Der Tag, an dem Vater heimkehrte

von Andreas Gruber  

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"Kleines, bist du oben?"

Keine Antwort. In dem Einfamilienhaus blieb es still. Kamal Ahmed stieg die Treppe zur Dachbodenkammer hinauf und stieß die Tür auf.

"Hallo, Papa."

Sandra sah nicht auf. Sie saß vor dem gekippten Fenster, über den Schreibtisch gebeugt und kritzelte in ein Heft. Die Vorhänge wiegten im Wind. Eine Reihe Stofftiere saß auf der Fensterbank und blickte mit schwarzen Knopfaugen in den Raum. Kamal legte den Aluminiumkoffer auf das Bett seiner Tochter, lockerte den Krawattenknoten und atmete tief aus. Dann schob er das Sakko zur Seite und zog die Waffe aus dem Hosenbund.

"Machst du Schulaufgaben, Kleines?"

Sandra reagierte nicht. Wie immer, wenn sie malte, war sie in ihre Arbeit versunken. Sie nahm ihre Umgebung kaum wahr, und erst recht nicht ihren Vater. Stumm saßen Hase, Esel und Puh der Bär auf dem Fensterbrett.

Kamal spannte den Hahn. Schwer lag die Automatik in seiner Hand. Beinahe hätte er den Schalldämpfer vergessen zu montieren. Marlene bereitete in der Küche das Mittagessen zu. Sie hätte den Schuss gehört und wäre augenblicklich auf den Dachboden gestürzt. Solche plumpen Fehler würden ihm nicht noch einmal passieren.

Kamal trat von hinten an Sandra heran und legte ihr die Hand auf die Schulter. Die blonden Strähnen des Mädchens leuchteten in der Mittagssonne. Er roch das Haarshampoo, die Hautcreme und den Hauch des Parfums - das Mädchenparfum einer Vierzehnjährigen.

"Ich liebe dich, meine Kleine."

Er drückte ihr den Lauf an den Hinterkopf und drückte ab. Der Rückstoß riss ihm die Hand zur Seite, der aufgeplatzte Schädel des Mädchens schnellte nach vor und krachte auf die Schreibtischplatte. Überall Blut. Die graue Masse klebte am Fenster und lief am Rahmen hinunter.

Jetzt musste er rasch handeln. Er zerrte Sandras Leichnam vom Stuhl und warf sie bäuchlings auf den Boden. Kamal kauerte sich über sie, riss ihr die Bluse und die Shorts vom Leib und entblößte ihren Rücken und den Po. Die Haut schimmerte weiß, der Körper war noch warm. Er durfte keine Zeit verlieren, ansonsten war Sandra für immer verloren.

Kamal ließ den Koffer aufschnappen, griff nach der Ampulle und jagte Sandra die Nadel in die Halsschlagader. Blitzschnell füllte sich die Kammer mit 250ml dunkelroter Flüssigkeit. Mit den Stahlklammern öffnete er Sandras Rücken und legte die Wirbelsäule frei. Er platzierte die Biosonde am dritten Halswirbel, wie er es gelernt hatte. Die Maschine schnurrte wie der Flügelschlag einer Libelle und entnahm eine Probe des Rückenmarks. Binnen Sekunden entschlüsselten sich die komplexen Stränge von Sandras DNA.

"Herr im Himmel, Kamal! Was zum Teufel tust du hier?"

Kamal schreckte hoch.

Marlene stand im Türrahmen, die Küchenschürze umgebunden, den Kochlöffel in der Hand. Sie starrte auf den geöffneten Koffer. Ein halbes Dutzend roter Ampullen und mechanisch klickender und pulsierender Sonden lag aufgereiht in den Fächern. Eine einzige Ampulle war noch leer. Diese hatte er sich bis zum Schluss aufgehoben. Eilig ließ Kamal den Koffer zuschnappen. Seine Hände waren blutbesudelt. Auch der Anzug, die Krawatte und das weiße Hemd waren befleckt. Er stand inmitten einer Lache, die sich rasch ausbreitete und vom Teppich aufgesogen wurde. Das hätte sie nicht sehen dürfen ... noch nicht.

"Schließ die Tür!", befahl er ihr.

Die Tür blieb offen, Marlene taumelte in die Mitte des Zimmers. Als sie den verstümmelten Leichnam ihrer Tochter sah, fiel der Kochlöffel zu Boden. Sie riss die Hände zum Mund und kreischte auf.

Kamal blieb ruhig. Natürlich hatte er diese Reaktion erwartet. Nach vierzehn Jahren Ehe, rottete man nicht einfach die gesamte Familie innerhalb eines einzigen Tages aus.

