Fachhochschule Schule Spurensuche Private Eye
       
Startseite    

Das Ohr als Segel

   
       

Unvollständiges über das Hören während eines Segeltörns von Igumentisa nach Nauplia

Igumenitsa 

Gegen 16 Uhr laufen wir aus. Hinter uns liegt Igumenitsa, die Hitze, der Dunst der Stadt, das Gehupe, das Surren, Brummen, Rattern, das Aufheulen alter und neuer Motoren, überall Autos und Motorräder, Quietschen und Knarren. Laute Stimmen und schrille Pfiffe, ein Polizist regelt mühsam den Verkehr. Hinter uns verebbt der Lärm, Zivilisationsabfall, der oft das Leben in den Städten unerträglich macht. Sie kennen doch die provozierte Schlaflosigkeit in Großstädten, diesen geheimen Aufschlag für schlecht ausgewählte, billige Hotelzimmer - Das Dahindösen im Getöse. Das Kreiseln der Gedanken wird immer wieder unterbrochen vom Krawall zwei-, drei- oder vierrädriger Fahrzeuge, die den Kopfpolster zu queren scheinen. Überall ist Unruhe, der Geräuschpegel ist hoch. Resigniert erwartet man den Morgen, genervt bleibt man liegen, angespannt, trunken im Halbschlaf, gefasst zum Aufspringen zu jeder Tat bereit. "Zu den Waffen!", "Alarm"(1) lautet der Befehl: Spring aus dem Bett, fasse nach dem nächsten Ding, wirf es nach unten und stelle so endlich den Lärm(2) ab! Noch sind keine Hörschäden vorhanden! Auch in der  zweiten Nacht nicht! Impulsschall ist weniger schädlich als Dauerschall, hat die Wissenschaft festgestellt. Presslufthämmer, die immer wieder ansetzen, bemerkt Joachim-Ernst Berendt, verursachen weniger Beschädigungen des Ohrs als ständige laute Musik. Einen ruhigen, tiefen Schlaf lassen beide nicht zu. Draußen rollt unentwegt die Blechlawine weiter. "Sobald die Tonhöhe 80 Dezibel überschreitet, steigt der Blutdruck. Magen und Darm arbeiten langsamer, die Pupillen werden größer, die Haut wird blasser, egal, ob das Geräusch als störend oder angenehm empfunden oder nicht bewusst wahrgenommen wird (...) Unbewusst reagieren wir auf den Lärm immer noch wie Steinzeitmenschen. Damals bedeutete ein lautes Geräusch fast immer Gefahr."(3) Lärm macht aggressiv, das bemerkt jeder in lauten Hotelzimmern. Erst die Ruhe weiter Landschaften oder die gekrümmte Oberfläche des Meeres lässt entstandene Aggressionen verstummen. Wir verlassen den Hafen, wohltuend nehme ich das sanfte Tuckern des Dieselmotors wahr, der die 10m-Jacht aufs Ionische Meer hinausschraubt. Sanfter Wind kühlt Körper und Gemüt und kräuselt die glatte Oberfläche der See. Endlich frischt der Nordwind auf, geschwind werden die Segel gesetzt, der Motor abgestellt. Wir gleiten auf einem Vorwindkurs und spüren kaum die Geschwindigkeit, 8 Knoten zeigt das Sumlog(4). Mit geblähten Segeln reiten wir auf allmählich zunehmenden Wellen gegen Süden. Die Ruhe ist plötzlich laut. 

