Auszug aus dem Tagebuchheft 1960-1963
(Heydecker-Nachlass, Staatsarchiv Koblenz)

4.10.1960, Dienstag, Genova.

Am "jüngsten Tag" möchte ich auf dem Friedhof Staglieno in Genua der Auferstehung zuschauen.

Am Sonntag Nachmittag haben Charlotte und ich dem Friedhof einen mehrstündigen Besuch abgestattet. Charlotte sagte, es sei der stärkste, verwirrendste und merkwürdigste Eindruck gewesen, den sie jemals empfangen hat, und ich muss lange in meinen Erinnerungen suchen, um etwas annähernd Vergleichbares zu finden. Meine Schwäche für alle Zeugnisse von Verfall und Nichtigkeit hat mich von jeher Friedhöfe anziehend finden lassen. Staglieno ist eine kaum noch der Steigerung fähige Konzentration, eine makabre Wucherung, ein üppiges Dschungel des Todes, des Abgeschiedenseins, ein bizzares Spiegelgebilde aller menschlichen Schrecken und Ängste, ein verzweifelt und stumm schreiendes Monument, ein einziger gescheiterter Versuch, das Sterben hinwegzumanipulieren, der Tatsache des unwiderruflichen Todes und des ewigen Vergessens ein Paar Marmorsteine in den Weg zu legen, zugleich ein erheiternder Alptraum von Kitsch, Rührseligkeit und naivem Glauben. Charlottes Missfallen - um dies vorweg gleich zu registrieren - richtete sich gegen die am Eingang des Friedhofs und an den Toren der Kirche angebrachten mehrsprachigen Tafeln, wonach "Personen in unzüchtiger Kleidung, Frauen in ärmellosen Kleidern etc. etc." das Betreten verboten ist. Sie hätte es gerne gesehen, von einem Geistlichen oder einer Nonne um eine Gabe angegangen worden zu sein, um in fließenden Italienisch entgegnen zu können:

"Schämen Sie sich denn gar nicht, von einer Frau in einem unzüchtigen, ärmellosen Kleid Geld anzunehmen?!"

Verbote dieser Art sind absurd genug, wenn man den Wandel der Mode im Lauf der Jahrhunderte betrachtet, den die Kirche doch immer wieder akzeptieren musste, wollte sie nicht auf die führende, später auf die breitere Gesellschaftsschicht verzichten. Welcher Wandel in dem, was Gott wohlgefällig sein soll, wenn man sich beispielsweise daran erinnert, dass der Münchener Kardinal Faulhaber nach dem Ersten Weltkrieg, als die Röcke kürzer wurden und über die Knöchel emporsteigen begannen, gegen "das französische Dirnenkleid" predigte. Verständlich nun auch, dass die fleischesgewaltige Filmschauspielerin Anita Eckbert vor einigen Jahren ein an geistliche Gewänder gemahnendes Kleid anzog, als sie den Vatikan besichtigte - was ihr angesichts der weltfremden Verbotstafeln ganz zu Unrecht als Geschmacklosigkeit angekreidet worden ist; aber, konnte sie nicht in üblicher Kleidung eintreten, so war der Hieb gut und mit wohldosierten Sarkasmus erdacht und geführt.

Doch zurück zum Friedhof Staglieno, zur steil an Hügeln und Hängen empor kletternden Nekropole, zu diesen wesenden Irrgarten der Verwesung, den stillen und dämmrigen Grotten und Grüften, Terrassen und Gewölben, Mauern und Gängen ohne Ende. Gleich links und rechts des Eingangstores führen jeweils drei nebeneinander liegende Galerien in fernes Dämmerlicht, jede vielleicht zehn Meter hoch und dreißig bis vierzig Meter lang, steinerne Bogengänge, in deren Düsternis schattengleiche, an die Wände geduckte Grabmäler mehr zu erahnen als zu sehen sind, starr und tot, und doch von einen geisterhaften Leben überzuckt durch das Spiel der Lichter und Schatten vieler kleiner Öl-Lämpchen. Die Seitenwände der Gänge, vom Boden bis zur Decke, bestehen aus Grabplatten, eine neben der anderen, und hinter jeder Platte die Namen und Daten und tröstende Worte aufweist, manchmal auch allegorische Reliefs, ruhen Gebeine. Selbst der Boden der Galerien besteht aus Grabesplatten, und wohin der Fuß auch gesetzt wird, tritt er auf Inschriften. Da und dort, wahllos beinahe, stehen steinerne Sarkophage, dann wieder kleine, kaum kniehohe steinerne Kreuze. Doch was sich hier eingangs dem Auge nur in verhüllenden Zwielicht bietet, wird beim weiteren Rundgang überall tausendfach sichtbar. Links und rechts einer breiten Kiesstrasse - sie geht auf eine monumentale Treppe zu, die zum Kuppelbau der Friedhofs-Kirche empor führt -, zu beiden Seiten der Strasse liegen ausgedehnte, ebene Felder, dicht bedeckt mit ungezählten, ziemlich gleichförmigen, meist weißen Grabsteinen, so dicht Grab an Grab, Reihe an Reihe, dass es dem Auge wie ein flimmerndes Stoppelfeld erscheint. Umrundet ist diese Anlage von Kolonnaden, rundbogigen Arkaden, die ihrerseits wieder, wie die Dreiergalerien am Eingang, von Boden bis zur Decke angefüllt sind mit Grabplatten und hundertfachen Monumenten.

Wir stiegen die Stufen zur Kirche hinan, und von jedem Treppenabsatz führten Seitenwege und Seitentreppen ab auf andere Pfade und unerwartete Terrassen, in neue Gänge und Reihen, die sich an die schroff ansteigenden Hügel schmiegten, gesäumt von großen und kleinen Gräbern, Denkmälern und Mausoleen, umschattet von Zypressen, überwuchert von rankenden Pflanzen, geschmückt von welken Blumen. Oben angelangt, gewannen wir einen Überblick über die in der Ebene hingebreiteten Gräberfelder, die in ihrer Ausdehnung und Regelmäßigkeit an einen Soldatenfriedhof erinnerten. Wir sahen nun aber auch, dass die Dächer der Kolonnaden und Arkaden ebenfalls bedeckt sind mit langen, langen Reihen von Gräbern, dass die Mauern, die das aufsteigende Erdreich stützen, aus Grabplatten bestehen, und dass über den Mauern neue Mauern aufgeführt worden sind, ebenfalls aus Aberhunderten von Grabplatten gebildet.

Auf der Höhe der Kirche fanden wir mehrere Terrassen, vollgefüllt mit den skurrilsten Monumenten christlichen Totenkults. Kolossale Figurengruppen, eine ganze trauernde Familie mit Großvater, Verwandten, Kindern, Frauen, Schwestern und Brüdern lebensgroß in Stein gehauen um einen aufgebahrten Offizier geschart, viele Reihen rührender Kindergräber, manche mit kleinen gläsernen Schreinen, in denen Bilder und Spielsachen zu sehen sind. Monumente aller Stile und Geschmacksrichtungen in erdrückendem Durcheinander - erdrückend und zugleich befreiend wegen der Zwanglosigkeit, mit der hier lebendige Vielfalt wuchern konnte. Über uns und rings um die Terrassen gebaut neue Arkaden. Steinerne Engel führen steinerne Frauen durch symbolisch halb geöffneten Tore von Grüften. Brüchige Sarkophage, über denen trauernde Figuren kauern, Jünglinge, die sich über marmorne Sargdeckel geworfen haben, mythologische Damen mit allerlei symbolischer Gestik, forsche Soldatenbüsten, lebensgroßes Standbild eines in forensischer Pose erstarrten Advokaten, und immer wieder vornehme Witwen in der Tracht der Jahrhundertwende, lebensgroß in Stein gehauen, mit rundlichen Figuren, bodenlangen Röcken, fruchtbeladenen Hüten, wobei die Künstler keine Mühe scheuten, auch die über die Schulter gelegten Spitzenshals mit allen ihren tausendfältigen Mustern, Maschen und Quasten naturgetreu in Marmor zu bannen. Staub, dicke, viele Jahrzehnte alte Schichten Staub liegen auf den Figuren und geben ihren Konturen eine unnatürliche Betonung: sie scheinen alle von unten beleuchtet zu sein, weil ihre nach unten gerichteten Flächen frei von Staub sind und in ihrer ursprünglichen hellen Farbe erhalten sind, während alle nach oben weisenden Flächen grau bis schwarz getönt sind. Indessen, unser Rundgang führte uns weiter, und wir entdeckten, dass die Galerien einen zweiten Stock hatten, wo sich der Anblick wiederholte. Wir fanden in den Stunden unseres Umherwanderns immer neue Gänge, Galerien und Mauern, voll von Grabplatten und Monumenten.

Neuere Gänge, die wir entdeckten, gemahnten an endlose Hallen mit Postschließfächern, marmornen Vierecken, die in ihrer Größe vermuten ließen, dass die Toten der Länge nach, mit dem Kopf voran, hineingeschoben werden, die am Fußende zugemauert und die Gedenkplatte angebracht wird. In einem der Gänge lief die Nummernfolge von 1 bis 2220. Friedhofspfleger und Angehörige standen wie Bibliothekare auf kleinen Leitern und versorgten die höher gelegenen Grabfächer: die an eisernen Haltern hängenden Vasen erhielten neue Blumen, ewige Lichter neues Öl. In den Gängen herrschte ein süßlicher Duft von Wachs, Harz und welken Blumen, wodurch immer wieder der Verdacht erwachte, der Verwesungsgeruch der Toten dringe durch feine Ritzen heraus.

2220 Tote in diesem einem schmalen, langen, nur von Oberlichten erhellten Gang! Ich schätze, dass mehr als eine Million Gräber auf diesem Friedhof seien müssen, zumal unsere Entdeckungsreise immer weiter und ferner durch die Hügellandschaft führte und immer wieder von neuem Terrassen emporstiegen, Mauern und Treppen abzweigten, Gänge sich auftaten, alle gefüllt mit Gräbern.

Wir wanderten durch diese hängenden Gärten des Todes bis zu jenem hoch erhobenen Gipfel, der den Friedhof überragt und wo die Mausoleen der Reichen ihre Giebel und Kuppeln und Türme dicht nebeneinander zum Himmel recken, immer wieder der gleiche Versuch, den schon die Pharaonen ohne Aussicht auf dauernden Erfolg unternommen haben. Über endlose Treppen, wobei sich neue Blicke in Seitengewölbe und noch höher gelegene, neu aufgeführte Grabesmauern öffneten, strebten wir mit wahrhaft gemischten Gefühlen dem Ausgang zu. Charlotte malte sich dabei gruselige Geschichten aus - einsam umherirrende Nachtwächter zwischen hundert flackernden Öllichtern in den von schattenhaft bewegten Monumenten erfüllten Galerien -, und es war uns nicht möglich, den steingewordenen Spuck von Größe und Kitsch, Trauer und Belustigung, Ausdehnung und Fülle, Mystik und sachlicher Ordnung innerlich zu bewältigen.

Wie interessant müsste gerade hier eine wörtlich genommene Auferstehung nach Katholischem Ritus sein! Deshalb möchte ich am Jüngsten Tag auf dem Friedhof Staglieno von Genua anwesend sein - als Reporter.

 

Alle Fotografien des Friedhofs Staglieno sind im Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek abgelegt und von dort beziehbar.

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