"Marlene, Schatz. Ich kann dir nicht erklären, was hier geschieht, vielleicht in ein paar Jahren. Jedenfalls ist es gut so, wie es ist. Vertraue mir."

Er verstummte. Die Polizeisirene schrillte im Vorgarten. Autoreifen knirschten im Kies vor dem Haus. Die verdammten Nachbarn hatten wohl das Blut am Fenster entdeckt.

"Marlene, ich liebe dich."

Langsam hob er die Waffe.


***

Alexander Brenner sprang aus dem Wagen. Der Motor lief noch. Er ließ die Tür offen stehen und sprintete über den Kiesweg zur Hausmauer. Im Laufen zog er die Waffe aus dem Schulterholster und klemmte sich das Headset ins Ohr. Augenblicklich hörte er die Stimme des Kobra-Einsatzleiters.

"Team Zwei am Hintereingang postiert. Team Drei am Lattenzaun der Nachbarn postiert. Warten auf Kommando!"

Keuchend lehnte sich Brenner an die Hausmauer. Neben ihm führten zwei Stufen zum Haupteingang, einer massiven Holztür mit Glaseinlegearbeiten und einem Strauß getrockneter Blumen, der unter dem Türspion hing. Auf der Schwelle lag ein Fußabstreifer: Willkommen zu Hause. Dies war bei Gott kein willkommener Ort.

Die Mittagssonne knallte herunter und wurde von der weißen Fassade reflektiert. Brenner stand der Schweiß auf der Stirn. Er blinzelte zum Dienstwagen. Gunther, sein Assistent, saß im Auto. Er redete in das Sprechfunkgerät. Brenner deutete ihm mit einer Handbewegung, den Wagen vor die Garage des Einfamilienhauses zu fahren. Das Tor stand offen, in der Garage sah er die Motorhaube eines blitzblauen Audis. Gunther rutschte auf den Fahrersitz, lenkte den Dienstwagen herum und versperrte den möglichen Fluchtweg. Brenner bedeutete seinem Assistenten, zur Hausmauer zu kommen. Geduckt lief Gunther über den Rasen.

Brenner spannte den Hahn der Waffe und atmete tief durch. Dr. Kamal Ahmed saß in der Falle. Das Haus war umstellt, das achtköpfige Kobra-Team wartete an der Rückseite, jede Fluchmöglichkeit war versperrt.

Brenner rief sich das Dossier in Erinnerung, das er vor wenigen Stunden von der Ärztekammer gefaxt bekommen hatte. Dr. Kamal Ahmed war vor zwanzig Jahren aus dem Iran geflohen. Sein Vater war Ägypter, seine Mutter stammte aus dem Iran. Kamal hatte in Wien sein Medizinstudium beendet, geheiratet, eine Familie gegründet und in dem kleinen Örtchen Griesach seine Praxis eröffnet. Auf dem Foto wirkte er sogar sympathisch: Er hatte dichtes schwarzes Haar, eine hohe Stirn und einen krausen Vollbart. Ein wenig erinnerte er ihn an Salman Rushdie, nur war er jünger und schlanker. Kamal wurde als netter, höflicher Kinderarzt beschrieben, der sich für jeden seiner kleinen Patienten Zeit nahm, nie laut wurde, pünktlich den Steuerausgleich einreichte und stets einen Parkschein für sein Auto löste. Genau das waren die Leute, die Amok liefen und grundlos die gesamte Verwandtschaft abschlachteten. Dabei hätte dies ein ruhiges Wochenende werden können. Doch hatte es damit begonnen, dass heute Morgen am anderen Ende von Griesach ein älteres Ehepaar Schüsse aus dem Nachbarhaus gehört hatte.

Als die Kripo die Haustür aufbrach, wurden vier Leichen entdeckt, drei in der Küche, eine im Schlafzimmer: Marlene Kamals Schwester, deren Mann und ihr Sohn. Die Großmutter lag im Schlafzimmer. Alle hatten eine Kugel im Kopf, einen Einstich in der Halsschlagader und ein mit Schneidewerkzeugen verstümmeltes Rückgrat. Die Tat eines Wahnsinnigen!

Die Nachbarn hatten einen blauen Audi beobachtet, der über die Wiese gerast war und das Grundstück verlassen hatte: Dr. Kamal Ahmeds Auto. Die Spurensicherung hatte ganze Arbeit geleistet. Binnen Stunden stand fest: Die Fingerabdrücke im getrockneten Blut der Leichen waren die des iranischen Doktors. Eine DNA-Analyse der Haare und des Speichels am Tatort konnte man sich sparen. Hier gab es nicht viel aufzuklären, von Indizienbeweisen konnte längst nicht mehr die Rede sein. Die Fahndung ging eine halbe Stunde vor Mittag hinaus.