Paxi 

Vom Meer aus erkennen wir die Bucht von Lakka nicht sofort, wir erahnen sie, erschließen sie aus den Beobachtungen von Landformationen. Hier nützt nur die Sicherheit des Blicks. Lautlos sinkt die Sonne wie ein volles Weinfass in den Westen. Möwengekreisch dringt durch bewegte Luft zu uns. Sonst hören wir nichts, keine Geräusche lenken uns beim Ankermanöver ab. Mit dumpfem metallischem Klirren rasselt der Anker dem Meeresgrund entgegen, lautlos gräbt er sich in den Sand, die Kette scheppert über die Ankerhalterung. Dann liegen wir mitten in der Bucht. Die Jacht schwoit vor dem Anker.(5) Ein leichtes Plätschern dringt vom Ufer zu uns, an den Schiffsrumpf schlagen Wellen. Am Abend verzögert Diskotheken-Krach den Schlaf. Gepolter, Geplärre, synkopische Rhythmen, Marschtakt und Trommeln, Hip-Hop, Techno, Synthesizer und Neonlichter, bunte Lampions. Die jungen Leute suchen das gelobte Land. Musik ist Ausdruck sozialer Verhältnisse, Musik schafft Identität. Werfen wir einen Blick zurück! Der Beginn von Disco liegt in den Anfängen der 70er. "Body-music" hieß damals die Botschaft, wichtig war dabei das körperliche Involviertsein in die Rockmusik. "Shake your body!" Disco entstand am Hintergrund von Ska und Reggae(6). Die Underground-Disco-Szene, diese harten Rock-Tanzparties, veranstaltet in New Yorker Fabrikshallen von Homosexuellen und Farbigen, entwickelten sich bald diametral zu ihrer ursprünglichen Intention. Sie wurde zum Mainstream, zur Disco-Kultur. "Formale Betriebsamkeit, die keine Spuren hinterlässt, Plastikwelt der Illusion", resümieren Michael Naumann und Boris Penth. "Den bevorzugten Kunstgriff der Diskothekenwelt stellt die Stilisierung und Fetischierung der Oberfläche dar. Das faszinierend Glitzernde, das Vornehme, das zwanghaft Sichere, das Boutiquenhafte ist Abziehbild der Waren."(7) Samstag nacht verschwimmen alle sozialen Schranken. Verkäufer, Sekretärinnen etc. entheben sich der materiellen Realität, treten auf die Bühne narzisstischer Selbststilisierung. Wesentlich ist hier nur noch die Zirkulation der Ware, die Teilnehmer verwenden auch das meiste Geld zur eigenen Ausstaffierung. Disco liefert keine Maßstäbe mehr für die wirkliche Welt, sie hat sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Elend versöhnt.(8) Verdünnter Rock'n'Roll, banale Texte, aber aufwendige Arrangements vermitteln Täuschungen und ermöglichen eine sinnentleerte Apotheose des Selbst. Als Sozialprotest entwickelte sich auf gleichem Hintergrund Punk, gleichsam als Spiegelbild fortschreitender Jugendarbeitslosigkeit und Zunahme staatlicher Repression. Punk ist das kulturelle Abbild der Industrievorstädte von Liverpool, Manchester, Glasgow, London. Schock als Therapie, aber ohne Erlösung!!! Der brave Bürger soll wachgerüttelt, provoziert und aus seiner Selbstgefälligkeit gerissen werden. Netzstrümpfe, Straps, Nieten, Sicherheitsnadeln im Ohr, als Zeichen des Selbsthasses, Gemüsefarben im Haar, KZ-Frisuren, Hakenkreuze als Symbole "wahnsinnsgeiler Vernichtung", zerrissene Hemden und Hosen weisen auf die aussichtslose materielle Lage der Jugendlichen hin. Melancholie, Langeweile, Monotonie sind die Insignien der zunehmenden Perspektivenlosigkeit. Die Musik hört sich dementsprechend an: Rasendes Schlagzeug, Verzerrungen, schrillster Gitarrensound, der im Ohr schmerzt. Sex Pistols, Clash, Ramones und wie sie alle heißen. - Der Protest wird nach außen getragen.