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Die Welt ist alles, was der Film ist

   
       

Remix zu Derek Jarmans Wittgenstein

Film verschwindet

Geschichte sei geduldig, ihr entgehe niemand, lese ich, nachdem ich den Film über Wittgenstein gesehen habe. Unaufhörlich schreibe sich Wirklichkeit auf die Wand des Nichts und treibend sei die Sucht, Vergangenes festzuhalten. Über die Leinwand huschen Geister, die zurückgekehrt sind. Wittgenstein ist auferstanden, denke ich, jenseits von Zeit und Raum vor schwarzen Vorhängen als Marionette, deren Fäden nun Derek Jarman zieht. Wittgenstein hat neue Kleider, die, geschult an historischen Photographien, Sand Power entwarf, sein Make-up besorgte Mora Ross. Zwei Wochen im Oktober 1992 erhebt der neue Wittgenstein im Studio in London seine Stimme und präsentiert sein berühmtes Sprachspiel. DJ rekonstruiert aus dem Leben des Denkers Szenen ohne historische Folgerichtigkeit, unbekümmert, schwerelos geht dabei der Philosoph durchs Leben, wie DJ es sich vorstellt. Jede Aktion ist von Wittgenstein abgefallen und Film geworden. Die entwickelten und entstandenen Sequenzen bilden einen ausführlichen Vorspann zu einer kurzen, aber für DJ typischen intensiven Sterbeszene, die das zuvor Gezeigte relativiert, denn „it is death which gives life meaning and shape.“ Die Kunst dabei liegt in ihrer einfachen, bestechenden und bewegten Darstellung. Sterben, suggeriert DJ, sei Privatsache, aber doch nicht so privat, dass, wie in postmodernen Gesellschaften üblich, nicht darüber gesprochen werden dürfe. Tod steht am Ende von Produktion, am Ende von Arbeit. Er beendete Wittgensteins Leben – aber solange die Kamera läuft und chemische Prozesse Wirklichkeit farbig auf Zelluloid bannen, solange ist niemand tot. Wittgenstein lebt und Jarman weiß, solange er filmt, lebt auch er! „The obvious next step is death“, stellte Matthew Heller 1988 in einer Unterhaltung mit DJ fest, der seit dem 22. Dezember 1986 weiß, dass er HIV-positiv ist. „I can't imagine that“, bemerkt der Regisseur in seiner Autobiographie At your own risk. A saint's testament, „I watched my mother die, so I know what physical death is like, and I suspect that with variations it's more or less the same for us all.“(1) Der biologische Tod ist unaufschiebbar, er ist punktuell und objektiv. Er sei eine Besonderheit unserer Kultur, so Baudrillard, „alle anderen gehen davon aus, dass der Tod vor dem Tode beginnt, dass das Leben nach dem Leben fortwährt und dass es unmöglich ist, Leben und Tod zu trennen ... unsere moderne Idee vom Tode wird durch ein anderes Vorstellungssystem bestimmt: das der Maschine und des Funktionierens. Eine Maschine läuft oder sie läuft nicht. So ist die biologische Maschine tot oder lebendig.“(2) Was bleibt ist die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, nach dem Traum vom Leben, oder nach einem Tod, der Leben träumt und inszeniert. Es ist ein Schauspiel, das sich wiederholt, ein letztes Gericht, das reproduziert wird. Wittgensteins Leben findet in DJ Vorstellung vor schwarzen Vorhängen statt, dahinter öffnet sich erst der Raum des Lebendigen. Dort werden Regieanweisungen gegeben, da beginnt der nächste Tag. Auf die Frage, was sein Vermächtnis für die Nachwelt wäre, wenn er morgen sterben würde, bemerkt DJ: „Oh nothing, because film disappears, thank God.“ Nach und nach hören selbst die Toten auf zu existieren. Sie werden aus der symbolischen Zirkulation in der Gruppe ausgeschlossen, verschwinden. Nur ihre Reproduktion ist scheinbar noch lebenserhaltend. Heutige Tote tauchen im Kino auf. Wittgensteins Leben ist dort kurz. Er stirbt schon nach rund 65 Minuten. DJ zitiert sich dabei selbst und kopiert sich. Als Resultat legt er eine ironische Bilderwelt über einen Philosophen vor, der „an die Heilkraft des einfachen Lebens der Sprache“ glaubte. Jarman produziert hier seine eigene Geschichte. Die Schlichtheit der Inszenierung weist auf die Unfassbarkeit eines ganzen Lebens, aber die Farbigkeit der Bilder berauscht.


