Hochsensibilität als Gabe
Leben zwischen Begabung und Verletzlichkeit
(Von der
Schwäche zur Stärke)
(
„Sei
doch nicht immer so sensibel“
Kommen Ihnen Sprüche wie dieser vielleicht auch bekannt vor und
erinnert Sie das an Ihre Kindheit? „Sei doch nicht so ein
Angsthase“ oder „Du bist aber eine Mimose“ oder „Sei doch nicht
so empfindlich oder schreckhaft“? Dann gehören Sie vielleicht
auch zu den Menschen, denen das Leben irgendwie mehr zu tun gibt
als die Mehrzahl in ihrer Umgebung.
Endlich aufatmen
Endlich können „hochsensible Menschen“ (kurz: HSM) aufatmen. Das
von der US-amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron erstmals im
Jahr 1996 beschriebene Phänomen der „Hochsensibilität“ und der
„hochsensiblen Person“ (kurz: HSP) wird langsam einer wachsenden
Anzahl von Menschen bewusst.
Viele HSP werden dadurch von einem oft lebenslangen Gefühl "ich
bin anders, ich bin nicht richtig so, wie ich bin" befreit.
Schon alleine diese Tatsache kann einen erlösenden Einfluss auf
einen hochsensiblen Menschen haben. Er oder sie fühlt sich
vielleicht nicht mehr isoliert, ist vielleicht sogar froh, nicht
"verrückt" zu sein und lernt langsam, die persönliche
Sensibilität zu erkennen und zu schätzen.
Im deutschsprachigen Raum haben wir
mit dem Seelsorger und Psychologe Eduard Schweingruber DEN
Pionier der Hochsensiblen im deutschen Raum. Sein Werk wurde
1945 beim Kindler Verlag München verlegt und ist nur noch
antiquarisch erhältlich.
Zur Zeit Schweingrubers – aber auch noch jetzt – war der Begriff
Hochsensibilität so gut wie unbekannt. Menschen, die davon
betroffen waren, hielten sich für „anders“, seelisch „übermäßig
kompliziert“ und waren zumeist ziemlich unglücklich darüber. Was
immer sie auch versuchten, um sich anderen anzupassen und deren
Lebensstil zu kopieren – letztlich misslang es. Auch in
Psychologenkreisen ist die Eigenschaft der Hochsensibilität
sogar heute noch größtenteils unbekannt. HSP werden meist als
weniger glücklich, mental beeinträchtigt und unkreativ gehalten.
Viele Patienten werden deshalb leider falsch behandelt, oft
vielleicht sogar als „therapieresistent“ eingestuft.
Auch der
Schweizer Psychoanalytiker, Arzt und Mystiker Carl Gustav Jung
(1875-1961) hielt sehr viel von den "sensitiven
Introvertierten". Er selbst stammte aus einer Familie von
selbstbewussten Hochempfindlichen. So definierte er den
introvertierten Menschen als "am Subjekt interessiert" zum
Unterschied von extrovertierten als "am Objekt interessiert".
C.G. Jung kam zu dem Schluss, dass introvertierte Menschen am
liebsten in einem selbst-kontrollierten Umfeld lebten, in dem
sie das Maß an sensorischem Input selbst regulieren könnten. Für
Jung lag es auf der Hand, dass sich diese Menschen durch mehr
Rückzug und der Dosierung von Stimuli besser schützen müssten.
Für ihn waren sensible Menschen die "Erzieher und Förderer von
Kultur, deren Leben die andere Möglichkeit lehrt, die des
inneren Lebens, das in unserer Zivilisation so schmerzlich
fehlt.
Begriffsdefinition
Das Wort „sensibel“ kommt ursprünglich aus dem
Lateinischen und bedeutet nichts anderes als „der Empfindung
fähig“ und ist insofern ein neutraler Ausdruck.
