Überlegungen zum österreichischen Deutsch und zur österreichische Identität

 

© H-D. Pohl 1999 (2016)

 

Erschienen in: Kärntner Jahrbuch für Politik 1999 (S. 71-103)  [geringfügig überarbeitet]

(= SchriftenVerzeichnis Nr. 198)

 

Aktualisierung vorgesehen

In meinen später erschienenen Beiträgen zum österreichischen Deutsch habe ich mich zur Frage der österreichischen Identität nicht mehr näher geäußert, zu 3- 6  siehe die aktuelleren unter  OesterrDeutsch.htm zitierten Publikationen (v.a. Pohl_OeDt_KBS.pdf), zur Sprache der österreichischen Küche Kueche1.htm  

 

Inhalt: 1. Österreichische Nation und österreichische Identität. – 2. Über das „Nicht-Deutsch-Sein“ bzw. „Nie-Deutsch-Gewesen-Sein“ der Österreicher. – 3. Mythen und Tatsachen über das österreichische Deutsch. – 4. Zur Diskussion um das österreichische Deutsch. – 5. Die Eingebundenheit Österreichs in den deutschen Sprachraum. – 6. Thesen zum österreichischen Deutsch. – 7. Ausblick.Fußnoten des Originals blau in den Text eingefügt.

 

 

 

Was den Österreicher vom Deutschen

trennt, ist die gemeinsame Sprache.“

Weit verbreitete und häufig kolportierte Ansicht in Österreich, die vielfach Karl Kraus zugeschrieben wird

(vgl. u.a. Holzheimer 1997:139, Wodak 1994:26 u. Holzer 1995:160, 2005:165),

aber auf Karl Farkas zurückgeht, der George Bernhard Shaws Ausspruch

England and America are two countries divided by a common language“ auf Österreich und Deutschland umgemünzt

und nachweislich in seinen Kabarett-Programmen verwendet hat (vgl. Sedlaczek 2004:17)

 

1. In den letzten Jahren – nicht erst seit dem EU-Beitritt Österreichs – wurde die Frage nach der österreichischen Identität immer wieder neu gestellt. Etwa seit der Zeit, in der die deutsche Wiedervereinigung Realität wurde, gibt es in Österreich Diskussionen darüber, wie „deutsch“ Österreich ist, was auch in mehreren Buchtiteln von Neuerscheinungen zum Ausdruck kommt, wie z.B. (eher sachlich) „Zur österreichischen Identität. Zwischen deutscher Vereinigung und Mitteleuropa“ (Pelinka 1990) oder (eher provozierend) „Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis (Rathkolb u.a. 1990) sowie (vom Titel her neutral, im Inhalt aber emotional [nach Bruckmüller 1996:59 „gescheit und temperamentvoll“ (s. folg. Anm.)]) „Verfreundete Nachbarn. Österreich – Deutschland. Ein Verhältnis“ ( Holzer 1995. – Mit Wissenschaft hat dieses Buch von allen genannten am wenigsten zu tun. Viele Aussagen sind entweder unrichtig oder „halbe Wahrheiten“ (vgl. 3). Diesem (sehr persönlichen, sicher lesenswerten und zum Nachdenken anregenden) Buch ist eine übertriebene Aufmerksamkeit geschenkt worden, wenn es im Österreich Lexikon unter dem Stichwort Deutschland – Österreich (Bd. I, S. 215-217) als einziger (sic!) Literaturhinweis genannt wird.). Auch der Begriff der „österreichischen Nation“ ist wieder des öfteren Gegenstand sehr emotional geführter Diskussionen – nicht erst, als ein österreichischer Politiker von einer „ideologischen Missgeburt“ sprach (FP-Obmann Jörg Haider im ORF (Inlandsreport, 18.8.1988). Eine solche Formulierung ist grundsätzlich abzulehnen. Man sollte aber versuchen, sie in einem größeren Zusammenhang zu sehen: Haider wollte damit in erster Linie auf den von einem Teil der Theoretiker der Österreichischen Nation betriebenen ideologischen Bruch in der gemeinsamen deutschen Geschichte anspielen (genauer Wortlaut in DÖW 1993:373, vgl. auch 2), wobei er allerdings übersieht, dass die Neukonstituierung der Österreichischen Nation sicher keine „ideologische Konstruktion“ oder „Erfindung“ war, sondern die einzig logische Folge der Ereignisse 1938-1945), was wiederum Artikel wie „Geburtsstunde der Mißgeburt – Die Wurzeln des österreichischen Pangermanismus – wie deutsch ist Öster­reich?“ (Th. Pluch, „Wiener Zeitung“ 9.3.1990) evozierte, in denen die „Mischvolk“- bzw. „Schmelztiegel“-Theorie  (dazu vgl. 2) mit dem Wiener Telefonbuch als Kronzeugen bemüht wird. Wenn es um die österreichische Identität bzw. Nation geht, sollte man sich emotionslos unter Hintanstellung persönlicher ideologieträchtiger Vorurteile diesen Begrifflichkeiten nähern, um jede Einseitigkeit zu vermeiden, denn weder die Überbetonung des deutschen noch die des nicht-deutschen Elements – obwohl beide konstitutiv sind – bringt uns einer Lösung näher. Wissenschaftlich beleuchtet dieses Problem der Wiener Historiker Ernst Bruckmüller in seiner Monographie „Nation Österreich – Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse“ (Bruckmüller 1996); dieses Buch ist geschichtswissenschaftlich eines der besten zum Thema, soweit ich dies beurteilen kann, doch es weist auch Defizite auf (auf diese wird im Laufe meiner Abhandlung hingewiesen,  vgl. 2).

Die Existenz einer „österreichischen Nation“ ist­ heute ein Faktum, an dem nicht zu zweifeln ist. Der Hundertsatz von Österreichern, die sich als ­eigene Nation verstehen, ist zwischen 1956 und 1989 von an die 50% auf fast 80% gestiegen (aber 1990 leicht abgesunken); während der Anteil der „Gegner“ von über 45% auf rund 6% gefallen ist, wozu noch eine Gruppe kommt, die zumindest den Beginn eines österreichischen Nationalbewusstseins wahrnimmt (seit 1970 kontinuierlich unter 20%, allerdings mit Schwankungen [Angaben nach Pelinka 1990:17; nach Bruckmüller 1996:65-70 lehnten 1987 nur 5% bzw. 1993 nur 6% eine eigenständige österreichische Nation ab. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass selbst 77% der FPÖ-Sympathisanten 1987 bzw. 71% 1993 der Meinung waren, Österreich sei eine Nation (nur 7%, also nicht signifikant mehr als der Durchschnitt, meinten 1987 keine eigene Nation zu sein, 1993 aber doch immerhin 13%). Bei den anderen Parteien lag 1987 die Zustimmung zwischen 73% und 82%, die Ablehnung zwischen 3% und 6%. Der „Staatsnation“ wurde dabei mit 73-81% der Vorrang gegeben, gegenüber „Sprachnation“ mit nur 18-22% – Indikator dafür, dass das Bewusstsein in Österreich, einerseits „deutschsprachig“ zu sein, andererseits ein anderes Deutsch zu sprechen als in den meisten deutschen Bundesländern, zumindest keine sehr große Rolle spielt (wie dies auch De Cillia 1995b:11f. feststellt, auch in späteren Arbeiten). – Bemerkenswert erscheinen mir die Daten des österreichischen Nationalstolzes, immerhin waren 1993 – aus welchen Gründen auch immer – 61% „sehr stolz“, Österreicher zu sein, was nur von den Amerikanern (USA) mit 87% übertroffen und den Engländern (Großbritannien) mit 58% fast erreicht wird, während sich die Franzosen  mit 42%, die Schweiz mit 31% und Deutschland mit gar nur 21% begnügen müssen (Angaben nach Bruckmüller 1996:69f.)]). Ein Ergebnis übrigens, mit dem man zufrieden sein kann und welches mehrere Interpretationen zulässt, deren schwerstwiegende der Umstand ist, dass die überwältigende Mehrheit der Österreicher sich zu dem Staat bekennt, in dem sie lebt, wobei mit dieser Feststellung die Frage nach der österreichi­schen Identität noch nicht beantwortet ist. Bevor wir uns dieser zuwenden, wollen wir uns die Frage stellen, wie die Nation, die die österreichische ist, zu definieren ist. Hier wollen wir einen Blick in Benedict Anderson Die Erfindung der Nation – Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts“, den „Klassiker“ zum Thema werfen. Er sagt zunächst, begrifflich sei der „Nationalismus“ nicht wie „Liberalismus“ oder „Faschismus“ zu betrachten, sondern wie „Verwandtschaft“ oder „Religion“ und definiert die Nation dann (Anderson 1998:14-16):

Sie ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.