(9) 1976 gründet der Sex Shop-Besitzer Malcolm McLaren die Sex Pistols und verleiht so der No-Future-Generation ein Sprachrohr. Ihre Songs sind primitiv, aggressiv und durchaus nihilistisch, sie propagieren: "Anarchy In The U.K." und erteilen der herrschenden Ordnung eine deutliche Absage. Schlägereien, Grobheiten, Brutalität stehen an der Tagesordnung. Disco und Punk erfahren in der Mitte der 80er eine technische Verbesserung. Neue Varianten entstehen: u.a. Dancefloor, Acid-house und Rave, aber auch Härteres, wie Trash metal. Die Tanzparties bleiben jedoch, aber zu bemerken ist, dass sich die Revolte nach innen kehrt und sich der unmittelbaren sozialen Realität enthebt. Auf dem Mischpult werden lange Tanznummern abgemischt, Wohlklang verbindet sich mit psychedelischen Ausritten, endlosen Tänzen, die fast rituell bis zum Zusammenbruch ausgeführt werden. Immer härtere Drogen dienen als One-Way-Ticket für ein kurzlebiges künstliches Paradies. Die gesellschaftliche Wirklichkeit bleibt zwar das stilbildende Muster, wird aber immer mehr zum Motor des Selbsthasses. Der Rückzug geht deutlich und radikal vonstatten. Der Absturz der Generation X (10), wie die Sozialverlierer der Postmoderne genannt werden, erscheint staatlich akzeptiert und vorprogrammiert. Er ist Ausdruck eines krisengeschüttelten Spätkapitalismus. Ende der 80er taucht Nirvana, eine neue Gruppe auf. Ihr Leadsänger ist der neue Kronprinz der Generation X, Kurt Cobain, der die Katerstimmung in Amerika deutlich macht. Das Zentrum ist diesmal Seattle. Zähneknirschen und ein leidenschaftliches Knurren lassen seine Stimme zum Charakteristikum des Grunge(11), einer Ablöse und gleichzeitigen Weiterentwicklung des Punk Rock, werden. "Come as you are!" betitelt sich die neue Hymne. Niemand braucht sich zu verstellen! Kümmere dich um nichts! Nevermind!(12) Nowhere, now here! Nirgendwo ist überall, hier, einfach um die Ecke, dort liegt der neue Fluchtpunkt. Der suggerierte Aufbruch findet nicht mehr statt, das scheinen mittlerweile viele bemerkt zu haben. Punk Rock ist "eine Art elektronische Volksmusik"(13), eine Ausdrucksform eines repressiven sexuellen und kulturellen Klimas. Die Wartezeit der 80er hätte nichts gebracht, stellen die Sozialabsteiger fest, kein Durchbruch sei in Sicht. Alles sei schlimmer geworden, lautet lapidar die Diagnose in Amerika nach der Reagan und Bush Ara. Der musikalische Sozialprotest der 80er wurde noch von der Baby-Boomer-Generation getragen(14). Dieser Protest erstarrte zur reinen Pose, Kurt Cobain schreit nun seinen Zorn hinaus, seine Botschaft wird auch in Europa als ehrlich empfunden und aufgenommen. Dabei gibt er keine Antworten, stellt nicht einmal Fragen. Sein Wehklagen verstummt in einer negativen Ekstase.(15) Die Gitarren röhren und kreischen. Geräuschkulisse einer Maschinenfabrik, unerträgliches Aneinanderreiben von Metall, Chaos, körperlicher Schmerz und plötzlich ins Ohr gehende Riffs, rhythmische Passagen, Akkorde mit exotischen Anklängen. Texte, die jeder versteht. Apokalypse und Untergang verpackt in lauter Musik, die berauscht und betört. Nur die Lautstärke von Musik wird in Osterreich zum medialen Sommerthema 1994. Die entstandene Diskussion verleitet zum Schmunzeln. Der Geräuschpegel sei viel zu hoch in Diskotheken. Er sei vergleichbar einem Presslufthammer in Aktion, der aus einem Meter Entfernung wahrgenommen wird, und liege etwa zwischen 105 und 120 Dezibel. Die Schmerzgrenze, bei der Hörempfindungen in Schmerz umschlagen, liegt bei 110 Dezibel. Die Gehörschäden bei Jugendlichen hätten in den letzten Jahren auch rapid zugenommen, hört man von offizieller Seite. Der Gesetzgeber müsse endlich etwas unternehmen, war zu vernehmen. Im Juli 1994 beschließt ein österreichisches Gericht, dass der Lärmpegel in Diskotheken 85 Dezibel (16) nicht übersteigen dürfe. Die Diskothekenbesitzer sprechen von einem unzeitgemäßen, aber ruinösen Urteil. Bei Pop-Konzerten wurden diesbezügliche Strafen immer schon im Voraus eingeplant. Um sechs Uhr früh wird es dann still, und die letzten Besucher verlassen den Disco-Tempel, gerade als die Sonne kahlköpfig ins Aquarellierte rutscht. Wir bereiten uns auf das Auslaufen vor.