Nouvelle Cuisine

DJ nähert sich an Wittgenstein in ästhetischer Hinsicht an. Wittgensteins aphoristische Art des Philosophierens findet sich wieder in kurzen Einstellungen, enthoben jeder Realität. Wie im luftleeren Raum, denke ich und erinnere mich an die roten Vorhänge, die David Lynch in Twin Peaks verwendete, um unzugängliche Räume sichtbar zu machen. Es ist die Suche nach dem Wunderbaren, die Sucht alles begreifbar, sichtbar und hörbar zu machen. Kulinarische Abenteuer des Sehens liegen in DJs Intension. In etwas mehr als einer Stunde muss der Zuschauer Wittgenstein auf der Bühne stehend begreifen können. Alles muss klar vor Augen liegen, wie bei einer Ikone, auf Hintergründiges kann verzichtet werden. Kleine Portionen, fein garniert, geschmackvoll serviert, zum Genießen. DJ entpuppt sich als ein Vertreter der Nouvelle Cuisine des postmodernen Films, hier entdecke ich Parallelen zu Kaurimäkis Kargheit. Ein unmittelbarer Griff nach Wittgensteins Philosophie ist zwar so unmöglich, es genügen jedoch Andeutungen. Fakten verwandeln sich zu einem Kammerspiel und erzeugen jene scheinbare Endlosschleife, die Wittgensteins Weiterleben garantieren soll und gleichsam die Basis dieser biographischen Arbeit bildet. Die Metapher der Unsterblichkeit des Genies wird zur Methode. Ein Mikrokosmos aus Bildern und Worten ist die unmittelbare Folge. Ein Regisseur bringt Ordnung in Wittgensteins Leben und hebt dadurch die Sinnlosigkeit menschlicher Existenz auf. Wird Ordnung geschaffen, um der Sinnfrage zu entgehen? Oder steht Ordnung nach wie vor unter Mordverdacht? Biographische Miniaturen werden zu einem Mosaik zusammengefügt, das „das Leben einer berühmten Persönlichkeit“ thematisiert. Wie die richtige Stellung der Worte im Satz erst Sinn und Kunst ergeben, ersteht erst durch einzelnen Sequenzen und Szenen DJs Marionette.