„Vorgestellt“ sei sie deswegen, weil ihre Mitglieder die meisten anderen zwar nicht kennen, aber dennoch existiere im Kopf eines jeden die Vorstellung von ihrer Gemeinschaft, „begrenzt“ ist sie, da es einerseits sehr viele davon gibt und andererseits  sich keine Nation mit der ganzen Menschheit gleichsetzt, „souverän“ ist sie, da Maßstab und Symbol der nationalen Freiheit der souveräne Staat ist, und eine „Gemeinschaft“ ist sie, da sie als kameradschaftlicher Verbund von Gleichen verstanden wird. Dies wollen wir nun versuchen, mit dem allgemeinen Sprachgebrauch in Beziehung zu bringen. Hier ist zunächst festzuhalten, dass­ laut „Deutschem Universalwörterbuch“ (Dudenverlag, Mannheim-Wien-Zürich 1989:1063, gleichlautend in der neuesten Auflage) eine Nation eine „große, meist geschlossen siedelnde­ Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur, die ein politisches Staatswesen bilden“ repräsentiert. In Wahrigs Fremdwörter­lexikon (München, Bertelsmann 1983:496) kommt noch der bemerkenswerte Zusatz „bewusst oder gewollt geformte politische Gemein­schaft“ hinzu. Entscheidend ist­ also der gemeinsame Wille, dass alle (oder zumindest die überwältigende Mehrheit der) Österreicher in einem unabhängigen Staat leben wollen, also eine „Willensnation“ bilden (Bruckmann 1989:145), die als „eine mit dem Heimatgedanken eng verknüpfte, unkomplizierte, positive Staatsgesinnung, unterstützt durch politischen Realismus, erstarkt und... gefestigt“ zu betrachten ist (Zöllner 1988:96).

Auf das moderne Österreich bezogen, ist Andersons Definition der Nation leicht anzuwenden: „vorgestellt“ als Staat mit eigener staatlicher Tradition, der von der „Gemeinschaft“ seiner Staatsbürger als „souverän“ und „begrenzt“ – relativ zum gesamten deutschen Sprachraum – gesehen wird. Dies steht nicht zwangsläufig in Widerspruch mit dem Begriff der „Kulturnation“, deren Verfechter meist jedoch die „Sprachnation“ meinen (vgl. Bruckmüller 1996:314f.,  mit (sprachwissenschaftlich gesehen) problematischen Aussagen, vgl. 2). Dieser letztlich auf Herder zurückgehende Nationsbegriff bedeutet „Volk gleicher Zunge, daher Volk gleicher Kultur“, also sind alle Deutschsprachigen als Teil der deutschen Kulturnation zu sehen. Diesen Gedanken wollte man im 19. Jhdt. auch politisch umsetzen, nämlich um im Rahmen des „Deutschen Bundes“ einen deutschen Nationalstaat (selbstverständlich unter Einschluss Österreichs, aber ohne die Schweiz, die längst aus dem 1806 erlosche­nen Römisch-Deutschen Kaiserreich ausgeschieden war) zu begründen. Die Verwirk­lichung dieser Idee scheiterte am unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den beiden deutschen Großmächten Österreich und Preußen. 1866 bedeutete das Hinausdrängen Österreichs aus dem Deutschen Bund und die Weichenstellung für die weitere Entwicklung. 1871 wurde dann der deutsche Nationalstaat als „Deutsches Reich“ gegründet – ohne Österreich. Für Österreich bedeutete dies den Beginn einer eigenständigen Entwicklung, allerdings nicht in dem Sinne, dass man (sich) nicht mehr „deutsch“ fühlte, sondern dass man sich gegenüber den Preußen sogar als die besseren Deutschen betrachtete (Zöllner 1988:88) und so blieb es bis 1938. Auch die führenden Politiker der Ersten Republik bejahten durchaus die Zugehörigkeit der (deutschsprachigen) Österreicher zum deutschen Volk (auch der Bundeskanzler Kurt Schuschnigg sprach von einem „freien und deutschen, unabhängigen und sozialen, christlichen und einigen Österreich“), doch wenn man sich von Deutschland politisch abgrenzte, bedeutete dies kein Absetzen vom Deutschtum, sondern vom Preußentum, und ab 1933 vom Nationalsozialis­mus.

Die Idee der politischen Vereinigung der österreichischen Deutschen mit dem Reich blieb auch nach 1866/1871 lebendig, sie wurde aktualisiert 1918, aber durch die Friedensverträge von Versailles und St. Germain vereitelt und erst unter den denkbar ungünstigsten Voraussetzungen 1938 tatsächlich verwirklicht. Doch gleichzeitig bedeutete dieses Jahr auch einen Wendepunkt: die Realität der „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“, wie man den „Anschluss“ offiziell nannte, entsprach nicht den Träumen und Sehnsüchten des „Restes“ der Österreich-Ungarischen Monarchie. Die Menschen wollten Arbeit, Wohlstand und sicherlich auch Genugtuung für die als ungerecht empfundenen Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg, jedoch keinen Krieg und schon gar nicht die wahren Ziele des Nationalsozialismus. Und am al­lerwenigsten wollten die Österreicher von Berlin oder Preußen aus regiert werden. So entwickelte sich schon vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges so etwas wie ein österreichisches Sonderbewusstsein, zumal der Name „Österreich“ aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde (Die Auslöschung des Namens Österreich durch die Nationalsozialisten ist von den österreichischen Nazi übrigens nicht widerspruchslos hingenommen worden (vgl. Zöllner 1988:81 und Anm. 178 mit Lit.) und ist wohl u.a. (neben Adolf Hitlers gestörtem persönlichen Verhältnis zu Wien und Österreich) als Nachspiel zur Auseinandersetzung zwischen Österreich und Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland zu sehen, die zwar bekanntlich seit 1866 entschieden war, doch im totalitären „Dritten Reich sollte mit der Bezeichnung Ostmark jede Erinnerung an Österreichs essentiellen Anteil an der deutschen Geschichte so weit wie möglich getilgt werden. Für ein Kernland des alten (modern ausgedrückt: föderalistischen) „Reiches“ ist die Bezeichnung „Ostmark onomastisch gesehen eine Demütigung und Herabwürdigung, denn „die östlichen Marken des hochmittelalterlichen Reiches waren sehr entwicklungsfähige Gebilde; das gilt für die Mark Österreich ebenso wie für die Mark Brandenburg, die Keimzelle des preußischen, und die Mark Meißen, jene des sächsischen Staatsgebildes (Zöllner 1988:16f.). Ein Land – bereits Herzogtum seit 1156 unter den Babenbergern –, das die „Hausmacht der Habsburger war, die durch mehrere Jahrhunderte deutsche Könige bzw. römische Kaiser stellten und zuletzt selbst „österreichische Kaiser waren, im 20. Jhdt. zur Ostmark zu degradieren, zeugt vom gestörten Geschichtsbild der Machthaber des Jahres 1938. – Dass nicht die Nazi allein in der Ersten Republik ein Monopol auf diesen Begriff hatten, beweisen die 1930 in Innsbruck als Gegengewicht zur Heimwehr gegründeten „Ostmärkischen Sturmscharen“, deren „Reichsführer“ niemand geringerer als der spätere Bundeskanzler Kurt Schuschnigg  war (vgl. Österreich Lexikon II 164).).