Jeder Mensch kommt „der Empfindung fähig“ zur Welt und ist also
naturgemäß ein sensibles Wesen - sofern ausgeschlossen werden
kann, dass eine erhöhte Empfindlichkeit nicht von körperlichen
Ursachen (Gehirn- oder Nervenkrankheit, falsche Ernährung, zu
wenig Schlaf, ständige Überforderung) oder von unverarbeiteten
Erlebnissen (als Trauma, das sich zu einer Neurose ausgebildet
hat) ausgeschlossen werden kann.
Wie stark diese Empfindungsfähigkeit ausgeprägt ist, hängt unter
anderem von der Art ab, wie wir die Welt wahrnehmen und wie die
Wahrnehmungsfilter im Gehirn beschafften sind.
Hochsensibilität
(Hochsensitivität, Hypersensibilität oder
Überempfindlichkeit) ist ein von Elaine N. Aron postuliertes
psychisches Phänomen, bei dem Betroffene mehr wahrnehmen, als
sie verarbeiten können und stärker als der
Populationsdurchschnitt auf Reize reagieren, was leichter zu
„Überstimulation“ (schlicht: Reizüberflutung) führt. Aron
spricht von „Highly Sensitive Persons“, die 15 bis 20 Prozent
der Bevölkerung ausmachen.
Wissenschaftlich gesehen ist Hochsensibilität ein junges Gebiet,
in welchem es noch einiges zu erforschen gibt, bis sich eine
allgemein anerkannte Ansicht heraus kristallisiert haben wird.
Stellenwert in der Gesellschaft
Im deutschen Sprachgebrauch hat sich das Wort "sensibel" von
seiner neutralen Bedeutung zu einem häufig fast negativen
Ausdruck entwickelt. Eine hohe Empfindsamkeit wird oft mit
geringerer Belastbarkeit gleichgesetzt und Bedachtsamkeit und
Stimmungsschwankungen als „nicht normal“ empfunden und im
Allgemeinen mit schwach und nicht leistungsfähig assoziiert.
Die Ellbogengesellschaft von heute hebt Menschen aufs Podest,
die etwas leisten, die extrovertiert sind, die hart im Nehmen
und unerschrocken sind, die die Hektik und den Stress des
modernen Lebens ertragen oder sogar genießen, die nicht genug
Reize und Ablenkungen durch die Außenwelt haben können und die
Jugendlichkeit und Materialismus über alles stellen. Und die
sich im grellen Licht und bei Lärm in überfüllten Räumen
wohlfühlen und bei Überreizung dann ja immer noch ein
Schmerzmittel einwerfen können.
Die Mehrheit, also die Normal- und Nichtsensiblen diktiert, was
„normal“ ist und bestimmt die Rahmenbedingungen. Sensibilität
ist im Alltag "uncool" und doch verehrt unsere Kultur einzelne
Ikonen der Sensibilität wie z.B. Prinzessin Diana, Vincent van
Gogh oder Marilyn Monroe.
In Japan, Schweden und China z.B. werden HSP deutlich mehr
wertgeschätzt, weil dort Feinfühligkeit als Fähigkeit gilt. Auch
in alten Zeiten waren in den meisten Kulturen Hochsensible
Priester oder königliche Berater, während die anderen sich als
Herrscher und Krieger hervortaten. Heute erobern in den
westlichen Kulturen die Normal- und Nichtsensiblen immer mehr an
Terrain.
Doch für das Verdrängen der Hochsensiblen bezahlt jede
Gesellschaft früher oder später einen hohen Preis. Dinge, Trends
und Stimmungen wahrnehmen zu können, die an anderen Menschen
vorübergehen, kann eine enorme Bereicherung sein. Diese
Fähigkeit bildet die Basis für Intuition, Kreativität und
Innovation sowie einfühlsame Kommunikation.
Hochsensible Menschen leisten als Schriftsteller, Philosophen,
Künstler, Forscher, Therapeuten, Lehrer und in vielen weiteren
Bereichen einen bedeutenden Beitrag für unsere Gesellschaft.
In jedem Wirtschaftsbereich, in jeder Organisation, in jeder
Firma einen „Beauftragten für Hochsensible“ zu etablieren, der
als Ansprechpartner für Hochsensible und deren Anliegen dient,
ist zwar noch ein visionärer, aber sinnvoller und wertvoller
Beitrag zum Wohle unserer Allgemeinheit.
