Paneuropa
erschienen November 1947 in "Der Weltstaat", Nummer 4, S.16-17

Der einfache Mann ist ein wenig verwirrt von der Fülle der Nachrichten, die er seit Kriegsende lesen kann: Meldungen über diese oder jene Organisation, die sich da oder dort in Deutschland gebildet hat und die Vereinigung Europas anstrebt, ohne dass dabei ersichtlich wäre, worin sich die verschiedenen Gruppen eigentlich unterscheiden und was die Ursachen ihrer oft geringen gegenseitigen Hochschätzung sind; Nachrichten über ausländische Bestrebungen gleicher Richtung mit Exponenten, wie Winston Churchill, Graf Richard Coudenhove-Kalergi und neuerdings George C. Marshall; Artikel über Europakongresse in Gstaad und Montreux; und – last not least – Stimmen aus dem Osten, die Skepsis und Unwillen über all diese paneuropäischen Bemühungen spiegeln und sie als Bildung eines gegen die Sowjetunion gerichteten Westblocks verdächtigen.

Vereinigte Staaten von Europa – dieses Wort ist heute eine beliebte Münze geworden. Jeder führt es im Munde, jede Vereinigung hat es irgendwie in ihrem Programm, jeder Politiker gibt sich mehr oder weniger europäisch – aber kaum zwei Leute sind sich darüber einig, was sie eigentlich unter diesen vereinigten Staaten verstehen, ganz zu schweigen von den verschiedenen Meinungen über die Methoden, mit denen das Ziel erreicht werden soll. Durch den Schleier der vergangenen zwölf Jahre hindurch erinnert man sich noch ungenau an die damaligen Paneuropabestrebungen. Wird hier einfach angeknüpft, oder hat sich Neues gebildet? Hängen alle diese Bemühungen, die heute vielfältig im IN-und Ausland rege sind, miteinander zusammen, oder sind sie voneinander unabhängig und bekämpfen sich womöglich? Handelt es sich um mehr oder weniger privat-idealistische Ziele, oder stehen weltpolitische Machtkonzeptionen dahinter?

Selbst für Leute, die sich eingehend mit der Materie befasst haben, ist es nicht leicht, diese Fragen konkret zu beantworten. Allein ein Blick auf die zahlreichen Europavereinigungen, die nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland aus dem Boden geschossen sind, offenbart eine Fülle von Problemen und Wiedersprüchen, ohne dass ein allgemeiner Nenner gefunden werden könnte. In Hamburg orientiert man sich nach Coudenhove-Kalergi und will als politische Partei arbeiten, in München-Gladbach lehnt man sich an die Union Européenne des Fédéralistes in Paris an, manche sind für eine enge Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Ländern, andere machen Vorbehalte, ein Teil zeigt sich als Anhänger der Pläne Churchills, und in einigen Kreisen verbindet sich mit der paneuropäischen Idee die versteckte Hoffnung auf eine bequeme Rückkehr Deutschlands in die weltpolitische Sphäre.

Eines weiß niemand mit Eindeutigkeit zu sagen: wo die Grenzen dieser Vereinigten Staaten von Europa liegen sollen.
Für ein unkompliziertes Gehirn ist Paneuropa zunächst identisch mit dem geographischen Begriff unseres Erdteils und reicht vom Ural bis Island, vom Nordkap bis Sizilien. Aber schon Graf Coudenhove-Kalergi erkannte, als er 1923 seine Paneuropa-Union gründete, dass diese Konzeption politisch nicht realisierbar sein würde, weil sie eine Teilung des sich über zwei Kontinente erstreckenden Russlands und der Türkei zur Voraussetzung hätte. Außerdem war zum damaligen Zeitpunkt mit einer Beteiligung des britischen Weltreiches nicht zu rechnen, da die Vereinigung Europas naturnotwendig auch die Kolonien einschließt.
Für Coudenhove-Kalergi und seine Anhänger begannen daher die vereinigten Staaten Europas an der Kanalküste und hörten an der russischen Grenze auf; die Türkei wurde – auch in ihrem europäischen Teil – ganz gestrichen. Die Frage eines Beitritts Englands wurde der zukünftigen Entwicklung überlassen, schon weil das Problem unlösbar schien, was mit der englischen Krone in einer europäischen Republik geschehen sollte.