Sprache verbindet

Sprache verbindet Bilder, zusammen ergeben sie Gewissheit und Erkenntnis. Das Denken habe seine Wurzeln im Geheimnis der Worte, sagt Wittgenstein, im „Grund der Sprache“ und in der Magie der Bilder ergänzt DJ, der Wittgensteins Leben als Theaterstück inszeniert und zugleich spielerisch die Gegenwärtigkeit der Theateraufführung in vollendete Reproduzierbarkeit auflöst. So eröffnet der begrenzte Raum der Guckkastenbühne im Film Perspektiven eines Lebens, das nur noch in Fotographien vorhanden ist und in diversen schriftlichen Quellen fassbar erscheint. Der Lichtspielzauber versucht hier die Rissstellen im Gewebe der Zeit zu flicken. Ohne theoretische, aber mit praktischer Raffinesse, gerade und direkt entwickelt DJ eine Möglichkeit das Leben Wittgensteins zu betrachten: Wittgensteins Leben als Theaterstück, als Erfindung, als Transportmittel für Ideologien, für politisch Parolen. Wittgenstein ist ein Geist mit Möglichkeiten, denke ich und vergesse Musils Mann ohne Eigenschaften, Dieter Kühns fiktive Napoleonbiographie N oder Ernst Machs Analyse der Empfindungen, in der bemerkt wurde, dass das Ich keine homogene, unveränderbare Substanz sei, die absolut gesetzt werden könne und dass in einem Komplex verschiedener Elemente, die das Ich umgeben, unpersönliche Elemente die Bildung einer Persönlichkeit ausmachen. Erst durch das Zusammenspiel dieser Elemente mit dem Ich könne eine Persönlichkeit erkannt werden. Das Ich selbst sei also nicht fassbar, sondern nur die verschiedenen Elemente, die dieses Ich umschließen. So erinnere ich mich an Ken McMullens Gedankenspiel in Ghost Dance (1983) in dem es heißt, wie es scheint, tauchen jene Geister, die schon lange vor der Zeit der Erinnerung existierten nun wieder auf, aus einer Vergangenheit ohne Form, im Dunkel der Nacht. „Als die Erinnerung begann sie zu suchen, schlüpften sie in die Sprache, versteckten sich zwischen Buchstaben und sprangen aus den Worten hervor.“ Ihren Zähmungsakt erfuhren sie durch Poeten und durch Künstler und Philosophen. Sie fanden keinen Augenblick, um zu verweilen, sich offen erkennen zu geben. Sie verharrten in Verstecken und verkleideten sich. Zuerst in Worten, dann in Bildern, schließlich in Büchern, dann endlich tanzten sie als farbige Schatten. „Kino“, so Jaques Derrida, Philosoph und Schauspieler in Ghost Dance, „ist eine Kunst der Geisterbeschwörung, ... es ist eine Kunst, bei der man Geister zurückkehren lässt.“ Bruchstücke, hilflose Versuche über ein früheres Wissens machen sich breit. Der Mythos von Orpheus und Euridike lebt hier wieder auf. Nur heutzutage verschwindet Euridike nicht mehr, sie vervielfältigt sich mit dem Ziel, allgegenwärtig zu sein, um so unfassbar zu werden.