Ithaka 

Fallwinde beherrschen die Adlerflügelbucht. Die starken Windböen stoßen vom kahlen Bergrücken, rütteln das Schiff, jagen heulend Gischt in die Luft. Wir sind durchnässt, frösteln in der Hitze. Die Krängung(17) des Bootes ist beachtlich. Es saust und dröhnt, als flögen alle Streitwagen der griechischen Antike über unsere Köpfe hinweg. Odysseus, der Listenreiche aus Ithaka, das sich felsig und winkelig vor uns ausbreitet, erscheint allgegenwärtig. List, Verborgenheit und Täuschung werden hier zum Charaktermerkmal einer Landschaft, die sich nur langsam einem Betrachter preisgibt. Vom Meer aus ist der Hafen nicht zu erkennen. Mit der Genauigkeit des Blicks und künstlicher Ohren gelingt es, das Boot ohne Schaden an die Pier anzulegen. Mit einem Echolot wird der Meeresgrund abgetastet, die Wassertiefe bestimmt, Unterwasserhindernisse ausgemacht. Ein Schallsender strahlt für das menschliche Ohr nicht mehr wahrnehmbare Schallimpulse kegelförmig nach unten gerichtet aus, die dann reflektiert mit dem Echoempfänger wieder aufgenommen werden. In elektrische Spannung umgewandelt, erscheinen die Impulse auf dem Anzeigegerät als Lichtblitze auf einer Leuchtdiode. Damit kann man nicht nur die Wassertiefe bestimmen. Mit dieser Hörprothese kann man auch die unterschiedliche Beschaffenheit des Meeresgrundes erkennen. Draußen bellt der Nordwind. Er schlägt Wanten und Seile aneinander, singt im Drahttauwerk. Die Wantenspanner müssen nachgezogen werden. An Odysseus führt kein Weg vorbei. Wir reden über den Helden und seine Frauen. Nachdem die Zauberin genug von ihm hatte, ließ sie ihn gehen. Danach trifft er auf Sirenen. Anziehende Gegensätze verpackt in epischer Direktheit: Ihre Oberkörper von berückender göttlicher Schönheit, unten das Tierhaft-Animalische, das Todbringende, nicht sichtbar, denn die Krallen sind fast völlig im Meer verborgen. Verführung und Tod liegen in der Luft. Kirke warnt den Wortgewandten und Listenreichen vor diesen Wesen. Er sucht jedoch das Abenteuer, lässt sich anketten, der Mannschaft wird mit Bienenwachs die Ohren verstopft, um das Überleben zu garantieren. Die Sirenen singen und versprechen ihm Wissen über Zukünftiges. Der Hörende wird sofort hörig. Liebend gern würde er an Land gehen zu Parthenope und Ligeia, oder ist da noch eine Dritte, gar eine Vierte? Der Gesang aktiviert seine Hormone, versetzt seinen Unterleib in Wallung. Das Risiko jedoch ist kalkuliert. Dennoch: Ihr Gesang ist sinnlich. Oder ihr Anblick? Die Sirenen bleiben unerreicht und unerreichbar. Seine List rettet ihn. Nichts geschieht! Eigentlich ist es nur die Vernunft, die schließlich auch die schrecklichen Schönheiten zum Verstummen zwingt. Ungehört begehen sie Selbstmord - aus Ärger! Der Verführte jedoch vergeht. Seine Ruderer arbeiten planmäßig mit Gehörschutz weiter, wie Jungsoldaten beim Übungsschießen, wie Arbeiter in einer Kesselschmiede, wie Einweiser von Düsenflugzeugen. Zielorientiert, produktorientiert, viel bemerken die nicht. Der Anblick allein genügte demnach nicht, wahrscheinlich sind die gefährlichen Damen zu weit entfernt gewesen. Nur er vernimmt das Unerhörte, das Unmittelbare, das Unfassbare. Das Absolute kann, so könnte man meinen, nur mit eingeschränkter Bewegungsfreiheit ertragen werden, der Preis dafür sind Fesseln. Hier öffnet das Ohr neuen Raum für Spekulationen: Trennt das Ohr tatsächlich das Absolute vom Konkreten, die Kunst von der Wirklichkeit, die Emotio von der Ratio? Indizierte das Ohr wirklich jene wichtige Zäsur der Geschichte, die Ablöse des Matriarchats vom Patriarchat? Treffen sich vielleicht hier Antike und Gegenwart? Und was hat sich verändert? Männer hören Frauen kaum zu, haben amerikanische Wissenschaftler festgestellt. Männer unterbrechen Frauen vierundzwanzigmal öfter als Frauen Männer.(18) Hat der Gefesselte überhaupt zugehört? Diese Frage können wir nicht beantworten, in der Odyssee gibt es keine Hinweise. Nur eines ist sicher, er wollte zu den Sirenen wie sonst keiner, das bemerkte wenigstens Homer. Odysseus ist das eigentliche Sinnbild für den postmodernen Menschen der ersten Welt, der nichts mehr auslassen will und kann, der beherrscht ist vom radikalen Konsum, vom ultimativen Kick. Und so einer kann nicht mehr zur Ruhe kommen?