Hochsensibilität als Gabe
Hochsensible erleben und fühlen tiefer und intensiver als
Normal- oder Nichtsensible. Die hohe Sensibilität ermöglicht
auch ein tiefgehendes Erleben von Natur und Musik. Feinste
Schwingungen werden erspürt, die sich in einer künstlerischen
und visionären Begabung zeigt.
Sie können sich berühren lassen von den Gefühlen und Stimmungen
anderer Menschen, sind sehr einfühlsam und haben ein gutes
Gespür für subtile Botschaften. So können Hochsensible spüren,
wie es jemanden geht, oft bevor sich diese Person selbst darüber
bewusst ist.
Hochsensible reflektieren insgesamt mehr und sind in der Lage,
feine Unterscheidungen zu treffen. Sie nehmen stärker wahr, was
unter der Oberfläche abläuft, sind meistens intuitiv veranlagt.
Hochsensibilität entwickelt sich häufig erst zum Potenzial, wenn
sie erkannt, akzeptiert und integriert wird. Je mehr
Hochsensible über sich selbst und ihre Hochsensibilität wissen,
desto mehr können sie sich selbst unterstützen auf dem Weg zu
mehr Selbstverständnis und Selbstwert als hochsensibler Mensch.
Dies bedingt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit sich selbst
und keine fortgesetzte Kampfansage an die eigene seelische
Eigenart. Denn oft versuchen Hochsensible, ihre Sensibilität zu
überwinden, zu unterdrücken und versuchen so zu sein wie
Normalsensible oder sie reagieren mit übergroßer Besorgtheit und
Schonung. Beides ist nicht ziel führend und gelingt auch nicht
dauerhaft, sondern führt lediglich zu neuer Überreizung. So
können Hochsensible ihre Lebendigkeit verlieren und zum
ängstlichen Hypochonder werden.
Wenn Hochsensible ihre besondere Gabe nicht anerkennen, wert
schätzen und integrieren so können bei Reizüberflutung auch
andere Eigenschaften, die man ihnen vielleicht nicht zutraut,
zum Vorschein kommen. So können sie z.B. aggressiv, wütend,
distanziert, arrogant, anklagend und keineswegs einfühlsam und
respektlos reagieren.
Der Weg der Hochsensiblen ist der Weg der Achtsamkeit, ein
waches Empfinden für ihren Gesamtzustand und ihre Grundhaltung,
bis sie das innere Gleichgewicht bei allem Tun und Lassen leben
können. Die Herausforderung für alle Hochsensible ist es, dafür
zu sorgen, dass die Umgebung zu den eigenen Bedürfnissen passt.
Hochsensible in der Arbeitswelt
Ein typischer HSM ist sehr gewissenhaft, engagiert, verlässlich,
verantwortungsbewusst, arbeitet konzentriert, ist oft
talentiert und auf die Bedürfnisse von anderen Menschen bedacht.
Ein HSM achtet auf Qualität und Details.
Besonders gut schneidet der HSM bei Aufgaben ab, die
Schnelligkeit, Wachheit und Genauigkeit erfordern. Hochsensible
sind besonders gut darin, schon kleine Unterschiede zu
entdecken.
Ein HSM hat einen guten
Einfluss auf das Arbeitsklima. Hohe ethische Werte zeichnen
einen HSM aus. Hochsensibilität ist darüber hinaus auch Quelle
für Kreativität und Innovation.
Hochsensible müssen einen sinnvollen Beruf ausüben. Sinn und
Stimmigkeit sind die Grundlage für ihren Erfolg.
Da ein HSM allerdings Reize verstärkt empfindet, benötigt er
auch Ruhe und Gelassenheit.
Dies wird von den meisten Normal- und Nichtsensiblen
missverstanden als Ängstlichkeit, Schüchternheit, Schwäche und
Ungeselligkeit. Ein HSM ist in Pausen meist weniger
gesellig, da er Zeit benötigt, Erlebnisse für sich zu
verarbeiten. Ein HSM hat keine Vorliebe für aggressive
Selbstdarstellungen, sondern möchte lieber, dass man die
ehrliche harte Arbeit wertschätzt. Ein HSM gehört zu den ersten,
denen eine ungesunde Stimmung am Arbeitsplatz auffällt.
Wenn Hochsensible Wertschätzung erfahren, können Sie daher
ideale Arbeitnehmer sein und jede Firma braucht ein paar von
ihnen. Trotzdem werden sie allzu oft unter ihrem Wert eingesetzt
oder von weniger fähigen aber durchsetzungskräftigeren
Mitarbeitern verdrängt und sind oft von Burnout oder Mobbing
betroffen. Hochsensible werden bei Beförderungen oft übergangen,
da sie ihre Kompetenz oft nicht zeigen können, wenn sie bei der
Arbeit beobachtet werden oder unter Zeitdruck stehen.
Der Begriff der „Wohlfühlzone“
Die Begabung der Hochsensibilität ist von hohem Wert, macht
aber auch verletzlich und stressempfindlich. Denn die Innenwelt
ist so reichhaltig, dass sie übermäßige Außenreize nur bis zu
einem gewissen Grad ertragen. Deshalb ist es für Hochsensible
umso wichtiger, die eigene Wohlfühlzone erstmal zu erkennen, zu
definieren, wert zu schätzen und darauf zu achten, um
Wir alle sind permanent unzähligen und verschiedenartigsten
Reizen ausgesetzt, die unser Nervensystem fordern und
stimulieren. Äußere Reize sind z.B. Lärm, Geruch, Licht, Kälte,
Luft, Wind, Wärme, Geräusche, Begegnungen, Erlebnisse,
Situationen, Anforderungen und Situationen, in denen
verschiedene Impulse gleichzeitig auftreten. Innere Reize sind
z.B. Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Vorstellungen, Ahnungen,
Schmerzen, Hunger und persönliche Interpretationen von
Situationen.
Jeder Mensch fühlt sich innerhalb einer bestimmten Bandbreite
von Anregung (Stimulation) durch verschiedenste Reize am
wohlsten. Einerseits brauchen wir Reize, um wach, gesund und
aktiv zu bleiben und andererseits kann ein zu großes Maß an
Reizen Überstimulation, Stress oder Überlastung auslösen.
Die Lösung ist das Gleichgewicht
So wie es wichtig ist, ein Gleichgewicht zwischen Anspannung und
Entspannung, Langeweile und Kurzweile oder Unterforderung und
Überforderung und in privaten Beziehungen zwischen Gemeinsamkeit
und Verschiedenheit zu finden, so ist es auch hier wichtig ein
Gleichgewicht zwischen Reiz und Überreizung zu finden.
Der Punkt der Sättigung oder die Schwelle, an der eine
Reizüberflutung eintritt, ist bei jedem Menschen
unterschiedlich. Hochsensible zeichnen sich dadurch aus, dass
sie eine optimale Anregung schon bei einem Maß an Stimulation
erreichen, bei dem sich Normalsensible noch langweilen. Hier
eine Aussage einer HSP:
"Allein die Tatsache, dass ich auf dieser Erde bin und lebe, ist
für mich Stimulation genug. Es braucht oft gar keine
zusätzlichen Einflüsse, um mich zu überreizen..."
Die Aufgabe für alle Hochsensiblen liegt nun darin, „für sich
selbst zu sorgen“, also sich selber wirklich wahrzunehmen und zu
akzeptieren. Und sich immer wieder die Frage stellen „Fühle ich
mich wohl?“, denn das „persönliche„Wohlfühlen“ ist das Kriterium
für das Gleichgewicht.
Es gibt daher auch keine schematische Behandlung, sondern jeder
Hochsensible muß seine eigene Wohlfühlzone finden und diese dann
auch achten und seinen eigenen individuellen Weg der
persönlichen, beruflichen, partnerschaftlichen und
wirtschaftlichen Entwicklung gehen. Ein hochsensibler Coach kann
dabei jedoch eine gute Unterstützung sein.
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