Nr. 16 / Oktober 2006
Diesmal hat es etwas länger gedauert, weil ich zu Semesterbeginn ziemlich im Stress war. Bitte um Entschuldigung! Heute möchte ich euch eine kleine Spielerei von mir vorstellen.
Mir ist aufgefallen, dass viele Probleme zu sehr ähnlichen Formeln führen:
Welche Seitenlänge hat das Quadrat, das man in ein rechtwinkeliges Dreieck mit den Katheten a und b einschreiben kann?
In der Zeichnung erkennt man die Proportion a : b = (a - x) : x. Daraus erhält man
x = ab/(a + b) bzw. 1/x = 1/a + 1/b.
Wenn zwei elektrische Widerstände R1 und R2 parallel geschaltet werden, ergibt sich der Gesamtwiderstand R nach der Formel
1/R = 1/R1 + 1/R2
(Ein Klick auf das Bild führt zu einem Wikipedia-Artikel mit genaueren Erklärungen.)
Ein Gegenstand wird von einer Sammellinse abgebildet. Man kennt die Brennweite f (den Abstand des Brennpunkts von der Linse) und die Gegenstandweite g (den Abstand des Gegenstands von der Linse). Die Bildweite b kann man dann nach der sogenannten Linsengleichung berechnen:
1/f = 1/g + 1/b
(Auch hier bitte das Bild anklicken!)
Die Erde braucht für einen Umlauf um die Sonne 365 Tage, der Mars 687 Tage. Nach welcher Zeit haben Erde und Mars wieder die gleiche Stellung zueinander?
Die Erde legt pro Tag 1/365 eines vollen Umlaufs zurück, der Mars 1/687. Die Erde gewinnt pro Tag also 1/365 - 1/687 ~ 1/779 eines Umlaufs Vorsprung. Nach 779 Tagen, also ca. nach 2 Jahren und 2 Monaten, hat sie den Mars einmal überrundet.
Allgemein ergibt sich für die sogenannte synodische Umlaufzeit eines Planeten die Formel
1/T = 1/T1 - 1/T2
(Das Bild - auch hier anklickbar - entspricht nicht den angegebenen Zahlen.)
Seifenblasen haben bekanntlich (wegen der Oberflächenspannung) immer Kugelform. Wenn zwei verschieden große Seifenblasen mit den Radien r1 und r2 zusammenhängen, nimmt die Trennwand auch die Form eines Kugelabschnitts (mit Radius r3) an, der sich etwas in die größere Blase hineinwölbt. Dort, wo die Seifenhäute zusmmenstoßen, bilden sie miteinander Winkel von 120° (weil die Spannungskräfte im Gleichgewicht sein müssen). Man kann zeigen, dass für die Radien gilt
1/r3 = 1/r1 - 1/r2
Dass diese Form wirklich optimal ist - das sogenannte double bubble theorem -, wurde übrigens erst 2000 bewiesen.
(Die Computergraphik stammt von der Homepage von Prof. John M. Sullivan.)
Und schließlich erinnert auch die Definition des harmonischen Mittels (siehe Mathe-Newsletter 14) an diese Formeln:
1/H(a,b) = 1/2·(1/a + 1/b)
Bei allen diesen Formeln werden Kehrwerte addiert. Das hat mich auf die Idee gebracht, diese Rechenoperation zu untersuchen. Ich nenne sie "Kehrwertaddition" und bezeichne sie mit # (weil ich dieses Zeichen sonst nicht brauche). Wir definieren also
bzw.
Beispiel: 3 # 6 = 2, weil 1/3 + 1/6 = 1/2.
Man kann leicht einsehen, dass # kommutativ und assoziativ ist. (Es ist
Während bei der normalen Adddtion die Summe größer ist als die einzelnen Summanden, gilt für die Kehrwertaddition
das Gegenteil:
Die obigen Formeln können wir jetzt kürzer so schreiben:
Rechenoperationen wie Addition und Multiplikation bezeichnet man auch als Verknüpfungen: zwei Zahlen werden miteinander verknüpft, und das Ergebnis ist eine neue Zahl - die Summe bzw. das Produkt. Sie haben einige Gemeinsamkeiten: Es gilt z.B. das Kommutativgesetz und das Assoziativgesetz. Es gibt ein Element, das nichts ändert: die 0 bei der Addition, die 1 bei der Multiplikation. Und jede Rechnung kann wieder rückgängig gemacht werden: +a durch +(-a), ·a durch ·1/a.
Diese Eigenschaften treten auch bei anderen Verknüpfungen auf. In der Algebra bezeichnet man so etwas als Gruppen und untersucht ihre Eigenschaften. So kann man Gemeinsamkeiten zwischen Strukturen feststellen, die auf den ersten Blick ganz verschieden aussehen.
Wir bezeichnen jetzt mit M irgendeine Menge und mit ◦ eine beliebige Verknüpfung. (M,◦) ist eine Gruppe, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
Nach dieser Definition sind z.B. (Z,+), (Q,+) und (R,+) kommutative Gruppen, ebenso wie (Q\{0},·) und (R\{0},·). Bei der Multiplikation muss man 0 auschließen, weil es dazu kein inverses Element gibt (1/0 ist nicht definiert). Weitere Beispiele für Gruppen sind die Restklassenaddition, die Restklassenmultiplikation modulo einer Primzahl (siehe Mathe-Newsletter 2), aber auch die sogenannten Symmetriegruppen, das heißt die Drehungen und Spiegelungen, die eine symmetrische Figur (z.B. ein Quadrat oder einen Würfel) auf sich selbst abbilden.
Wir wollen jetzt untersuchen, ob wir mit der Kehrwertaddition eine Gruppe erhalten. Dafür nehmen wir zu den reellen Zahlen noch das Element ∞ dazu. Die Vereinigungsmenge von R und {∞} heißt erweiterte reelle Zahlen (oder Einpunktkompaktifizierung von R); wir bezeichnen sie mit R*. Wen die Vorstellung einer unendlich großen Zahl stört, der kann die Zahlengerade auf den Einheitskreis projizieren; dem Punkt ∞ entspricht dann der "Nordpol" des Kreises:
Jetzt können wir untersuchen, ob die Gruppeneigenschaften zutreffen.
Allerdings gibt es zu 0 kein inverses Element, denn wir haben oben gesehen, dass a # 0 immer 0 ergibt. Wir müssen daher die 0 ausschließen. Das ist aber kein Problem, denn wir haben auch gezeigt, dass a # b nie 0 wird, wenn a und b von 0 verschieden sind. Es ist also auch die Menge R*\{0} gegenüber der Kehrwertaddition abgeschlossen.
Damit haben wir bewiesen:
(R*\{0}, #) ist eine kommutative Gruppe.
Vielleicht findet ja jemand noch mehr Anwendungen für diese Rechenoperation!
Alles Gute bis zum nächsten Mal
Jutta
E-mail: gut.jutta.gerhard@chello.at