallin, völlig eins mit der Rolle, ergreifend im Schmerz und im Glück, voll Charme und Persönlichkeit und wienerischer, weil sanfter resignierend als sonst. Die kostbare Stimme und die geschliffene Phrasierung vervollkommneten dieses Bild der Marie Theres Werdenberg. Sena Jurinac ist Oktavian, voll Feuer und Charme, als junger Herr und Liebhaber einer Fülle von Nuancen mächtig, als Mariandl dezent und charmant, immer des „großen Hauses“ eingedenk. Daneben hat sie Momente slawischer Melancholie und bubenhafter Munterkeit, die der Figur Glanzlichter aufsetzten. Gesungen hat sie ebenfalls prachtvoll. Anneliese Rothenbergers charmante Sophie ist in der Hartmann-Inszenierung am allerbesten, weil in die Kultur der ganzen Aufführung einbezogen. Ihre Lebendigkeit und Spontaneität wirken dann umso mehr. Ihr heller Sopran rundete das Terzett der Frauenstimmen auf das Beste ab. Otto Edelmann hat zwar einiges an Stimme eingebüßt, was für den Ochs aber eher ein Vorteil zu sein scheint, weil er nun den Plauderton weit besser beherrscht. Er hat nun so etwas wie gutmütigen Charme und eine ausgezeichnete musikalische Zeichnung der Figur zu bieten. Regolo Romani hielt sich als eingesprungener Sänger recht wacker. Der Wermutstropfen dieser Aufführung war wieder einmal Karl Dönch, der mit fahler Stimme und stumpfer Höhe seine Partie herunterbrüllte und so outrierte, daß er schon nicht einmal mehr komisch war. Man wurde sogar todtraurig bei dem Gedanken, daß sich niemand findet, der einer derartigen Fehlleistung einen Riegel vorschiebt. Immerhin hätte man doch sicher Kunz oder Poell für die drei Aufführungen gewinnen können. Hetty Plümacher, Judith Hellwig, Renato Ercolani und die Herren Josef Knapp, Alois Pernerstorfer und Fritz Sperlbauer komplettierten die Besetzung. Das Orchester spielte bis auf das Violinsolo am Ende des ersten Aktes einfach herrlich und mit echt Wiener Charme.