Brenner und sein Assistent blickten sich an. Beide trugen eine kugelsichere Kevlarweste und hatten die Waffen entsichert. Der Kommissar nickte.

"Wir gehen rein!", sprach er in das Headset.

"Bestätige. Wir kommen durch den Hintereingang", knackte die Stimme des Kobra-Einsatzleiters.

Brenner legte die Hand auf die Türklinke. Versperrt. Er ging einen Schritt zurück, feuerte zweimal auf das Schloss und trat die Tür ein. Gunther gab ihm Feuerschutz. Geduckt liefen sie durch den Flur. Es roch nach Karotten und gekochten Kartoffeln. In der Küche blubberte es in den Töpfen.

Das Kobra-Team war schon im Haus. Die Männer trugen Stiefel, schwarze Anzüge, Visierhelme, Tränengasgranaten und Sturmgewehre. Die roten Laserpunkte huschten über die Wände. Die Männer verständigten sich mit Handzeichen. Hintereinander sicherten sie die Räume. Ein Team von drei Beamten stürmte über die Treppe zum Dachboden.

Mit einem flauen Gefühl im Magen blickte Brenner um den Türrahmen in die Küche. Der Anblick von heute Morgen saß ihm noch in den Knochen, als er die drei verstümmelten Leichen in den blutverschmierten Lachen auf dem Fliesenboden entdeckt hatte. Doch diesmal war in der Küche nichts Außergewöhnliches zu sehen. In den Töpfen brodelte das Mittagessen. Messer, Schneidbretter, Karotten, Tomaten, Zwiebel und panierte Schnitzel lagen auf der Küchenablage.

Brenner durchmaß die Küche. Er stoppte vor einer braunen Ziehharmonikatür aus Linoleum. Befand sich der Abstellraum dahinter? Eine Speisekammer? Er legte die Hand auf den Griff, in der anderen hielt er die Waffe im Anschlag. Blitzschnell klappte er die Tür auf. Ein Mensch stürzte ihm entgegen. Brenner machte einen Satz zurück. Mit beiden Händen umklammerte er die Pistole und zielte auf den Körper. Es war der Körper eines Buben, kaum sechs Jahre alt. Er krachte vor ihm auf den Boden, mit einem Einschussloch im Hinterkopf. Brenner würgte. Gott! Der Rücken des Jungen war entlang der Wirbelsäule mit Werkzeugen freigelegt, als wollte jemand die einzelnen Wirbel herausoperieren. Nicht dieser Anblick! Nicht schon wieder! Diesmal war es ein Kind. Brenner hob den Blick zur Decke. Magensäure stieg ihm die Speiseröhre hoch. Wer war in der Lage, ein solches Verbrechen zu begehen? Dr. Kamal Ahmed, der Bastard! Noch dazu an seinem eigenen Sohn!

Brenner schluckte. "An das Kobra-Team", murmelte er in das Headset. "Wir haben es mit einem verdammten Massenmörder zu tun. Mit Sicherheit ist er noch im Haus."

Brenner blickte noch einmal auf den Jungen. Die Wunden glänzten feucht. Sie waren erst wenige Minuten alt.


***
 

Kamal zielte mit dem Lauf auf seine Frau.

"Wenn alles klappt", flüsterte er, "sehen wir uns wieder, wenn das hier vorüber ist."

"Nein!" Sie riss die Augen auf.

Kamal drückte ab. Der Waffe entfuhr ein dumpfes Ploppen. Marlenes Kopf schnellte nach hinten. Ihr Körper stürzte zu Boden. Kamal beugte sich über sie, rammte ihr die Nadel in die Halsschlagader und wartete, bis sich die Ampulle füllte. Der Schwall versiegte, das Herz erstarb. Kamal verstaute das Gefäß im Aluminiumkoffer. Danach montierte er die Fräse und drei Stahlklammern am Rücken der Frau. Seine Hände waren glitschig, eine Stahlklammer schnellte ihm aus der Hand und polterte über den Boden.

"Scheiße!"

Hastig montierte er die Klammern ein weiteres Mal. Fieberhaft arbeitete er und platzierte die Biosonde am dritten Halswirbel. Die Decodierung der DNA begann. Kamal lehnte sich zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hinterließ dunkle Striche, die wie Striemen wirkten. Da hörte er zwei Schüsse aus dem unteren Stockwerk. Er hob den Kopf und lauschte. Die Eingangstür wurde aufgebrochen. Stiefel trampelten durch das Haus. Er griff nach der Waffe.

