Der Gezeitenmann

 

 

Der Gezeitenmann war der sechste Bruder, und manchmal wurde er auch »Der Mondmann« genannt. Das kam daher, daß der Gezeitenmann bei Vollmond so dick war wie der helle, runde Mond. Und er strahlte über das ganze Gesicht. Wie der Vollmond eben.

Und weil der Gezeitenmann am Meer lebte, stiegen die Wellen bis fast an sein Haus, und er konnte durchs Fenster den Delphinen bei ihren Vollmond-Tänzen zusehen.

Wenn aber der Mond wieder abnahm, wurde der Gezeitenmann dünner und dünner. Und er war gekrümmt wie eine Sichel und mußte sich meistens ins Bett legen, weil er nicht mehr aufrecht stehen konnte.

Dann ging auch die Flut zurück, und das Meer mit seinen Delphinen rauschte immer weiter entfernt, bis es nur noch ein Strich am Horizont war – ein Strich, so dünn wie der Gezeitenmann.

Bei Neumond schließlich war der Gezeitenmann nicht mehr da. Einfach nicht mehr da. Und alle seine Brüder fühlten sich seltsam schwach. Als ob sie nicht ganz ganz wären. Als ob ihnen etwas fehlen würde. Oder jemand.

Und so war es ja auch.

 

Aber das dauerte nicht lange, und bald schon kam der Gezeitenmann wieder zum Vorschein – als schmale, leuchtende Sichel. Und von Tag zu Tag wurde die Sichel größer. Und der Gezeitenmann wurde runder und runder. Bis er wieder strahlte wie der volle, runde Mond und die Delphine freundlich bei seinem Fenster hereinguckten.

 

So war das mit dem sechsten Bruder.

 


 

Der Leihträumer