Als Österreich 1945 nach der Katastrophe wiedererstand, war die Abwendung von der Anschlussidee im Denken der Mehrzahl der Österreicher bereits vollzogen, eine Distanzierung vom Deutschtum ein politische Notwendigkeit (vgl. Zöllner 1988:93). Diese war allerdings oft skurril, so wurde das Schulfach „Deutsch“ zur „Unterrichtssprache“, ein „Österreichisches Wörterbuch“ trat an die Stelle der „Regeln für die deutsche Rechtschreibung nebst Wörterverzeichnis“, und wenn es opportun war, wurden aus nicht-österreichischen Deutschen Österreicher (z.B. Mozart und Beethoven) und man verstand es hervorragend, die in die NS-Verbrechen involvierten Österreicher „auszubürgern“. Man gefiel sich in der Rolle des „Opfers“, und legte damit den Grundstein für spätere Auseinandersetzungen (z.B. die Waldheim-Diskussion). Jedenfalls ist seit damals das Verhältnis Österreichs zu seiner deutschen Vergangenheit gestört, was auch daran zu erkennen ist, dass deutschnational bzw. großdeutsch gesinnte Österreicher, die das Jahr der „Machtergreifung“ und auch den „An­schluss“ gar nicht erlebt haben, posthum zu NS-Vorkämpfern erklärt wurden, wie z.B. Ottokar Kernstock, der Schöpfer der Bundeshymne der Ersten Republik. Aber auch denjenigen, die zwar zunächst die Anschlussidee vertraten, aber sich spä­ter wieder distanzierten, und selbst solche Personen, die sich mit den NS-Behörden überwarfen, hängt ihr Verhalten als „Erbsünde“ nach; zwei große Kärntner seien hier genannt: Josef Friedrich Perkonig und Hans Steinacher.

Allzu leichtfertig verbindet man in Österreich jedes deutsche Bekenntnis mit negativen Implikationen mit „rechtsradikal“, „antiösterreichisch“, „undemo­kratisch“, „neonazistisch“, „faschistisch“ usw. (nach Scheuringer 1993 Teil der österreichischen „Absetzungsstrategien“ vom Deutsch-Sein; zuletzt auch als „rückwärtsgewandt“ bezeichnet, so unlängst die ehemalige wissenschaftliche Leiterin des DÖW B. Bailer in ihrer Kritik am Handbuch freiheitlicher Politik“ unter: http://derstandard.at/2000047805924/Die-FPOe-und-ihr-Handbuch-fuer-Extremismus). Es ist klar, dass eine politische deutsch(national)e Gesinnung in Österreich mit unserem Nationsbegriff unvereinbar ist, aber sich­ als „Deutscher“ im Sinne der „Kulturnation“ zu betrachten, muss in einem demokratisch-liberalen­ Rechtsstaat ohne Sanktionen möglich sein – auch wenn das Konzept der „Kulturnation“ heute als überholt zu betrachten ist (s.u.). Damit kommen wir zum ersten Punkt der österreichischen Identität. Sie ist historisch gewachsen und politisch gesehen keine deutsche Identität, geprägt durch die Wiedererrichtung der Republik Österreich nach dem Zusammenbruch­ des „Dritten Reiches“ (1945) und durch den Staatsvertrag von 1955. Im Werden dieser Identität spielte die österreichische Neutralität eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ein Teil dieser österreichischen Identität wurde auch das Prinzip „small is beautiful“ (so auch Pelinka 1990:146ff.), in das Österreich im 20. Jhdt. zunächst unfreiwilig, dann aber ganz bewusst hineingewachsen ist.

Übrigens, auch die politische Identität der in Österreich lebenden Minderheiten, z.B. der Kärntner Slowenen, ist eine „österreichische“ (vgl. dazu Bogataj 1989:370ff.), auch sie leben nach dem Prinzip „small is beautiful“ (so Bogataj 1989:373). Beide, deutschsprachige Mehrheit und slowenisch­sprachige Minderheit, leben in Kärnten im Spannungsfeld zwischen politischer österreichischer Identität und dem größeren Raum der jeweiligen Kulturnation. Doch die Identität eines Volkes, oder allgemeiner, einer Gemeinschaft von Menschen, die einen Staat­ bilden, erschöpft sich nicht auf politischer Ebene. Zwar ist diese der Endpunkt vielschichtiger historischer Prozesse, die das politische Bewusstsein geprägt haben, das auch Veränderungen unterlie­gen kann, wie dies das Beispiel unserer südlichen Nachbarn, der Slowenen, zeigt. Zuerst Bekennt­nis zum Habsburgischen Österreich, dann zu Ju­goslawien I und II, und schließlich Aufkommen eines neuen politischen Bewusstseins: Ausstieg aus einer größeren politischen Einheit und nationale Unabhängigkeit – ein weiterer Fall von „small is beautiful“. Doch die ethnische Identität stand nie zur Diskussion: diese war immer slowenisch – und von der Sprache her bestimmt. Damit ist die Spra­che ein weiteres, elementares identitätsstiftendes Merkmal, und es ist kein Zufall, dass die Bezeich­nungen für Sprachen oft älter sind als die der ent­sprechenden Völker. So bedeutet „deutsch“ ur­sprünglich „zum eigenen Volk gehörig“, bezogen auf die germanische Volkssprache im Ostfränki­schen Reich im Gegensatz zur romanischen im Westfränkischen Bereich. Da die deutschsprachi­gen Österreicher aus den germanischen Stämmen der Alemannen und Baiern hervorgegangen sind, die wiederum zu den „die Deutschen“ konstituie­renden, auch jenseits der heutigen Staatsgrenze verbreiteten Stämmen gehören, sind sie Teil der deutschen Kulturnation im Herder’schen Sinne, also ethnisch und sprachlich Deutsche, die poli­tisch allerdings Österreicher sind. Die Zugehörig­keit zur deutschen Kulturnation ist also das zwei­te Standbein der österreichischen Identität. Wür­de man die österreichischen Deutschen ethnisch als „Österreicher“ bezeichnen, schlösse man die altösterreichischen Minderheiten aus dem Öster­reich-Begriff aus. Die Kärntner Slowenen sind nämlich historisch und politisch ebenso Österrei­cher wie die deutschen Kärntner, durch beider Siedlungs- und Sprachgebiete sind nach dem Ersten Weltkrieg schmerzlich empfundene Grenzen gezogen worden, wobei Kärnten ein Sonderfall war: die Grenzziehung wurde einer Volksabstim­mung unterworfen; immerhin hat auch ein großer Teil der Slowenen Kämtens (ca. 40%) dem Österreich­-Gedanken, repräsentiert durch ein ungeteiltes Bundesland, den Vorrang vor dem gemeinsamen SHS-Staat gegeben.­

Somit ist die österreichische Identität der schwei­zerischen nicht unähnlich:

Der Deutsch-Schwei­zer fühlt sich mit derselben Selbstverständlichkeit als Schweizer, mit der wir uns als Österreicher fühlen. Dennoch wird er sich mit derselben Selbst­verständlichkeit als Deutscher, im Herderschen Sinne, fühlen, als Angehöriger jenes Kulturkrei­ses, der einen Goethe, einen Gottfried Keller und einen Grillparzer hervorgebracht hat. Es ist dies nicht einmal die Frage eines Bekenntnisses, son­dern nur des Bewußtseins einer simplen Tatsache. Für den Deutsch-Schweizer besteht darin kein Gegensatz, kein Widerspruch, sondern es handelt sich für ihn einfach um zwei unterschiedliche Ebenen“ (vgl. Bruckmann 1989:145).