Mit einem Mal begann die Luft neben ihm zu flimmern und grünfarben zu schillern. Es knisterte und knackte. Eine hochgewachsene Gestalt materialisierte sich inmitten des Zimmers. Kamal blickte nicht hin. Statt dessen kniff er die Augen zusammen und starrte konzentriert durch die geöffnete Tür in das Treppenhaus. Jeden Moment würden die Polizisten auf den Dachboden stürmen. Er musste sich beeilen.

"Kamal! Du steckst ganz schön in der Scheiße!", fuhr ihn die Gestalt an.

"Schnauze!" Kamal blickte über die Schulter zu der Gestalt. Danach blinzelte er zu der Biosonde. Die Entschlüsselung der DNA würde nur noch wenige Sekunden dauern.

Das Hologramm bewegte sich auf Kamal zu. "Denkbar ungünstig, hier zu hocken und auf deine Besucher zu warten."

"Sari, du störst!", fuhr Kamal das Hologramm an.

"Oh, verzeih, ich wollte dich nur aufmerksam machen, dass ..."

"Sari! Wenn du keine konkreten Vorschläge hast, verschwinde von hier! Ich muss mich konzentrieren."

"Bin schon weg." Das Hologramm verzog das Gesicht. Gleichgültig zuckte es mit den Schultern. "Viel Spaß mit deinen Freunden. Drei kommen übrigens gerade die Treppe hoch, sie sind bewaffnet. Wenn du es schaffst, sehen wir uns in knapp vierzig Minuten. Viel Glück. Adieu!"

Das Hologramm löste sich auf. Im gleichen Moment piepte die Biosonde. Kamal riss das Gerät von Marlenes Wirbelsäule und verstaute es im Aluminiumkoffer. Das Set war vollständig. Jeweils sieben Ampullen mit roter und sieben Sonden mit weißer Flüssigkeit klemmten in den Fächern. Die Gefäße waren mit den Namensetiketten der Ermordeten beklebt. Ansonsten würde Sari die Samples vertauschen. Zerstreut genug war er manchmal. Nicht auszudenken, was dabei herauskommen würde.

Kamal ließ den Koffer zuschnappen. Es war an der Zeit von hier zu verschwinden!

"Waffe fallen lassen! Hände über den Kopf! Gesicht zur Wand!"

Drei Beamte in schwarzen Kampfanzügen stürzten mit erhobenen Sturmgewehren in das Zimmer. Einer stolperte beinahe über Marlenes Leiche.

Demjenigen, der gesprochen hatte, schoss Kamal als erstes in den Kopf. Das Projektil durchschlug den Helm wie Butter. Die beiden anderen verwundete er am Oberarm und an den Knien. Sie ließen die Gewehre fallen und sackten zu Boden.

"Verstärkung!", keuchte einer in das Headset. "Die Zielperson ist oben. Wir sind angeschossen!"

Kamal hatte keine Patrone mehr im Magazin. Er ließ die Waffe fallen, umklammerte den Aluminiumkoffer und stürzte zum Fenster. Er schwang den Koffer und zerschmetterte das Glas mitsamt dem Fensterrahmen.

"Sie können nicht fliehen", fuhr ihn der Kobrabeamte an. Er presste sich die flache Hand auf den Oberarm. Die Kugel hatte den Arm exakt an der Stelle durchschlagen, wo die Kevlarweste endete.

Kamal wandte sich um. Er musterte den Beamten. "Sie verstehen nicht. Ich muss fliehen. Ansonsten werde ich genauso sterben, wie Sie und alle anderen."

Er stieg auf das Fensterbrett, Hase, Esel und Puh der Bär purzelten zur Seite. Kamal presste sich den Koffer vor die Brust und sprang.


***
 

Kamals Sakko flatterte hoch, der Wind fuhr ihm durchs Haar. Im nächsten Augenblick landete er am Wellblechdach der Garage. Der Aufprall drückte ihm die Luft aus den Lungen. Wie eine Katze rollte er ab, schlitterte über die Regenrinne und stürzte über den Rand des Garagendaches. Er krachte einen Meter vor der Motorhaube seines blauen Audis zu Boden. Eine Staubwolke wirbelte um ihn herum auf. Kamal hustete und spuckte einen Kieselstein aus. Ächzend rollte er sich herum. Er rappelte sich auf und hob den Koffer hoch. Hatten die Ampullen den Aufprall überstanden? Hoffentlich hatte Sari das Kofferinnere mit einer massiven Dämmschicht gesichert und nicht bloß mit billigem Material gepolstert.

Kamal humpelte in die Garage, warf den Koffer auf den Beifahrersitz und klemmte sich hinter das Steuer. Er ließ den Motor aufheulen. Erst jetzt bemerkte er das Dienstfahrzeug der Kripo, das die Garagenausfahrt versperrte.

"Scheiße!" Kamal schlug mit der Faust auf das Lenkrad.

Neben ihm materialisierte sich Sari. Das Hologramm verschränkte die Arme vor der Brust. Lässig räkelte es sich im Beifahrersitz. "Kaum lässt man dich eine Minute alleine, schlitterst du vom Regen in die Traufe. Deine Situation hat sich wahrlich nicht verbessert ..."

"Schnauze!"

"Du wiederholst dich." Sari verzog beleidigt das Gesicht.

Kamal legte den Rückwärtsgang ein, ließ den Motor aufheulen und nahm den Fuß leicht von der Kupplung. Die Räder radierten im Stand über den Beton.

Entsetzt blickte Sari über die Schulter zur Heckscheibe. "Du willst doch nicht etwa?"

"Hast du einen besseren Vorschlag?", fuhr Kamal das Hologramm an.

Sari schluckte. "Also ehrlich, ich meine nur ..."

Kamal ließ die Kupplung schnalzen. Der Wagen preschte zurück und krachte mit dem Kofferraum durch die Holzwand der Garage. Holz- und Glassplitter regneten in das Wageninnere. Sari kreischte auf. Kamal steuerte den Wagen im Rückwärtsgang vollends durch die Garage, über die Wiese hinter das Haus und durch den Lattenzaun der Nachbarn. Schließlich landete er auf dem krumigen Erdweg, der hinter der Wohnsiedlung an den Einfamilienhäusern vorbei führte.

Kamal stieg auf die Bremse. Der Wagen schlitterte herum. Eine Staubwolke nebelte das Auto ein. Er gab Gas und jagte den Audi die Straße entlang. Im Rückspiegel sah er, wie die Kobrabeamten über die Wiese liefen, die Gewehre anlegten und zielten. Doch niemand von ihnen schoss.

Sari ließ die Schultern sinken. "Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt." Das Hologramm bewegte den Kopf von links nach rechts, sodass die virtuellen Wirbel knackten. "Ich glaube, ich habe ein Schleudertrauma."

Kamal schüttelte den Kopf. "Du bist ein richtiger Jammerlappen."

"So wie du Auto fährst, ist es ein Wunder, wenn ich überhaupt lebend ankomme." Plötzlich verfinsterte sich Saris Miene. "Apropos ankommen! Wie lange wirst du zum Treffpunkt brauchen?"

Kamal trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Er jagte den Audi in eine starke Rechtskurve. "Weshalb fragst du?"

"Weil du in die falsche Richtung fährst! Und dir bleiben bloß noch dreißig Minuten!"

"Ist das wieder einer deiner Scherze?"

"Ich mache keine Scherze." Sari deutete durch die Windschutzscheibe auf die Straße. "Das ist definitiv die falsche Richtung!"

Kamal trat auf die Bremse, der Wagen schleuderte im Halbkreis über den Weg.

"Oh, oh, ooooh!" Sari hielt sich am Sicherheitsbügel fest.

Erdkrumen spritzen davon, Steine knallten gegen die Bodenplatte des Wagens.

"Was heißt hier falsche Richtung?", brüllte Kamal.

"Heute Morgen wurden die Koordinaten geändert", muckste Sari kleinlaut. "Hast du deine Combox nicht abgerufen?"

"Nein! Heute Morgen nicht", fauchte Kamal. "Ich war beschäftigt!"

"Okay, okay, okay", murmelte Sari. Beschwichtigend hob er die Hände. "Einen Moment noch." Er fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und zauberte eine dreidimensionale Landkarte auf die Windschutzscheibe.

"Wir sind hier." Er deutete auf einen blinkenden roten Punkt. "Und hier ist der Treffpunkt. Du hast exakt neunundzwanzig Minuten Zeit."

"Ihr habt den Treffpunkt verlegt! Seid ihr wahnsinnig?"

"Der alte Treffpunkt war nicht sicher."

"Scheiße! Das sind an die zwanzig Kilometer bis dorthin. Das schaffe ich nie! Die haben mittlerweile sicher Polizeisperren errichtet."

"Dann gibt Gas mein Junge, der Transporter wartet nicht ewig auf dich." Sari zuckte mit den Achseln.


***
 

Fortsetzung folgt ... 

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