Publikationen - Rezensionen zu
Bildung und Migration - Renate Nestvogel


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Renate Nestvogel: Aufwachsen in verschiedenen Kulturen. Weibliche Sozialisation und Geschlechterverhältnisse in Kindheit und Jugend.
Beltz Wissenschaft, Deutscher Studien Verlag, Weinheim und Basel 2002. 616 Seiten, ISBN 3-407-32010-8, Preis: 40,10 €



Renates Nestvogels Arbeit stellt den letzten Band der im Beltz Verlag erschienenen Reihe "Einführung in die pädagogische Frauenforschung" dar. In diesem Buch dekonstruiert Nestvogel über eine Auswahl von literarischen Texten von Frauen mit verschiedenen kulturellen Biographien aus den letzten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts die der Sozialisationsforschung zugrundeliegenden Kategorien unter geschlechterkritischer und multi-ethnischer Perspektive. Es geht ihr nicht darum, diese Kategorien zu verwerfen, sondern darum, sie eben um die Dimensionen Geschlecht und Ethnizität zu erweitern und neu zu bestimmen - in einer nicht abgeschlossenen, multidimensionalen Form. Mit diesem Herangehen vermeidet die Autorin die Fortschreibung dichotomer Zuschreibungen und der damit oftmals einhergehenden Hierarchisierung - sowohl innerhalb des Geschlechterdiskurses als auch innerhalb des Diskurses um Kultur und Ethnizität. Mit der methodischen Vorgehensweise, literarische Texte von Mädchen und Frauen heranzuziehen, gelingt es der Autorin auf eine sehr kreative Art, die "Objekte" ihrer Forschung als Subjekte selbst sprechen zu lassen. Die Heterogenität der Erzählungen eröffnet die Möglichkeit, die Dominanz "westlicher" Modelle innerhalb der Sozialisationsforschung bzw. den "westlichen" Blick auf fremdkulturelle Sozialisationsverläufe zu reflektieren.

Am Anfang des Buches diskutiert Nestvogel die zentralen soziologischen und psychologischen Sozialisationstheorien, um so einen Sozialisationsbegriff zu erarbeiten, der die traditionelle Aufteilung in soziologische und psychologische Erklärungsmodelle überkommen kann und der es ermöglicht, Sozialisation als einen aktiven Prozess zu verstehen, der sowohl die Rahmenbedingungen der jeweiligen Gesellschaft als auch die Eigenaktivität der Individuen einschließt. In Anlehnung an Hurrelmann arbeitet Nestvogel demnach mit einem Sozialisationsbegriff, der sowohl die Ebene von gesellschaftlichen Normen, Erwartungen und Werten (von Nestvogel als "Kulturbegriffe" bezeichnet) als auch jene der individuellen Aneignung theoretisiert. Sozialisation ist so immer Vergesellschaftung und Individuation zugleich. Davon ausgehend weist Nestvogel auch das Bild von Frauen als Opfer patriarchaler Strukturen zurück und hebt die notwendige Eigenaktivität der Handelnden innerhalb aller sozialen Praxen und daher auch innerhalb des Sozialisationsprozesses hervor.

Nestvogel begreift Entwicklung und Sozialisation nicht als normativ. Erziehung und Sozialisation werden nicht als etwas gedacht, das auf eindeutig festlegbare Vorstellungen von bestimmten Entwicklungsverläufen beruht und dessen Ziel in der Übernahme bestimmter Normkodexe besteht, sondern als offener, widersprüchlicher Prozess. Darüber hinaus aktualisiert Nestvogel das innerhalb der Sozialwissenschaften gängige Modell der Bezugspunkte, innerhalb derer Sozialisation stattfindet, um die Ebene des Weltsystems. Diese Erweiterung über die Grenzen des nationalstaatlichen Terrains hinaus, ist nach der Autorin in einer globalisierten Welt notwendig, um die ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse (auch in deren Wechselwirkung) auf den Sozialisationsprozess fassen zu können. Demnach geht Nestvogel davon aus, dass weltsystemische Einflüsse wie "Globalisierung und Verstädterung, (die) Verbreitung von Schulbildung und neue(n) Berufsmöglichkeiten auch für Mädchen sowie (die) mediale Verbreitung eines westlichen Wertepluralismus" (ebd., S. 481) traditionelle Werte, Norm- und Moralvorstellungen verändert haben. Viele der Erzählungen verdeutlichen diese Pluralisierung von diesen Kulturbegriffen und zeigen auf, wie diese zu neuen Verbindungen von Altem mit Neuem führt, was einerseits emanzipatorisches Potential enthält und andererseits zu einer Zunahme der Spannungen innerhalb des weiblichen Sozialisationsprozesses führt. Dieses Spannungsfeld kommt insbesondere in den Erzählungen, die von Eheschließungen und den Vorstellungen und Phantasien darüber handeln, zum Ausdruck.