Seit der Umwälzung, die der zweite Weltkrieg auf allen Gebieten hinterließ, hat sich das politische Bild Europas weitgehend kompliziert. Die Machtsphäre Russlands hat sich, quer durch Deutschland, bis zur Elbe erweitert und umfasst eine Reihe wichtiger osteuropäischer Staaten von Finnland bis Jugoslawien. In Spanien regiert nach wie vor, lediglich von symbolischen Protesten der Welt behelligt, der nationale Faschismus. Schweden und die Schweiz ragen als einsame Inseln aus einem Meer der Zerstörung, Mangel und düsteren Problemen hervor. Mit anderen Worten: Europa, vor 1933 ein Gebilde weitgehend ähnlicher Staaten, ist heute aufgeteilt in ein Nebeneinander von arm und reich, Siegern und Besiegten, Diktaturen und Demokratien.

Eine Vereinigung all dieser Gegensätze ist ungleich schwieriger geworden, als sie in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen schien. Das United Europe Commitee, das Churchill 1946 ins Leben rief, hat mehrfach erklärt, das es unbedingten Wert auf eine Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staaten legt und keine unfreundlichen Absichten gegen die Sowjetunion hege, ohne damit deren Misstrauen zerstreuen zu können. Die Ausdehnung seiner Arbeit erstreckt sich daher im wesentlichen auf die Länder Europas, die heute zur westlichen Einflusssphäre gerechnet werden können. Es sind fast dieselben, die sich beim ersten politisch praktischen Europaprojekt, dem Marshall-Plan, am Konferenztisch zusammengefunden haben: Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Griechenland, Holland, Irland, Island, Italien, Luxembourg, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz und Türkei. Die deutschen Westzonen waren nur als Objekt mit im Spiel.

Aber obgleich England sowohl Churchill- als auch im Marshall-Plan nun seinen Platz einnimmt, zeigt die Karte, dass der Boden für eine europäische Einheit wieder schmaler geworden ist. Der Marshall-Plan darf in dieser Betrachtung nur am Rande eineuropäisches Projekt genannt werden. Denn einmal ist er nur ein wirtschaftliches Hilfsprogramm, das die politische Souveränität der Teilnehmerstaaten nicht berührt, zum anderen aber liegt sein eigentliches Schwergewicht außerhalb Europas, nämlich in den Vereinigten Staaten von Amerika, deren Hilfe das Kernstück bildet.

Vielleicht zeigt aber gerade dieser Umstand, dass die paneuropäische Idee, heute noch lebhaft diskutiert, praktisch bereits von der geschichtlichen Entwicklung überholt ist. Der Marshall-Plan ist jedenfalls ein Beweis für den globalen Zusammenhang aller Belange der menschlichen Gesellschaft. Es gibt keinen Isolationismus mehr, weder für ein Land noch für einen Kontinent.

Selbst die paneuropäischen Organisationen beginnen mehr und mehr diese Einsicht zu vertreten, wenn in ihren vielerlei Programmen neuerdings immer wieder ein Passus zu finden ist, der die Notwendigkeit einer Weltföderation aller Staaten anerkennt. Welchen Fortschritt dies bedeutet, erkennt man erst, wenn man sich daran erinnert, dass Graf Coudenhove-Kalergi vor 1933 sein Paneuropa noch als völlig souveränes Gebilde und sogar als „Defensivbündnis“ darstellte.

Heute, im Zeitalter der Atomenergie und des planetarischen Flugverkehrs, ist Paneuropa, im Weltmaßstab gesehen, Partikularismus. Vom energetischen Standpunkt ist die Kraft, die jeder Europäer aufbringen müsste, um im Verein mit den gleichgesinnten Bürgern der Erde eine Weltregierung zu errichten, nicht größer als die, welche er auf Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa zu verwenden hätte. Die Zerrissenheit der politischen Landkarte Europas macht jede kontinentale Einigungsbestrebung zu einem Problem, das nur im Rahmen einer neuen Weltordnung gesehen werden kann. Zweifellos müssen die Grenzen fallen, wo immer sie heute verlaufen mögen. Aber die europäische Frage ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Ihre Lösung kann – dies darf nach gewissenhafter Prüfung aller Voraussetzungen und Zusammenhänge ausgesprochen werden – nur eine Folgeerscheinung und gewissermaßen ein Nebenprodukt der Errichtung einer Weltregierung sein.

 

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