Die Randlage im deutschen Sprachgebiet und mannigfache kulturelle Beziehungen zu den Nach­barvölkern sowie die in früheren Zeiten im Zuge der Eingliederung des heutigen Sprachgebietes ins Ostfränkische Reich erfolgte Durchmischung mit der vordeutschen Bevölkerung hat einen beson­deren schweizerischen bzw. öster­reichischen Typ im Rahmen der deutschen Kulturnation hervorge­bracht, was mutatis mutandis auch für den Rhein­länder, den Brandenburger, den Sachsen usw. gilt. Aber der „österreichische Mensch“ (dieser wurde schon in den 20er Jahren unseres Jhdts. kreiert (Scheuringer 1993), in erster Linie auf der Wiener „Multikulturaltät“ aufbauend und den österreichischen Westen vernachlässigend) ist weder in seinen Lebensgewohnheiten noch in seiner Sprache einförmig, es gibt ein deutliches Ost-/West- und Ost-/Südost-Gefälle. Man ist allzusehr geneigt, was für­ Wien typisch ist, auf ganz Österreich auszudehnen. Deutsch ist eine plurizentrische Sprache, so­wohl im großen als auch im kleinen, das­ österreichische Deutsch ist keine absolute Einheit, sondern

Teil eines sprachlichen Kontinuums von Osten nach Westen und von Süden nach Norden und steht in wechselnden Beziehungen zum süd­deutschen und Schweizer Raum. Viele der sogenannten österrei­chischen Besonderheiten sind auch in der Schweiz und im bayrischen und ale­mannischen Süden Deutschlands verbreitet“ (vgl. Walla 1992:174),

und wie wir im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft unsere kulturelle und sprachliche bzw. „nationale“ Identität wahren werden, liegt an uns selbst.

2. Die Verleugnung unserer deutschen Herkunft in ethnischer, sprachlicher und historischer Hinsicht sowie die Überzeichnung unserer „multikulturel­len“ Wurzeln ist m. E. der falsche Weg, ganz abgesehen davon, dass dies nur auf Wien und bis zu  einem gewissen Grad auch auf Kärnten (und das Burgenland) zutrifft, aber nicht auf die westlichen Bundesländer (wie dies Scheuringer 1992:171 u. Anm. 22 treffend feststellt). Wenn auch in der österreichischen Kultur die Vielfalt der alten Habsburger Monarchie fortlebt, darf nicht vergessen werden, dass diese letztlich doch eine Spielart der deutschen geworden ist, die Zeugnis von der assimilatorischen Kraft des Deutschtums ablegt und die ihren Höhepunkt erst in der Ersten Republik erreichte, als die Neuziehung der Grenzen das Ende der tatsächlichen österreichischen Vielfalt einleitete. Hand in Hand ging damit auch der Rückgang der Minderheiten – alles in allem eine bedauerliche Entwicklung. Auch die „Schmelztiegel“-Theorie verschleiert und verklärt die wahren Verhältnisse und verstellt den Blick auf die entscheidenden Komponenten, ganz abgesehen davon, dass auch die gesamtdeutsche Kultur vielschichtig ist (man denke z.B. an den jüdischen Anteil in der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte).

Hat man die historisch bedingte Verwobenheit der Völker unserer Region vor Augen, stellt sich mit Recht die Frage, was „national“ heute für eine Bedeutung hat. Ein (natürliches) Nationalbewusstsein sollte kein biologisch zu begründendes Bekenntnis nach der „Abstammung“ (es sei mir gestattet zu bemerken, dass sowohl der „deutsch-germanische“ als auch der „Misch­volk-“ bzw. „multikulturelle“ Abstammungsmythos ideologisch bestimmt und rassistisch fundiert ist. Daran ändert auch die Metapher von der „historisch gewachsenen ethnisch-sprachlichen und kulturellen Pluralität Österreichs“ nichts (vertreten u.a. von Moritz Csáky, zitiert nach DÖW 1993:553 mit Lit., denn das Wort „Pluralität“ meint „Vielheit“, eine davon muss im Falle Österreichs das deutsche Element sein, das vielfach vernachlässigt wird). Diese wurde nämlich abrupt 1918 beendet, sie für die heutige österreichische Identität zu strapazieren ist genau so verfehlt wie diese mit der großdeutschen Idee zu verknüpfen. Beide Vorstellungen hatten einst ihre Gefolgschaft, heute, auf dem Weg ins vereinte Europa, sind beide obsolet geworden. In Wirklichkeit wird man hier eine sprach- und kulturdeutsche Identität mit einer pluralistischen mitteleuropäischen zu kombinieren haben, aber den Bundesdeutschen eine „westeuropäisch-deutsche Identität“ und im Gegensatz dazu den Österreichern eine „mitteleuropäisch-österreichische“ zuzuschreiben, ist kontraproduktiv (z.B. am 2.9.1992 Johann Marte, damals Leiter der Sektion III des Wissenschaftsministeriums in der Tageszeitung „Salzburger Nachrichten“, zitiert nach Scheuringer 1993)), sondern ein offenes, nach seinen historisch-kulturellen Wurzeln gerichtetes sein. „Deutsch“ sind wir nach der Sprache, allerdings ist heute das Konzept der „Kulturnation“ – als Definition der Nation von der Sprache her, daher auch „Sprachnation“ – überholt, wenn auch die Sprachgemeinschaft nach wie vor ein mächtiger Bezugspunkt ist und unter günstigen Bedingungen den Rahmen des Nationalbewusstseins zu liefern in der Lage ist und in der Folge konstitutiv für die Gründung eines Nationalstaates werden kann, wie wir es in letzter Zeit mehrmals erlebt haben (friedlich im Falle Tschechien und der Slowakei, nicht aber z.B. Slowenien und insbes. bei Kroatien und Bosnien-Herzegowina). Doch weder das Österreich des Jahres 1918 noch das des Jahres 1945 war ein „Nationalstaat“, entscheidend war in der Hauptsache – neben den zeitbedingten Rahmenbedingungen – die eigenstaatliche Tradition, daher kann es für Österreich nur eine Doppelidentität geben, eine von der Eigenstaatlichkeit geprägte und durch das Landesbewusstsein ergänzte österreichische und eine durch Geschichte und Sprache ererbte deutsche Identität (bei unseren slowenischen [usw.] Mitbürgern freilich slowenische [usw.] Identität), die sich beide in größeren historisch-kulturellen Zusammenhängen verflechten, rückblickend im Rahmen des alten Reiches und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, zukunftsweisend im zusammenwach­senden Europa. Dieses kann aber nur ein „Europa der Völker und/oder Regionen“ sein, in dem jeder weiß, wer er ist. Ein nationales Bekenntnis wird auch in Zeiten der „Globalisierung“ seine Bedeutung nicht verlieren.