Zákinthos 

Der italienische Name Zante liegt im Mund. Die Schönheit der Insel wurde schon von Theokrit gefeiert, Plinius und Strabon beschreiben den Waldreichtum, die weiten Felder, während Herodot nur die Pechbrunnen erwähnt. Einen Waldreichtum gibt es heute kaum noch, dafür Weingärten und Ölbäume und einen Hafen mit Toiletten und Duschen. Der Luxus einer warmen Dusche erfrischt, der auf die Haut prasselnde Wasserstrahl spült die Salzkruste fort. Im Frühjahr und Herbst ist die Insel von Wildblumen übersät. "Zante, fior di Levante." Gereinigt und erholt schwärmen wir in die Stadt aus, gierig nach Musik. Der reine Klang griechischer Musik macht sich in unseren Ohren breit, im Gegensatz zum Kitsch, der oft in den Plattenläden Athens angeboten wird. Aus Unkenntnis schlagen die Firmen Kapital, alles wird vermarktet, und was auf dem Plattenteller präsentiert wird, ist eigentliche eine slawisch-türkische Mischung mit Busuki. Dieses birnenförmige Instrument hat erst in den 60ern seinen Karrierezug angetreten. Der Alexis-Sorbas-Effekt wird hier sichtbar. Heute übertönen dröhnende Lautsprecher die eigentliche alte griechische Musik, die monophon ist und auf einfachen Tonleitern aufbaut. Wie bei allen Völkern des Mittleren Ostens wird sie von der pentatonischen Tonleiter bestimmt. Der Musiker verwendet nicht die C-D-E-Reihenfolge, sondern greift auf C-Cis-E zurück. Auf den Ionischen Inseln überwiegt der italienische Einfluss, die Betonung liegt hier auf Gitarren, Violinen. Auf der Suche nach Ursprünglichkeit tappen wir, wie könnte es anders sein, in eine Touristenfalle. Das empfohlene Restaurant mit "Originalmusik" entpuppt sich als Flop. Das Essen ist mittelmäßig, unverhältnismäßig teuer und die gebotene Live-Musik elektrisch verstärkt. Die Atmosphäre erinnert eher an die in Österreich so beliebte Fernsehsendung "Musikantenstadl". Am Nachhauseweg lernen wir das andere Zante kennen. Auf Holzbänken abseits der Straße treffen sich die Einheimischen, singen und tanzen zu den cantos. Eine gusseiserne Laterne bildet das Zentrum, die Sänger, Gitarristen und ein Geiger stehen im Kreis, die Melodien der Levanzen kriechen ins Ohr, Instrumentalpassagen werden von Wechselgesängen abgelöst, während die Sänger Stanzen singend um die Tische ziehen. Die begeisterten Zuhörer singen mit, alle scheinen die Texte zu kennen. Das Zuhören und Mitsingen fügt die Gruppe zusammen, schafft Identität. Die Gruppe schwingt als Ganzes. Irgendwie erinnern mich die Melodien und die Art der enthusiastischen Interpretation an die Römerin Gabriella Ferri. In den 7Oern war diese resolute Italienerin in so mancher Wohngemeinschaft zu hören. Damals war ihre Musik, ihre rauchige Stimme das Identifikationsmedium, ein Ausdruck unseres Lebensgefühls

Olympia 

Um Segel zu setzen, muss das Boot in den Wind gestellt werden. Das rasch aufgezogene Großsegel schlägt im Wind. Mit einem sanften Blop verfängt sich der Wind und bläht das Segel. Das Boot nimmt gemächlich Fahrt auf. Die Windenergie treibt es voran. Mit der Großschot wird der optimale Anstellwinkel bestimmt, indem das Segel mit einem vierfachen Flaschenzug dichtgeholt wird. Die Prozedur wiederholt sich beim Setzen der Genua. Die Geschwindigkeit steigt. Wir haben raum-achterlichen Wind. Das Boot geigt.(19) Der Zielhafen vor uns ist Katákolon, unser eigentliches Ziel ist Olympia - die alten Sportstätten, die alten Kultplätze. Bildungstrunken treten wir einen endlosen Gang durch das heiße Gelände an. Die Säulen des großen Zeustempels liegen wie riesige, dicke Salamischeiben vor uns. Die Säulenräder sind einfach liegengeblieben nach dem Erdbeben im 6. Jahrhundert, niemand hat sich mehr um sie gekümmert. Dann der Hermes des Praxiteles. Hermes, ein "alter Gott", der die Leier erfindet. Er baut diese aus einer in Arkadien häufig vorkommenden Schildkröte. Er stiehlt seinem Bruder Apollo eine Rinderherde, die er aber gegen Abgabe der Leier behalten kann.(20) Apollo, der Lichtgott, gilt auch als Vater der berühmtesten Sänger der Antike, Orpheus und Linos. Licht und Ton hängen zusammen: hell und Hall haben etymologisch gesehen die selbe Wurzel.(21) Als Sehender hören, als Hörender sehen. Der Blick nach innen eröffnet erst die Möglichkeit der Vorausschau. Betrachtet man die Seher nicht nur der Antike, fällt ihre Sehschwäche auf. Pythia, die Seherin des Orakels von Delphi, war blind, ebenso Kalchas, Teiresias oder auch Ödipus, der erst geblendet versteht, was eigentlich geschehen war. "Blinde Seher gibt es in vielen Kulturen - in der brahmanischen Überlieferung Indiens, bei den Zen-Weisen, bei Sufis und im Ost-Judentum, bei Germanen und Kelten (...)"(22) Die Fertigkeit der Prophetie scheint an das Spiegelkabinett des Ohrs gebunden zu sein. Sagbares und Unsagbares, Hörbares und Unhörbares verschlingen sich. Realität und Mystik treffen sich hier. Unsere Kultur hat ihren Schwerpunkt im Visuellen gefunden. Hörfragen erscheinen vernachlässigbar. Wäre die Verlegung der Wahrnehmung auf das Ohr eine Möglichkeit, ein paar Striche vom momentanen Kurs abzugehen, um genauer hinzuhören, was auf ökologischer und ökonomischer Basis geschieht? Gerade ist die Weltbevölkerungskonferenz zu Ende gegangen. Die gestellten Prognosen verhallen, gehen im Alltagslärm unter. 2025 werden, so die Prognosen, 7,6 Milliarden Menschen in der niedrigsten und 9,4 Milliarden Menschen in der höchsten Schätzung die Erde bevölkern. Eine Berechnung der Weltbank weist darauf hin, dass sich in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts die Bevölkerung bei 10 bis 11 Milliarden stabilisieren könnte, Wissenschaftler meinen, der Punkt liege höher, bei 14,5 Milliarden.(23) Feuerwerke, Pulverexplosionen, Explosionsmotoren, Atombombenexplosionen! Bevölkerungsexplosion, die Jahrhunderte werden immer lauter, und die Prognostiker verschaffen sich immer schwerer Gehör.

Mani 

Der Wind spielt im Rücken, die Wellen sind mäßig und haben eine ausgeprägte lange Form. Überall sind weiße Schaumkämme. Wir fliegen dahin, queren den Messinakós Kólpos Richtung Mani. Wir umrunden Europas südlichsten Punkt nach Gibraltar auf dem Festland: Akra Ténaron. Der Himmel ist grau, und die Wolken hängen tief. Wir sind zu nahe am Kap, der Leuchtturm läßt sich fast angreifen. Eine Stunde noch, vielleicht zwei. Dann ankern wir in Pórto Kágio. Die enge und doch weitläufige Bucht hat die charakteristische Form eines Amphitheaters. Rundum keine Bäume, nur niederer Bewuchs, weiter oben, auf der Galerie, ein verfallener Wohnturm, der an kriegerische Zeiten erinnert. Unter dem Befehl von Häuptlingen lebten die Manioten abgeschlossen und von der Hohen Pforte unabhängig. Erst nach dem Unabhängigkeitskrieg 1834 war es mit dem Solo für Mani vorbei. Auf der nördlichen Seite der Bucht befinden sich zwei alte Klöster in bester Lage - Südhang! Ein Platz für Meditation! Ein Ort, dem Wind und sich selbst zuzuhören, das Rauschen des Meeres wahrzunehmen, jede Welle, jeden Tropfen? - Eine längere Übung! Wir bleiben eine Nacht und konzentrieren uns am Abend auf den frischen Fisch und den Klang der Gläser.