Von dieser anfänglichen theoretischen Begriffsklärung ausgehend gliedert Nestvogel ihr Buch entlang der Lebensphasen von der Kindheit über das Jugendalter bis zur Adoleszenz, wobei sie bei dieser methodischen Trennung hervorhebt, dass es sich bei diesen Lebensphasen - genau wie bei den Kategorien Geschlecht und Ethnie - um soziale Konstrukte handelt. Demnach zeigt Nestvogel nicht nur auf, wie Heranwachsende in verschiedenen Kulturen mit unterschiedlichen Norm- und Wertvorstellungen konfrontiert werden, sondern auch dass der Rahmen der sozialen Praxen (also was beispielsweise überhaupt als Aufgabe oder Ziel von Erziehung erachtet wird) auch jeweils verschieden ist. Wie diese einzelnen Lebensphasen in verschiedenen Kulturen jeweils konstruiert werden und wie innerhalb dieser Konstruktionen Geschlecht eingeschrieben wird, behandelt sie entlang der zentralen Aspekte des Sozialisationsprozesses wie Familie, Gleichaltrige, Arbeit, Phantasien, Spiele, Feste, Rituale, Aufklärung, Körpersozialisation, Sexualität, Verliebtsein, moralische und politische Sozialisation. An den Beginn jedes dieser Unterkapitel stellt Nestvogel einen einleitenden Überblick der dafür relevanten soziologischen und psychologischen Theorien, an welche sie ihre Auswahl der literarischen Texte reiht. Zentrales Anlegen ist für die Autorin dabei, aufzuzeigen, "wie Mädchen und Frauen über solche Kulturbegriffe und damit einhergehende Zuschreibungen zum weiblichen Geschlecht in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert und eingeengt werden" (ebd., S. 29). Nestvogel versucht demnach herauszuarbeiten, wie in dem Sozialisationsverlauf weibliche Identität innerhalb des Spannungsfeldes zwischen Anpassung und Selbstbestimmtheit vermittelt und ausgebildet wird. Als theoretischen Hintergrund rekurriert die Autorin dabei auf aktuelle Debatten innerhalb der Ethnologie und der Geschlechterforschung, um so begreifen zu können, "wie 'gender' unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen gemacht, erworben, zugeschrieben, konstruiert wird, sich verändert und verändert/dekonstruiert werden kann" (ebd., S. 49). Einem interaktionistischen Ansatz folgend möchte Nestvogel demnach aufzeigen, wie Geschlecht innerhalb des Sozialisationsprozess "angeeignet" wird und wie somit die in verschiedenen Kulturen unterschiedlich "gefärbten" Geschlechterverhältnisse produziert und reproduziert wird.

Um den hierarchischen Charakter der Geschlechterverhältnisse begreifen zu können, rekurriert die Autorin auf den poststrukturalistischen Machtbegriff bei Foucault, wonach Macht sich nicht in einzelnen Institutionen konzentriert, sondern vielmehr netzartig in den gesamten gesellschaftlichen Verhältnissen wirkt. Die Erzählungen verdeutlichen zum einen diesen netzartigen Charakter von Macht und zeigen zum anderen auch, wie in diesen Machtgefügen verschiedene soziale Kategorien miteinander verbunden sind: So handeln die Erzählungen auch davon, wie Weiblich-Sein, ethnische und religiöse Zugehörigkeit, die ökonomische Lebenssituation sowie die Frage der sexuellen Orientierung miteinander verwobenen sind und wie Frauen entlang und aufgrund dieser Dimensionen in Widersprüchen zu den dominanten Normen leben. Wie diese Differenz-Zuschreibungen innerhalb des Spannungsfeldes zwischen dem Versuch der Anpassung und dem Versuch, das Anders-Sein zu leben, auf unterschiedliche Weise gelebt werden, zeigt die Vielzahl der Texte auf.

Trotz aller interkulturellen und intrakulturellen Unterschiede, die durch das Buch deutlich werden, zeigt Nestvogel jedoch, dass in allen (in dem vorliegenden Buch erwähnten) Kulturen von Unterschieden der Geschlechter in den sozialen Praxen und deren Wahrnehmung ausgegangen wird und dass diese Unterschiede hierarchische angeordnet sind. "An allen Beispielen wird sichtbar, wie früh Mädchen das Geschlechterverhältnis als ein von männlicher Macht durchzogenes erleben, das manchmal auch in Gewalt übergeht" (ebd., S. 185). Nestvogels Arbeit kann als Beitrag gelesen werden, die in vielen Kulturen immer noch explizit oder implizit als Erklärung der Geschlechterunterschiedene dienenden Defizitthese zugunsten der Differenzthese zu verwerfen, da die Autorin - insbesondere im Bereich der politischen Sozialisation - aufzeigt, dass Mädchen und Frauen nicht über geringere Kompetenzen, sondern (sozialisationsbedingt) über andere Fähigkeiten als jene, die zumeist als gesellschaftliche Norm gelten, verfügen.

Nestvogel gelingt es in ihrem Buch, Einblicke über die Vielfältigkeit weiblicher Sozialisationsverläufe zu geben und so das innerhalb der Sozialwissenschaften und des alltäglichen Handelns dominante "Wissen" in seiner Selbstverständlichkeit aufzubrechen. Als Konsequenz daraus lädt die Lektüre des Buches dazu ein, tradierte Normvorstellungen über Sozialisation und Erziehung zu reflektieren und sich mit den in ihnen enthaltenen geschlechtsblinden und eurozentristischen Elemente auseinander zu setzen. Da ich diese Reflexion von impliziten Vorstellungen für einen kritischen, emanzipatorischen Umgang mit Heranwachsenden in Schulen und anderen Institutionen als notwendige Voraussetzung erachte, halte ich Nestvogels Buch in diesem Prozess für einen wertvollen Beitrag. Darüber hinaus zeigen die Texte auch auf, wie Frauen in unterschiedlichen Kontexten widerständig und um Selbstbestimmtheit kämpfend leben. So kann die (historische) Vorstellung von Frauen als passiven Opfern durchbrochen werden, die sich bis heute insbesondere in der Vorstellung vieler "westlicher" Frauen widerspiegelt, die "entsetzt sind über fremdkulturelle Kontrollformen, aber blind sind für die, die sie selbst verinnerlicht haben" (ebd., S. 320). Und es ließe sich ergänzen, blind für die handelnde und aktive Seite von Frauen in anderen kulturellen und ethnischen Kontexten sind.

Schließlich bietet Nestvogels Buch einen sehr differenzierten Einblick in die Literatur zu weiblicher Sozialisation und Geschlechterverhältnissen in verschiedenen Kulturen. Da alle Texte im deutschsprachigen Raum zur Verfügung stehen, stellt Nestvogels Arbeit damit über die theoretische Auseinandersetzung hinaus auch einen beeindruckenden Überblick über aktuelle und verfügbare Literatur auf diesem Themenfeld dar.

Zur Rezensentin:
Mag.a Gundula Ludwig, geb. 1979. Studium der Erziehungswissenschaften/ Kritische Geschlechter- und Sozialforschung in Wien, Innsbruck, Berlin und New Orleans. Zur Zeit Dissertationsstudium am Politikwissenschaftlichen Institut der Universität Wien


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