Metapher W

Das Ende des Lebens erkennt DJ als Theater in seiner reinsten ursprünglichsten Form. Diese Illusion, dieses Imaginarium soll über die Tragödie des Sterbens hinweghelfen. Hier sollen Schauspieler überzeugend wirken, sollen mit wahrer Leidenschaft die innere Entwicklung und den Lebensablauf des Genies Wittgenstein sichtbar machen. Auch die ausgeloteten Zeiträume müssen, wie in jedem biographischen Versuch, stimmig sein. DJ geht dabei radikal und kompromisslos vor. Traumsequenzen ersetzen fiktive Wirklichkeiten. Figuren tauchen auf und verschwinden. Alles schattenlose Gestalten, denke ich, als ob sie ihre Schatten verkauft hätten, nach ihrem Abstieg in den Hades. Ich suche den Fährmann und finde ihn nicht, dann bemerke ich, dass Wittgenstein selbst die Rolle des Ruderers übernommen hat. In der Unterwelt, hinter geschlossenen Türen, fehlen unmittelbare Lichteffekte, die Figuren erstehen im klaren Licht in klaren Farben und heben sich deutlich vom schwarzen Hintergrund ab. Keine Tageszeiten, keine Stimmungen oder Impressionen lenken den Zuschauer ab. In DJs Wittgenstein ist es immer Mittag, die Zeit des klaren Lichts, die Zeit der starken Kontraste, wie in den Bildern von Francis Bacon. „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen,“ heißt es in den Philosophischen Untersuchungen (I 115). Hier setzt der Regisseur an. Wiederholungen werden zum Stilprinzip, wie das immer wiederkehrende Eintauchen der Ruder im Strom der Geschichte. Und dennoch entspricht die formale Strenge des Film in keiner Weise dem Wittgensteinschen Denken, fällt mir ein und entdecke den Widerspruch. Aber DJs Konzept stimmt dennoch. War der Traktat, in dem Wittgenstein eine Theorie der Sprache entwickelt hat, noch von Starrheit und Einseitigkeit geprägt, so erfolgte gerade in der zweiten Phase seiner philosophischen Arbeit eine neue Positionierung seines Denkens, das auf die rücksichtslose Zerstörung der früheren Überlegungen aufbaut. Wittgensteins philosophische Leidenschaft und intellektuelle Redlichkeit ließen es nicht zu, dass Gedanken konserviert wurden, die der Kritik verfallen waren. Dieser Radikalismus, dieses Ringen um eine neue Philosophie auf dem Trümmerfeld der alten aufzubauen, findet, jedoch keinen unmittelbaren Niederschlag in DJs Studie über das philosophische Genie. Hat sich DJ mit Wittgenstein ein Waterloo eingehandelt, oder verleitet mich nur der Drehort des Streifens zu Gedankenspielereien? Liegt hier ein verborgener selbstkritischer Hinweis auf das Gesamtwerk Jarmans, der sich seit Edward II und Wittgenstein dem Theater zuwandte. Beeindruckte der Regisseur in Caravaggio noch mit einer originellen Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, verblüffte er in The Tempest mit einer anmutigen Architektur des Traums, so scheint er in Wittgenstein bei einem verkürzenden biographischen Konzept hängen geblieben zu sein. Ist DJ Vorgangsweise dennoch legitim? Eines ist klar, nicht der wirkliche Wittgenstein sollte auferstehen, sondern eine Möglichkeit einer biographischen Deutung sollte ausgeschöpft werden. Schließlich hat der Film mit dem tatsächlichen Denker kaum etwas zu tun, denn Jarman hebt seinen Wittgenstein aus einem fixierten Geschichtsablauf und produziert Theater. Dialoge, Auftritte, Szenen und nicht mehr Dokumente oder Quellenzitate sind wichtig, sondern ein Prozess des Unentschiedenen, des Noch-Offenen soll entstehen, obwohl dieses Leben bereits gelebt wurde und sich in die Geschichte eingegraben hat, erhebt es sich wie ein Phoenix aus der Asche auf der Bühne. Historisches Material wird verwendet und mit Erdachtem und Erfundenem in Wechselbeziehung gebracht. So entsteht eine Methode, die zeigt, dass Dokumente, diese Fixierungen historischer Tatabläufe, ebenso ein zubereiteter Stoff und nicht ident sind mit den Fakten, die sie zu bewahren vorgeben. Realität baut auf Fiktionalität und zieht Theater nach sich. Eine Figur soll Klarheit über den Menschen Ludwig Wittgenstein, den es nicht mehr gibt, bringen. Wittgenstein existiert heute nur noch als Geschichte in Geschichten. Wittgenstein, das sind nun seine Bücher, seine Abhandlungen. Auch Karl Johnson ist Wittgenstein, er verkörpert die Kunstfigur, die sich nun selbst erklären und rechtfertigen muss - ein Lebender ist ins Reich der Toten eingedrungen und zur Metapher geworden.


Heimatlos sein

Wittgensteins Familie tritt auf, dann der junge Ludwig, später Wittgensteins Neffe, den Thomas Bernhard beschrieb und das Wien der Jahrhundertwende, dann wieder Paul klavierspielend, schließlich verschiedenen Frauen und Männer um Wittgenstein, Cambridge, wo er einen Lehrstuhl für Philosophie von 1939 bis 1947 inne hatte, Schweden, Rußland ua. Ein buntes Kaleidoskop entwickelt sich durch die Maschine des Biographen mit dem gläsernen Auge. Ich erfahre, dass Wittgenstein nie erwachsen wurde. DJ lässt ihn als Knabe dozieren wie ein Professor, als Professor ist er ungeduldig, als pubertierender Knabe hat er eine glockenhelle Stimme. Wittgensteins Zerrissenheit, sein Jähzorn zeigt sich dann, wenn jemand nicht sofort verstand hat, was er gemeint habe. Wittgenstein muss als Lehrer ein kindischer Tyrann gewesen sein. Als er in der Volksschule unterrichtet, quält er seine Schüler, besonders die Mädchen, mit komplizierten mathematischen Beispielen und kehrt das grausame Kind im Manne heraus, spielt mit Menschen, lässt aber nicht mit sich spielen und entwickelt sich zum Außenseiter, der er auch in Cambridge oder in Bloomsbury blieb. Später bricht Wittgenstein in das norwegische Dorf Skjolden auf, um vor der Gesellschaft zu fliehen, er geht nach Russland, auf der Suche nach dem einfachen Leben. Ein Intellektueller muss heimatlos sein. DJ modelliert geschickt Wittgensteins Charakter und analysiert dessen Konfliktunfähigkeit. Die Partitur dafür bietet ihm Ray Monks Biographie (1990), die DJ als Grundlage für seinen Film verwendet. Hier zeichnen sich auch die Grenzen dieses biographischen Versuches ab, hier liegen die Grenzen der Bilderwelt. DJ und Wittgenstein treffen sich auf einer imaginären Ebene, denn der Philosoph weiß, dass die Grenzen der Sprache, die Grenzen der Welt sind. Wittgensteins Träume, Vorstellungen und Ideen werden von DJ immer wieder aufgenommen und auch Mr.Green, ein Marsbewohner, Kunstfigur in Wittgensteins Werk findet seine Korrespondenz im Film. Der grüne Zwerg im Rollstuhl, von Nabil Shaban großartig verkörpert, taucht in der Studie Über Gewißheit (23.3.51, 430.) auf: „Ich treffe einen Marsbewohner, und er fragt mich 'Wie viele Zehen haben die Menschen?` - Ich sage: 'Zehn. Ich will's dir zeigen`, und zieht die Schuhe aus. Wenn er sich nun wundert, dass ich es mit solcher Sicherheit wusste, obwohl ich meine Zehen nicht gesehen hatte. - Sollte ich da sagen: 'Wir Menschen wissen, dass wir so viele Zehen haben, ob wir sie sehen oder nicht`?“ Eine Comic-Figur entlehnt aus dem philosophischen Diskurs, geschmiedet aus Worten, wird in Bilder gesetzt, um die Einsamkeit des Denkers und dessen Früchte aufzuzeigen. Bewegte Geschichten, die ihr Begehren zum Ausdruck bringen. Die Welt ist alles was der Film ist. Geschichte wird zu Gesichtern. DJ bemalt diese, wie das Gesicht von Lady Ottline Morrell (gespielt von Tilda Swinton). Liegt hier die Intention der gesamten Produktion? Liegt hier der Grund nichts Konkretes vorlegen zu wollen, sondern nur Sinnbilder? Wittgenstein, eine Übermalung? Konstruiert DJ Spiralen, die alle Tatsachen, Fakten wiederkehren lassen?


Selbst verständlich

Wittgenstein ist schwul. Und Homosexualität ein zentrales Thema in Jarmans Schaffen. Wittgensteins sexuelle Orientierung wird in Monks Biographie nur angedeutet, scheint nur kodiert auf. Am Ende der Studie, im Anhang, in der Auseinandersetzung mit Barthleys Wittgensteinsaufarbeitung wird diese näher diskutiert. Einige Männerbeziehungen lassen sich aus dem Wittgensteinschen Briefverkehr nachzeichnen, die Biographen seien sich unsicher, wie ich bei der ersten Lektüre bemerke. Eigentlich spielt es keine Rolle, mit wem Wittgenstein ins Bett geht. Kodierung und Dekodierung schaffen Platz für Interpretationen, DJ geht andere Wege, für ihn ist alles klar, er ist direkt. Er entwickelt einen Idealtypen, Johnny, der mit Keynes ebenso schläft wie mit Ludwig. Eine Männerwelt eben wie DJ sie kennt, das moderne London wird nach Cambridge transferiert. DJ verweist auf seine Vorstellung einer repressionsfreie Gesellschaft, in der Männerliebe kein Tabu darstellen dürfe und entwickelt so das utopisches Moment seines Films. Gewöhnliche Männerliebe wird zur politische Impression des Jahres 1992, zur Selbstverständlichkeit, zur Wunschvorstellungen eines Todkranken. 1988 bemerkt DJ, der weder seine Homosexualität noch seine HIV-Infektion verborgen hat, zu Helbert: „I hope boys will carry on falling in love with boys and girls with girls, and they'll find no way to change that.“ Dabei zeigt DJ keinen Funken Resignation. Politische Arbeit sei notwendig, lautet DJs Devise, Befreiung sei wichtig: „Understand that sexuality is as wide as the sea,“ notiert er, „Understand that morality is not law. Understand that we are you. Understand that if we decide to have sex whether safe, safer, or unsafe, it is our decision and you have no rights in our lovemaking.“ DJ, der Individualist, kämpft gegen eine erstarrte, konservative Gesellschaft, die sich nur befreit und gelassen gibt, aber ihre Maßstäbe zum Diktat gesellschaftlicher Freiheit erhebt. Parallelen zu Prick up your ears fallen mir ein. Nur Wittgenstein ist keine paradigmatische Figur des Gay-Cinemas – und kein Joe Orton der Philosophie. Ihm fehlt Ortons oder Jarmans politische Radikalität.
DJ's Wittgenstein scheitert an seiner Gesellschaft, die ihm nur in der geschlossenen Gruppe die gewünschte Freiheit gestattet. Hier zeigt sich die politische Komponente des Films. Heutzutage erscheint alles anders, die Zeiten haben sich geändert, heißt es, oder doch nicht? My own private Idaho von Gus van Sants hat doch die selbe Konotation wie Wittgenstein, denke ich, Homosexualität ist zweifellos saloonfähig. Aber die geöffneten Tore der späten 70iger und frühen 80iger haben sich wieder geschlossen, heute sind sie in den diversen Clubs verschwunden – späte Freiheit aber im Ghetto! Fouriers Utopievorstellung fällt mir ein, die auf eine Welt verweist, in der es nur noch Unterschiede gäbe, so dass sich unterscheiden nicht mehr ein Sichausschließen wäre. Monolog eines pathetischen Traums, denke ich, aber was ist tatsächlich heutzutage noch normal, wenn alle besonders sein wollen, denke ich, als ich durch London spaziere?


Wittgenstein liebt

Im Gegensatz zu Kafka, der sich vor dem Uniformieren der Gedanken durch das Kino fürchtet, liebt Wittgenstein den Film. Er bevorzugt zuerst Western, später dann Musicals oder romantische Komödien. DJ lässt seinen Wittgenstein im Kino sitzen und gebannt auf die Leinwand starren. Der Film sei ein Duschbad der Gefühle, merkt der Philosoph an,  Film und Seminar unterscheiden sich nicht. Ideales und Fiktives treffen sich und ein ästhetischer Diskurs entsteht, denke ich und erinnere mich, wie der junge Wittgenstein mit weißen Flügeln am Rücken in den Himmel der Philosophie aufzusteigen versucht, oder war das nur auf einer Photographie mit Eccels beim Drachensteigen, die mir in Monks Biographie auffiel? Wer war dieser Wittgenstein eigentlich? Wo beginne ich neu: beim Gesicht, bei der Geschichte, bei seiner Psyche, beim Film?




Anmerkungen

1 Derek Jarman: At your own risk. A saint's testament. London: Vintage 1993. S.117.
2 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. München:
Matthes & Seitz 1982. S.251

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