Kíthíra 

Der Melthemi nimmt zu. Ich denke über den Weg und die Woge nach, studiere die Seekarte! Die Überfahrt auf die Insel wird zur harten Arbeit. Wir lernen durch die "Wellenschule", die Schulung durch die Elemente. Wir werden abgetrieben, müssen vor dem Wind kreuzen. Der Zickzackkurs verhindert ein schnelles Vorwärtskommen, alles wird mühsam. Auf der Insel verhindert ein in der Nacht zunehmender Sturm das morgendliche Auslaufen. Zwangspause! In der Kajüte finde ich einen Walkman, ich setze die Kopfhörer auf, lege eine Kassette ein. Mit Musik wasche ich meine Wäsche. Mit Musik erkunde ich das kleine Dorf. Die Dorfbewohner wissen nicht, was ich höre, sie kennen mein Geheimnis nicht, ich kenne ihres auch nicht. Shuhei Hosokawa, der den "Walkman-Effekt" untersuchte, konstatiert ein Befremden der Leute, als zum ersten Mal in den Städten der Walkman auftauchte. "Etwas war offensichtlich, ohne jedoch in Erscheinung zu treten; es war ein Geheimnis"(24) das noch dazu ostentativ zur Schau gestellt wurde. Die Griechen kümmern sich nicht um mich, ich kümmere mich nicht um sie. Ich höre meine Musik!

Monemvassia 

Die Strömung hält uns zurück. Der ständige Nordwind verzögert das Vorwärtskommen. Das Boot scheint zu stehen. Nach zwei Stunden Fahrt hat sich kaum etwas verändert. Das Kap, das zu umrunden ist, kommt nicht näher. Vor uns schieben sich riesige Frachtschiffe durch die Fluten. Der Melthemi, dieser charakteristische Nordwind in der Ägäis mit Monsun-Charakter, lässt uns auf der Stelle treten. Das regelmäßige Hämmern des Dieselmotors bringt das ganze Boot zum Vibrieren, die Pinne liegt unruhig in der Hand, es ist schwierig, Kurs zu halten. Nach dem Kap fast Windstille, ein Tragflügelboot taucht auf, verschwindet. Weit vorne das Gibraltar Griechenlands: Monemvassia. Türme und Basteien, eine alles einfassende Stadtmauer, ein eisenbeschlagenes Tor, ein Eingang. Verfallende byzantinische Ruinen, restaurierte Häuser, auf Touristen zugeschnittene Geschäfte. Keine Autos. Die Musik aus den Boutiquen und Restaurants vermittelt uns, abgesehen von den engen Gassen, das Gefühl urbaner Geborgenheit. Durch die entstandene Klanglandschaft erleben wir unsere Umgebung intensiver. Nicht nur in der traditionellen, sondern auch in der modernen Stadtplanung - von Platon, Piero della Francesca bis Le Corbusier - gibt es keine Hinweise auf das akustische Leben in der Stadt. Bauliche Details, Strategien der Anlage, Materialfragen dominieren über die Immaterialität der Musik. Die Installation von Klanglandschaften hat gewöhnlich keinen Platz in diesem Amalgam von Beziehungen und Interaktionen zwischen Subjekten und Objekten. Nur Kunstaktionen ermöglichen Experimente: In Graz, so erinnere ich mich, wurde einmal während des Avantgardefestivals Steirischer Herbst auf verschiedenen Plätzen der Altstadt der Kanon von Pachelbel in verschiedenen Versionen gleichzeitig aufgeführt. Die Bewohner wurden aufgefordert, Radioapparate ins Fenster zu stellen, dadurch entstand eine Klangwolke über der Stadt. Wechselte man von einem Platz auf den anderen, veränderte sich allmählich die Musik - von der Klassik zur Computermusik zum Jazz. Mit der Schwingung änderte sich auch die Stimmung und das subjektive Erleben einer längst bekannten, durch den Alltag kaum noch wahrgenommenen Architektur, neue Facetten wurden sichtbar. In der Stadt ist es schwierig, Lärm von Musik zu unterscheiden, der Ton ist ein Nebenprodukt verschiedenster Aktivitäten. Auf einem Markt, man braucht dazu gar nicht in den Orient fahren, entwickelt sich das Anbieten, Feilschen, Verkaufen zu einer Partitur unfreiwilliger Musik, die sich mit freiwilligen Musikern, den Straßenmusikanten an der Ecke mischt. Passanten hören gemeinsam auf den Straßen Transistorradio oder Kassettenrecorder und stärken so das Gemeinschaftsgefühl. Der Walkman-Hörer dagegen hat sich davon abgekoppelt und die akustische Verbindung mit der Außenwelt, in der er lebt, unterbrochen.(25) Er lebt von der Differenz. 

Morgen Nacht werden wir in Nauplia sein.

Anmerkungen

1 Entstanden aus dem it. all'arme oder dem frz. alarme, spätmhd. alerm. 

2 Frühnhd. Wortschöpfung, die durch Abfall des unbetonten Anlautes von alerm entstanden ist. 

3 Joachim-Ernst Berendt: Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt. Reinbek bei Hamburg 1985, 5.154. 

4 Das Sumlog ist ein kleiner, unter dem Bootsboden angebrachter Propeller (eig. Impeller), der durch den Fahrtstrom angetrieben wird. Seine Umdrehungen werden mechanisch über eine flexible Welle von 3 bis 5m Länge auf ein Anzeigegerät übertragen, das die Fahrtgeschwindigkeit in kn oder km/h anzeigt. 

5 D.h.: Sie führt eine kombinierte Dreh- und Pendelbewegung durch den Wind aus. 

6 Reggae läßt sich etwa Mitte der 50er in Jamaica in Verbindung und Vermischung heimatlicher Stile (Calypso und Mento) mit Rhythm&Blues geprägt von New Orleans, Rock'n'Roll und Soul nachweisen. Erst 1967 wurde er erstmals expressis verbis als Reggae weiterverbreitet. Erster Jamaika Sound bei Millie Small "My Boy Lollipop", hier spielt Rod Stewart die Mundharmonika, Eric Claptons "I Shot The Sheriff", Anklänge auch 1968 bei "Ob-la-di Ob-la-da" von den Beatles etc. Vgl. Werner Faulstich: Zwischen Glitter und Punk. Rottenburg-Oberndorf 1986. (= Tübinger Vorlesungen zur Rockgeschichte Teil 3:1972-1982; Rockpaed-Bücher) S.32 ff. 

7 Michael Naumann, Boris Penth: "Heute Nacht ist meine Zukunft." In: links 100 (1978). S.22. 

8 Vgl. Naumann, Penth, "Heute Nacht ist meine Zukunft", S.22-23. 

9 Vgl. Werner Faulstich: Zwischen Glitter und Punk. S.134-138. 

10 Vgl. Douglas Coupland: Generation X. Geschichten für eine immer schneller werdende Kultur. Roman. Berlin, Weimar 1994. 

11 D.h.: Mist, Müll 

12 Gleichnamiges Album, das acht Millionen Mal verkauft wurde und sich gegen Michael Jackson, U2 und Guns n'Roses durchsetzt und zur Nummer eins der Billboard Charts avancierte. 

13 Vgl. Michael Azerrad: Nirvana. Come as you are. St.-Andrä-Wördern 1994. 

14 Z.B.: Sting, Bruce Springsteen, Duran Duran etc. 

15 Vgl. Thomas Pynchon: Entropie. In: T.P.: Spätzünder. Frühe Erzählungen. Deutsch von Thomas Piltz und Jürgen Laederach. Cobains Schicksal, sein Aufstieg und Fall erinnert mich an die Helden von T.P., die allmählich zur Ruhe kommen, den Wärmetod sterben. In der gleichnamigen Erzählung lässt er das Lebensgefühl der 50er durchschimmern, in der er die Zeit vor Kennedy, das Lebensgefühl der Beats fassen will. Unweigerlich ergeben sich zu der verfahrenen Situation der 90er Parallelen, vor allem was das Lebensgefühl betrifft, abgesehen, dass die Zeit "schneller geworden" erscheint. 

16 Das entspricht der Lautstärke eines U-Bahnzugs (London). 

17 Die Neigung des Bootes. 

18 Berendt, Das dritte Ohr, S.17. 

19 Eine Bootsbewegung, die besonders bei achterlichem Wind als Krängung nach Luv und nach Lee auftritt. 

20 Vgl. Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1974. S.176. 

21 mhd. hel "tönend, laut; licht glänzend"; idg. Wurzel *kel., auch mit anlautendem s- als *skel, davon abgeleitet in anderen idg. Sprachen: griech. kalein "rufen, nennen", lat. calare "ausrufen" etc. 

22 Berendt, Das dritte Ohr, S.62. 

23 Vgl. Paul Kennedy In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1993. Kap.2: Die demographische Explosion. 

24 Shuhei Hosokawa: Der Walkman-Effekt. Berlin 1987, S.33.

25 Vgl. ebda, S. 59ff.

 

» top 

 

zurück