Die Eigenstaatlichkeit Österreichs hat unbestritten Besonderheiten in der Alltagskultur und im Sprachgebrauch mit sich gebracht, obwohl der kulturelle Austausch zwischen den deutschsprachigen Ländern immer funktioniert hat und auch immer sehr rege war (wenn man von der unmittelbaren Nachkriegszeit und der zeitweiligen Isolation der DDR absieht), wofür u.a. die wirtschaftliche und mediale Verflechtung und Rufe von Österreichern an deutsche Universitäten und umgekehrt ein beredtes Zeugnis ablegen, ohne dass deswegen jemals die österreichische Identität gestört worden wäre oder gar das Bekenntnis zur österreichischen Nation. In gewissen Kreisen macht sich aber in Österreich die Angst vor der „Vereinnahmung“ (Ich glaube nicht, dass das Wort „Vereinnahmung“ in diesem Zusammenhang angebracht ist. Von vielen Österreichern werden die heutigen Vorstellungen kritiklos ins 19. Jhdt. zurückprojiziert, so, als ob wir immer schon (bloß deutschsprachige) „Österreicher“ gewesen wären, und keine „Deutschen“. Die deutsche und österreichische Geschichte verlief mindestens bis zur Gründung des Bismarck-Reiches 1871 und längstens bis 1945 gemeinsam, die „österreichische“ Geschichte ist bis 1918 eine des Hauses Habsburg bzw. eine Geschichte der einst im Reichsrat vertretenen Länder und erst seit 1945 eine österreichische „Nationalgeschichte“. Auch die Subsumierung der österreichischen Literatur unter dem Begriff „deutsche Literatur“ bedeutet m.E. keine „Vereinnahmung“, solange man diese analog zu „deutsche Sprache“ als „Literatur in deutscher Sprache“ interpretiert) durch den deutschen Nachbarn breit, z.B. bezüglich eines Museums für deutsche Geschichte in Berlin, wo die österreichische Geschichte von 1806–1945 als „deutsche“ Geschichte dargestellt werden soll (vgl. Bruckmüller 1996:55 mit Lit. – Zur Frage der „Vereinnahmung“ und ihrer Rolle in der österreichischen „Kulturbürokratie“ vgl. auch Scheuringer 1993). Den Kollegen, die solche „Ängste“ artikulieren, sei aber empfohlen, die Frankfurter Paulskirche zu besuchen, wo eine ständige Ausstellung über die Revolution von 1848 informiert – unter Einschluss der Ereignisse in Österreich, u.a. die Wahl des Österreichers Erzherzog Johann zum deutschen Reichverweser am 29. Juni 1848 durch die gesamtdeutsche Frankfurter Nationalversammlung (ein Akt der „Vereinnahmung“?). Von „Vereinnahmung“ sprach man zuletzt, als Österreich mit Deutschland unlängst für eine Aufwertung des Deutschen in der EU eintrat. Beide Staaten blockieren dabei alle informellen Ministerräte der finnischen Präsidentschaft, bei denen Deutsch als Amtssprache nicht zugelassen wird. Immerhin ist Deutsch die größte Sprachgemeinschaft in der EU (und nach Russisch zweitgrößte in Europa). Erfreulicherweise sagte der österreichische EU-Botschafter Manfred Scheich (nach einem Bericht der Tageszeitung „Die Presse“ vom 16.7.1999):

Diese Sicht [dass Österreich sich hier vom großen Nachbarn habe vereinnahmen lassen] zeugt von mangelndem Selbstbewußtsein. Unsere Interessen laufen hier mit den deutschen ganz parallel.

Unbestritten ist eine solche Sicht allerdings nicht, in einem Leserbrief (mit dem bezeichnenden Titel „Englisch ist immer noch die am besten verstandene Sprache der Welt sprach sich der Generalsekretär der Österreichischen UNESCO-Kommission, Harald Gardos, vehement gegen eine (wie er es nannte) „deutsche Großmacht-Sprachpolitik“ aus, unter anderem mit dem Hinweis, dass z.B. in Wien der Unterschied zwischen ich gehe nach Hause und i geh ham mindestens so groß sei, als der zwischen Hochdeutsch und englisch I go home (in der Tageszeitung „Die Presse“ vom 17/18.7.1999).

Die vom Historiker Gerald Stourzh (und anderen) so gesehene „Tendenz zu einer Wiedervereinnahmung“ Österreichs (zitiert nach Bruckmüller 1996:55) führte zu der großen Aufregung über Erdmanns Drei-Staaten-Theorie in „Drei Staaten – zwei Nationen – ein Volk(= Erdmann 1989 (ähnlich bereits in einem Vortrag 1985). Vgl. dazu Bruckmüller 1996:53f. mit Lit. (insb. Anm. 54) gegen Ende der 1980er Jahre. Diese stellt zwar den eigenen Weg Österreichs nicht in Abrede und versteht „Volk“ v. a. als historische, sprachlich-kulturelle Gemeinschaft (vgl. Zöllner 1988:95), schließt aber die deutsche Schweiz (seit 1648 außerhalb des Reiches) aus; daher haben manche österreichische Politiker und Historiker recht heftig reagiert, denn Österreich versteht sich seit 1945 nicht mehr als „deutscher Staat“, weder als „zweiter“ noch als „dritter“ (vgl. u.a. Scheuringer 1992:169, inbes. Anm. 14). Die oft recht gereizten Reaktionen erklären sich m.E. daraus, dass sich das offizielle Österreich bis heute nicht dazu durchringen konnte, seine essentielle Teilnahme an der deutschen Geschichte bis 1945 anzuerkennen (so pointiert Scheuringer 1992:171), mit ihren guten, aber auch schlechten Seiten, denn an beiden hat Österreich Anteil (zur Kritik an Erdmann vgl. Bruckmüller 1996:53ff. mit Lit.). Dieser Umstand ist eben auch eine Facette der österreichischen Identität.

Da man nicht „deutsch“ sein will (und es subjektiv gesehen auch nie war), haben sich auch in der österreichischen Wissenschaft viele Mythen entwickelt, die mit „Wissenschaft“ im engeren Sinn des Wortes nichts mehr zu tun haben. Wieso in einem Land, in dem (1993) mit Deutschland „die größte innere Verwandtschaft“ von allen Nachbarländern gesehen wird (61%, nach Ungarn mit 22%) und wo Deutschland hinsichtlich Sympathie unter den Nationen den Spitzenplatz einnimmt (29%, gefolgt von der Schweiz mit 22% – alle Angaben nach Bruckmüller 1996:136 u. 138), eine derart anti-deutsche (Zeit-) Geschichtsschreibung eine so große Verbreitung (und Dominanz!) finden konnte, ist bei der ideologischen Verschiedenheit ihrer Exponenten schwer zu beantworten. Einige solcher Mythen möchte ich hier kurz vorstellen, z.B. einen auf den Grazer Historiker Moritz Csáky zurückgehenden, vom Germanisten Hermann Scheuringer (Wien – Passau = 1992:171 u. Anm. 22 mit Lit.) treffend kommentierten Zeitungsleserbrief:

Hierzu auch das im Rahmen der zeitgeschichtlichen Diskussion um das ‘Deutschsein’ Österreichs wiederholt angeführte Zitat aus einem Zeitungleserbrief..., daß sich die meisten Österreicher ‘in Triest, in Prag oder in Zagreb mehr zu Hause fühlen als in Hamburg oder in Kiel, wo doch deutsch gesprochen wird’ (...) [Hervorhebung von mir, H.D.P.], eine Aussage, die, wenn sie tatsächlich auf ganz Österreich und Deutschland umlegbar wäre, auch beinhalten müsse, daß sich z.B. auch ein Schärdinger in Zagreb wohler fühlen müsse als in Passau, ein Innsbrucker sich in Prag mehr zu Hause fühlen müsse als in München usw. – ausgehend von einer Verherrlichung „Kakaniens“, symptomatischer Mißachtung Westösterreichs und bewußt distanzierender Gleichstellung nur norddeutscher Städte mit Deutschland. In der bewußt simplifizierenden und pauschal vereinnahmenden Diktion v.a. ostösterreichischer Historiker: die meisten Westösterreicher fühlen sich in Lindau, in München oder Passau mehr zu Hause als in Graz oder Wien, wo doch auch Österreich ist. Argumentationen dieser Art sind einer objektiven Zeitgeschichtsschreibung nicht zuträglich.

Eine besondere Art von „kultureller Verbundenheit“ konstruiert Ernst Bruckmüller (1996:315 – im Gegensatz zu den Verfechtern der (deutschen) Kulturnation), indem er

„...gesteht, sich kulturell viel eher mit jenen verbunden zu fühlen, die zu den Fisolen ‘fižol’, zu den Ribiseln ‘ribez’, zu den Agraseln ‘agraz’ und zu den Paradeisern ‘paradižnik’ sagen als mit jenen, bei denen die entsprechenden Früchte grüne Bohnen, Johannisbeeren, Stachelbeeren und Tomaten heißen...

Was hier so locker gesagt wird – gedacht ist freilich an eine Abgrenzung zum bundesdeutschen Sprachgebrauch –, erweist sich nach einer linguistischen Analyse als eine typisch Wiener, ganz Österreich vereinnahmende Aussage, denn keine einzige Bezeichnung der hier genannten Früchte kann für sich in Anspruch nehmen, (gesamt-) „österreichisch“ zu sein, bestenfalls ostösterreichisch, wobei Agraseln ein Mundartausdruck sind (vgl. ÖWB 174) und auch in Österreich nicht als Standard gelten, ferner sind die Paradeiser nur im Osten und Südosten Österreichs das Normalwort, die Ribisel heißen in Vorarlberg Johannisbeeren, die Fisolen in Kärnten Strankerl (übrigens ein slowenisches Lehnwort). Diese Aussage stimmt nachdenklich, denn wenn man sie konsequent zu Ende denkt, folgt daraus, dass ein Ostösterreicher sich kulturell mit einem Slowenen (die oben genannten nicht-deutschen Bezeichnungen sind nämlich slowenisch!) mehr verbunden fühlt, als mit einem Westösterreicher (oder Kärntner bzw. Vorarlberger), der ja auch (österreichisches) Deutsch spricht. Wer so gegen die Zugehörigkeit der Österreicher zur „deutschen Kultur- bzw. Sprachnation“ argumentiert (wie dies Bruckmüller 1996:312ff. tut. Nur aus einer solchen Sichtweise ist zu verstehen, dass Bruckmüller auf Grund meiner (aus dem Zusammenhang gerissenen, s.u.) lapidaren Feststellung in der Zeitschrift Carinthia I 179 (1989) 393 „Abstammungsmäßig sind die deutschsprachigen Österreicher zum größten Teil Baiern, zu einem kleinen Teil Alemannen, und niemand wird daran zweifeln, daß Baiern und Alemannen Deutsche sind...“ mich als „Klagenfurter Sprach­wissenschaftler“ (ohne meinen Namen zu nennen!) zu „einem der vielen Zeugen für den ‘deutschen’ Abstammungsmythos der Österreicher machte (1996:127f.). Das vollständige Zitat lautet (ein Zusatz in […]): „Vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus kann es bei der Frage, wie die österreichische Mehrheitsbevölkerung zu definieren ist, kein Problem geben, denn Sprache und Volk sind zwei verschiedene Ebenen. Es gibt Völker, die die gleiche Sprache sprechen, aber doch voneinander verschieden sind (z.B. Serben und Kroaten). Auch Volk und Nation sind nicht ohne weiteres gleichzusetzen, denn das Entstehen einer Nation ist an die Existenz eines Staates gebunden, wie es bei Österreich eben der Fall ist (aber [frühestens erst 1866/71, spätestens] erst seit 1938/45!). Abstammungsmäßig sind die deutschsprachigen Österreicher zum größten Teil Baiern, zu einem kleinen Teil Alemannen, und niemand wird daran zweifeln, daß Baiern und Alemannen Deutsche sind. Daher kann man jedem Österreicher die Entscheidung selbst überlassen, was er ist, inklusive der Minderheiten. und man hat jedesBekenntnis zu achten und auch zu akzeptieren.), wird in dieser Hinsicht von Kennern der sprach­wissenschaftlichen Verhältnisse (nobel ausgedrückt) wohl nicht ernst genommen..

Die sich mit solchen Befindlichkeiten artikulierende Absetzungsstrategie vom gesamtdeutschen Sprachraum scheint ein wichtiger Bestandteil der von gewissen Kreisen aus Politik und Wissenschaft propagierten österrei­chischen Identität geworden zu sein und wird sowohl von der österreichischen Zeitgeschichte (Exponenten etwa Moritz Csáky, Gerald Stourzh und Erika Weinzierl) und manchen Linguisten (wie Rudolf De Cillia und Ruth Wodak) als auch Kulturbürokratie (vgl. dazu die kritischen Bemerkungen von Wolf 1994:75 (zu Pollak 1992, der die Ideologie von der staatsnationalen Varietät perpetuiere, die von den offiziellen Kreisen der Kulturbürokratie gepflegt werde und die mit den „Ergebnissen“ solcher „Forschung“ zufrieden sei). In einem ähnlichen Sinn auch Scheuringer 1997:339f) gefördert. Da wird doch allen Ernstes behauptet,

unsere österreichische Identität [sei] ... eindeutig ... Teil einer ‘ost-mitteleuropäischen’ Identität und nicht einer ‘deutschen Kulturnation’ “ (Schallenberg 1987:195; vgl. dazu auch Scheuringer 1992:172 Anm. 26 sowie hier Anm. 29),

was nichts anderes bedeutet, als mit der alten Monarchie in der Gegenwart zu argumentieren. Doch das heutige Österreich ist der alte „deutsche“ Kern oder der deutsche „Rest“ des multinationalen Habsburger-Reiches, in den Augen der Schul- und Kulturbürokratie bloß „deutschsprachige“, was sogar in die Zeit der Monarchie zurückprojiziert wird, in der es zwar „Tschechen, Polen, Ungarn, Slowenen usw.“ gegeben hat, aber keine „Deutschen“, sondern bloß „deutschsprachige Österreicher“ (unter Einschluss der Ungarndeutschen, z.B. Lemberger 1998:85) – als ob Slowenen, Tschechen usw. keine „Österreicher“ gewesen wären. So „deutsch“ wie die Erste Republik war Österreich sonst nie in seiner Geschichte, hatten die österreichischen Länder der Monarchie bloß einen deutschen Bevölkerungsanteil von rund 36%, waren es in der Republik „Deutschösterreich“ 1919 über 95% (heute hat Österreich eine Wohnbevölkerung von über 8 Millionen Personen, von denen rund 1% den autochthonen Minderheiten (Slowenen, Kroaten usw.) angehören und über 9% Ausländer sind). Wie dem auch sei – die deutschsprachigen Bewohner der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nannten sich selbst „Deutsche“ und wurden von den anderen Nationalitäten ebenso bezeichnet (Berschin 1979:34-37 (mit einem Zitat von Hans Weigel , S. 36).). Im Grunde genommen ist es unerheblich, ob in einem Lande, zu dem sich rund 90% seiner Einwohner als eigenständige Nation bekennen, diese ethnographisch und sprachlich als „Deutsche“ oder als „Deutschsprachige“ oder gar als „Österreicher“ bezeichnet werden. Dass hier selbst in Kreisen der Wissenschaft derart emotionale Diskussionen geführt werden (es ist auch völlig überflüssig, ein eigenes österreichisches „Ethnos“ zu konstruieren oder gar um einige Jahrhunderte zurückzuprojizieren (wie dies Albert F. Reiterer tut, vgl. DÖW 1993:553, ähnlich auch Erika Weinzierl in Rathkolb u.a. 1990:80, die schon unter Maximilian (1518) so etwas wie ein „österreichisches“ Zusammengehörigkeitsgefühl ortet).Ob die Österreicher eine eigene Ethnie sind oder nicht, ist m.E. eine reine Glaubensfrage mit ideologischem Hintergrund), gibt zur Sorge Anlass, zumal Österreich ganz andere, weit schwererwiegende Probleme hat, für die Lösungen gefunden werden müssen, die die beiden Regierungsparteien noch zu finden haben...

Zum Abschluss dieses Kapitels sei festgestellt, dass die Menschen deutscher Sprache und Kultur keine Abstammungs­gemeinschaft sind, sondern ein Volk im soziokulturellen Sinne. In vielen Teilen des alten (ostfränkischen, später „deutschen“) Reiches vermischten sich verschiedene germanische Stämme mit Keltoromanen, Slawen und anderen Völkern. Im heute österreichischen Gebiet setzten sich die Baiern (im äußersten Westen auch Alemannen) durch, was eine kulturelle und sprachliche „Germanisierung“ bedeutete (alle „Deutschen“ haben Vorfahren aus verschiedenen Stämmen, bei den „Österreichern“ sind es hauptsächlich Baiern und Alemannen sowie Keltoromanen, Ladiner, Alpenslawen, Slowenen, Tschechen, auch Ungarn, Juden, Roma u.a. gewesen, bei den „Bundesdeutschen“ außer Baiern und Alemannen auch Franken, Sachsen usw., ferner Galloromanen im Westen, verschiedene westslawische (auch baltische) Stämme im Osten, sowie Juden, Franzosen, Sorben, Polen, Skandinavier usw. Eine Preisfrage an die „Mischvolk-Theoretiker“: wo ist denn da der fundamentale Unterschied zwischen „Österreichern“ und „Deutschen“?). Ebenso verfehlt wie der Irrglaube an die gemeinsame Abstammung der Deutschen von den Germanen und der Mythos von der ethnischen Reinheit ist die Überbetonung der nichtgermanischen und nichtdeutschen Anteile an der Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte Österreichs und der Mythos vom einzigartigen österreichischen „Mischvolk“ – so als ob die anderen europäischen Staatsvölker Inzuchtprodukte seien! Ein österreichischer Kollege verstieg sich sogar zur Behauptung, „ethnisch säubernde“ Germanisten und Historiker  haben übersehen, dass Österreich in Wirklichkeit ein slawischer Name sei und „Spitzberg“ bedeute (wie (Hoch-) Osterwitz in Kärnten, vgl. Kronsteiner 1996:133f.; dieser Beitrag erschien in kürzerer Fassung auch in der Tageszeitung „Der Standard“ 30.11./1.12.1996, von wo er u.a. den Weg auf die von R. Muhr (Graz) betreute „home-page“ Österreichisches Deutsch fand. Dies zeigt, dass alle Beiträge, die das „Deutsche“ in Österreich in irgendeiner Weise in Frage stellen, in manchen Kreisen voreilig und unkritisch rezipiert und sofort als neue „wissenschaftliche“ Erkenntnisse präsentiert werden; zur Kritik an Kronsteiner 1996 vgl. Pohl 1999a:275f.).

Solche Sichtweisen sind nichts anderes als die Rückseite des deutschtümelnden Spiegels, denn für eine Volksgruppe bzw. für ein Volk (in der Wissenschaft Ethnie oder Ethnos) stehen als wichtigste Charaktermerkmale nicht anthropologische, sondern eindeutig soziokulturelle im Vordergrund. Kultur wird im weitesten Sinn als ein wechselseitiger in sich verflochtener Komplex aus Sprache, Religion, Wertnormen und Bräuchen verstanden, an denen die Angehörigen einer solchen gesellschaftlichen Großgruppe gemeinsam teilhaben. Eine solche Definition entzieht romantischen Vorstellungen jede Grundlage, erst die Politisierung der Sprache, ausgehend vom nicht immer richtig verstandenen Herder’schen Nationsbegriff  Volk gleicher Zunge, daher Volk gleicher Kultur“, hat die modernen (Sprach- bzw. Kultur-) Nationen hervorgebracht und auf Grund sprachwissen­schaftlicher Erkenntnisse zur Vor­stellung von einer germanischen/slawischen/romanischen Völkergruppe oder -familie geführt – als Reflex der betreffenden Sprachfamilien. Doch dass Engländer und Deutsche „Germanen“, Slowenen und Serben „Slawen“, Franzosen und Italiener „Romanen“ sowie Esten und Ungarn „Finnougrier“ sind, ist in erster Linie eine Angelegenheit des geschulten politischen Bewusstseins oder der höheren Bildung, aber nicht Ausfluss nationalen Empfindens und Erlebens. „Slawe“, „Germane“ usw. zu sein ist ein sprachwissenschaftlich begründeter Mythos, ein Kärntner Slowene hat mit einem deutschen Kärntner, ein Deutscher aus Pladen/Sappada mit einem Furlaner mehr gemeinsam als beispielsweise ein deutscher Kärntner mit einem Vorarlberger oder ein slowenischer Kärntner mit einem aus Prekmurje (Übermurgebiet), denn die soziokulturellen Grenzen sind fließend und stimmen nicht immer mit den sprachlichen und ethnischen Verhältnissen überein, was v.a. in sprachlich-ethnischen Mischzonen auffällt. Eine solche Feststellung leugnet keineswegs die Bedeutung eines bestimmten Sprachgebietes als Kommunika­tionsgemeinschaft über politische und kulturelle (usw.) Grenzen hinweg, relativiert sie aber. Man darf dies aber auch nicht umdrehen, indem man auf Grund eines romantisierenden Österreichbegriffs behauptet, man fühle sich als Österreicher in Prag bzw. Laibach mehr zu Hause als in München oder Berlin (s.o.); dies mag auf viele Wiener bzw. Klagenfurter zutreffen, sicher aber nicht auf Salzburger oder Innsbrucker in Bezug auf München. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass gerade der sich an der Sprache orientierende Nationalismus jene Nationalitäten­konflikte hervorgebracht hat, die heute noch immer historisch gewachsene zwei- oder mehrsprachige Länder entzweien; allzuoft endeten (und enden noch immer!) solche Konflikte tragisch – mit „ethnischer Säuberung“. „Völker“ sind also primär keine Abstammungsgemeinschaften, sondern Produkte von natürlich entstandenen und/oder machtpolitisch organisierten Lebensräumen. Daher war früher (bis ins 19. Jhdt.) die Sprache dem Landes­bewusstsein und der Religion nachgeordnet.

3. Deutsches Deutsch werde gebellt, österreichisches Deutsch hingegen gesprochen“, meint die Wiener Linguistin Ruth Wodak (1994:26. – Richtig lautet das Zitat (nach Moosmüller 1991:18) „Bundesdeutsch wird Deutsch gebellt und in Österreich eher gesungen“ und stammt von einem Politiker, nicht Lehrerin, wie Wodak a.a.O. behauptet); treffend kontert der belgische Germanist Pierre Hessmann (1995:20): „Wer den Österreicher Adolf Hitler und den Deutschen Richard von Weizsäcker gehört hat, bekam einen anderen Eindruck“. Hier findet auf dem Gebiet der Linguistik die sich mit emotionalen Befindlichkeiten artikulierende Abset­zungs­­strategie vom gesamtdeutschen Sprachraum (s.o. 2: Csáky, Bruckmüller) ihre Fortsetzung. Sie beruht auf dem weit verbreiteten österreichischen Stereotyp des (Bundes-) Deutschen, das mit „Norddeutsch“ gleichgesetzt wird – noch dazu mit einer Sprachform, wie man sie überall auf dem Kasernenhof zu hören bekommt. Kurz zusammengefasst verkündet Wodak die These, „Hoch- bzw. Dudendeutsch“ und „österreichisches Deutsch“ seien einander nur „oberflächlich ähnlich“, daher ergebe sich die Notwendigkeit einer österreichischen „Standardsprache“ (vgl. Hessmann 1995:19). Hessmann wendet sich entschieden gegen eine solche Ansicht, da es keine gravierenden phonologischen, morphologischen und syntaktischen Besonderheiten gebe, die einerseits auf Österreich beschränkt, andererseits im ganzen Bundesgebiet verbreitet wären. Zwar gibt es eine Reihe von Ausdrücken, aus dem Recht und der Gastronomie, die man für Österreich als typisch bezeichnen könne, doch es existieren auch „Vokabeln, die typisch sächsich, rheinisch, norddeutsch, alemannisch sind... [und auch] für Ostbelgien“ (Hessmann 1995:20) – im Ausland hat man, wie man sieht, eine realistischere Sichtweise als hierzulande.

Eine weitverbreitete Ansicht über den Zusammenhang zwischen österrei­chischem Deutsch und der als typisch österreichisch angesehenen gemischten Herkunft der Österreicher findet sich in unzähligen Publikationen, meist in Verbindung mit romantischen Hypothesen über die Herkunft der Österreicher – ein Beispiel etwa Gabriele Holzer (1995:163f. – Ich habe dieses Buch schon kurz nach seinem Erscheinen sehr aufmerksam gelesen. Es ist das genaue Gegenteil einer „deutsch orientierten“ Darstellung. In solchen wird ja jede historisch-kulturelle Besonderheit Österreichs konsequent übergangen. Holzers „österreichisch-nationaler Standpunkt“ hingegen will alles Deutsche wegprojizieren. Ich persönlich kann mit beiden Gesichtspunkten nichts anfangen, die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte, wie es ja auch sprachlich der Fall ist: Österreichisches Deutsch ist nicht nur „österreichisch“, sondern gleichzeitig auch süddeutsch (oder oberdeutsch) und nur relativ Weniges deckt sich mit der Staatsgrenze. Die ernstzunehmende österreichische Geschichtsschreibung setzt sich sehr wohl mit dem Anteil deutscher Vergangenheit unseres Landes auseinander, u.a. wird im Sammelband Die Habsburgermonarchie 1848-1919, Bd. III „Die Völker des Reiches“ (Wien, Verlag der ÖAW 1980) die heute tabuisiert meist „Altösterreicher“ oder „deutschsprachige Österreicher“ genannte Bevölkerung (beide Metaphern werden auch für die Deutschen Ungarns verwendet) konkret „die Deutschen“ genannt, auch Bruckmüller (1996:276ff.) spricht (Kap. IV.4) von Die deutschen Österreicher vom „heiligen“ zum „großdeutschen“ Reich. Vgl. dazu auch Scheuringer 1992):

Die wahrhaft multiethnische (und -nationale) Geschichte des Schmelztiegels Österreich wurde und wird, auch in Österreich, bisweilen übersehen und geleugnet... Die Spuren dieser Geschichte der Vielfalt ... sind in grenzüberschreitenden Verwandtschaften und Kontakten, in Koch- und Lebensgewohnheiten, in Sprachgrenzen überschreitender verwandter Weltsicht, in Telephonbüchern, Regierungslisten (der österreichische Bundespräsident, der Bundeskanzler, der Vizekanzler  (gemeint ist Busek, dessen Name aber drei Deutungen zulässt: (1) Kurzform zu tschech. Bohuslav o.ä. (eher wäre dann Buschek [nach Bůžek] zu erwarten), in der BR Deutschland gibt es auch die Variante Buske (usw.), in jedem Fall zu einem mit slaw. bogъ „Gott“ beginnenden Personennamen gehörig; (2) nach einem dt. Ortsnamen Buseck bei Gießen, der ebenfalls mit slaw. bogъ zusammenhängt; und (3) norddeutsch Buseke, Übername zu ma. buse „Fischerboot“. – Gerade dieser Name zeigt uns, dass slaw. Familiennamen keine österreichische Spezialität sind, sondern eine gesamtdeutsche Dimension haben: typisch sind sie für den deutschen Osten und österreichischen Südosten) und etliche Minister haben slawische Namen) und auch in manchen Sprachwendungen und Intonationen, wie dem slawischen Wiener „l“ lebendig  [Hervorhebung von mir, H.D.P.]“ (Slawischer Herkunft ist manches am Wiener und (noch viel mehr) Kärntner Deutsch (Pohl 1997a), doch gesamt-österreichisch gesehen hat die vielsprachige Monarchie nur wenige Spuren im österreichischen Deutsch hinterlassen, was mein Beitrag Pohl 1999b aufzeigt. Was am „Wiener Vorstadt-L“ slawisch sein soll, ist und bleibt unklar und man fragt sich, wieso Autoren, die keine Linguisten sind, solche Behauptungen aufstellen).

Es stimmt zwar, wie Holzer meint: Sie sind für jeden sichtbar, der sie nicht übersehen will. Doch so einfach ist es auch wieder nicht; insbesondere die Namen haben es den Schmelztiegel-Theoretikern, die meist gar nicht in der Lage sind, einen Familiennamen slawischer oder ungarischer Herkunft einigermaßen richtig auszusprechen, angetan und setzen Namen und Herkunft gleich, aus dem bereits zitierten Buch ( Holzer 1995:59):

Der Aufruf zur Volksabstimmung über Österreichs Unabhängigkeit ... am 13. März 1938 ... galt einem deutschen Österreich. Und ... [es] sprach Kurt Schuschnigg, österreichischer Kanzler slowenischer Abstammung, davon, daß kein deutsches Blut fließen solle“.

Name und Sprache haben aber mit Blut gar nichts gemeinsam, daher sind Begriffe wie „deutsches Blut“, „slowenisches Blut“ usw. abzulehnen (wenn auch – nicht nur im deutschen Sprachraum – die Ideologie des Blutes noch immer nicht überwunden ist, vgl. Pohl 1999b:94f. Anm. 5), denn das Blut aller Menschen auf dieser Welt unterscheidet sich nur nach Blutgruppen! (vgl. dazu Pohl 1999b:94f.) Meines Wissens war Kurt Schuschnigg Tiroler, genauer Südtiroler, und hatte zufällig einen Familiennamen slowenischer Herkunft wie auch viele Südtiroler bekanntlich italienische Namen führen, ohne Italiener zu sein (z.B. Magnago, Scrinzi), wie ja auch in Wien eine Politikerin einen „Kärntner“ bedeutenden Familiennamen führt, ohne „kärntnerisch“ und noch weniger „slowenisch“ zu sein, nämlich Korosec (slowenisch Korošec [koró:šets]), „verdeutscht“ [kórosek]. Man hat auch im sich „multikulturell“ fühlenden Wien seine Schwierigkeiten, Namen anders als deutsch zu lesen.

Diese hier angesprochene Problematik hat der Wiener Germanist Hermann Scheuringer (1992:171 u. Anm. 22) schon vor Jahren auf den Punkt gebracht:

Den staatlichen Sonderwortschatz und damit auch gleich die kraß überzeichnete Tatsache ‘multikultureller Wurzeln’, die – implizit gemeint und im Grunde nur auf Wien anwendbar – Österreich von Deutschland unterscheide, begründen viele mit einer Art von ‘Schmelztiegel’-Theorie (s.u.) mit dem Wiener Telefonbuch als ihrem herausragenden Topos, die so auch für Wien härtere Tatsachen romantisch verklärt und für das restliche Österreich und besonders dessen westliche Hälfte überhaupt nicht zutrifft“ (Statt „Schmelztiegel-Theorie“ auch „Mischvolk-Hypothese“ – genaues Gegenteil einer in die gesamtdeutsche Geschichte eingebetteten (bis 1938/45 üblich gewesenen) österreichischen Geschichtsauffassung. Während jede „nationale“ Geschichtsschreibung mit verschiedenen Abstammungs- und Entstehungsmythen verknüpft ist, haben sich auch die Vertreter des „Schmelztiegels Österreich“ ihre eigenen Mythen geschaffen, beide sind Varianten des Abstammungsmythos, einmal des „germanischen“, ein anderes Mal des „multikulturellen bzw. -ethnischen“ (so berichtet Holzer 1995:164 exemplarisch von ihren „vielfältigen niederösterreichischen, kärntnerischen, bayerischen, slowenischen, kroatischen und montenegrinischen Ursprünge[n]“). – Vgl. Anm. 51 u. 64).

Weit verbreitet ist die Ansicht, es gebe so etwas wie eine „österreichische Norm“. In einem Artikel setzt sich der Wiener Germanist Peter Wiesinger damit ausführlich auseinander und kommt zum Schluss (Wiesinger 1996:215f.):

Das österreichische Deutsch ... ist ... ein heterogenes Gebilde von Varianten des auch für Österreich verbindlichen Sprachsystems Deutsch. Es setzt sich hinsichtlich der Schrift- und Standardsprache im Wortschatz aus lexikalischen und semantischen Austriazismen von verschiedener Verbreitung und Gültigkeit zusammen, und ebenso gibt es phonetisch/phonologische, morphologische und syntaktische Eigenheiten, die ganz oder teilweise in Österreich gelten und z.T. auch über Österreich hinaus in Süddeutschland vorkommen. Alle diese Erscheinungen ... haben ... in Österreich normative Verbindlichkeit und müssen innerhalb der Polyzentrik des Deutschen als einer Gliederung in Regionen anerkannt werden. Weder darf die deutsche Schrift- und Standardsprache als Einheitssprache aufgefaßt, noch dem norddeutschen ