Feierabend

von Mirco Schultze  
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"Hast du es schließlich doch noch bis hierher geschafft!", dröhnte eine tiefe Stimme durch die weite Dunkelheit der Halle.

Joe, dessen Augen sich noch nicht an die Finsternis gewöhnt hatten, tastete sich mit weit nach vorne gestreckten Armen durch den scheinbar wandlosen Raum.

"Komm raus du Feigling und kämpfe mit mir! Von Angesicht zu Angesicht!", rief Joe wage in das Dunkel.

"Einen Kampf mit mir würdest du nicht überleben!", ertönte wieder die Stimme. "Selbst mein bloßer Anblick könnte dich töten, Mensch!". Der Warnung folgte ein Blubbern, das wie der rasselnde Atem eines Lungenkranken klang.

Dort bewegte sich etwas! Jetzt nahm Joe auch die ersten Umrisse der Kreatur wahr. Je mehr er sich auf das Wesen zu bewegte, desto schlimmer wurde der Gestank. Übelkeit stieg in ihm hoch und Joe presste sich sein Taschentuch vor's Gesicht.

Meter um Meter näherte sich Joe der schemenhaften Gestalt, bis ein Berg aus Leichenteilen seinen Weg versperrte. Dahinter, erhöht auf einem Thron, hockte das Scheusal.

Das Licht war noch immer ungenügend, so dass Joe die Details im Raum kaum erfassen konnte. Doch das, was Joe sah erfüllte ihn so mit Abscheu und Entsetzen, dass er das schützende Taschentuch fallen ließ. Sofort schnürte ihm ein ranziger Aasgeruch die Kehle zu.

Die Kreatur schien allein aus formlosen, lappigen Hautfalten zu bestehen. Das Ding sah aus wie ein unordentlicher Stapel Pfannkuchen!

Joe hob seine Phaserpistole und zielte auf das obere Drittel der Bestie, welches er für den Kopf hielt.

"Hallo Joe!", schmatzte die Kreatur, "Du kannst Dorgon zu mir sagen. Bleibst du zum Essen?"

Eine Welle Schwefelgestank brandete Joe entgegen. Er wollte dem Scheusal gerade seinen ganzen Hass entgegenschleudern, es verhöhnen und dann so lange darauf feuern, bis sich der Phaserturbo überhitzte. Statt dessen erbrach sich Joe auf seine Schuhe. Würgte und spuckte, bis ihm die Tränen über das Gesicht liefen.

"Schnitt! Schnitt! Schnitt! Schnitt! Schnitt!", gellte ein entnervter Regisseur durch den Raum.

Riesige Scheinwerfer wurden eingeschaltet und tauchten die Filmkulisse in gleißendes Licht. Kameraleute, Kabelhelfer, Tontechniker, Maskenbildner und Schauspieler schützten ihre Augen gleichermaßen vor der plötzlichen Helligkeit. Vorsichtig blinzelnd richtete die Filmcrew ihre Aufmerksamkeit auf den Regisseur, der aufgeregt auf die Schauspieler zusteuerte.

"Joe! Was ist denn nun schon wieder mit dir los? Du sollst erst auf Dorgon feuern, bevor du dir die Seele aus dem Leib kotzt! Das haben wir doch jetzt schon dreimal probiert!"

Ohne eine Entschuldigung abzuwarten wandte sich der Regisseur an den anderen Darsteller: "Und du Dorgon, wie oft soll ich es dir denn noch sagen, dass dein Text in der letzten Sequenz ironischer klingen muss! Nimmt mich hier überhaupt noch jemand zur Kenntnis?"

Dorgon und Joe warfen sich einen verschwörerischen Blick zu, obwohl Joe noch sichtlich mit seiner Übelkeit kämpfte.

"Für heute machen wir Schluss!", resignierte der Regisseur und entfernte sich lamentierend aus der Kulisse.

Joe schleppte sich in seine Garderobe, wo er sich wie immer mit einer Flasche Bourbon trösten würde.

Dorgon aber ließ sich durch ein glitschiges Fallrohr in das Kellergeschoss gleiten, um dort ein ausgedehntes Bad in seinem Schwefelbottich zu nehmen.


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Copyright © Mai 2002 by Mirco Schultze
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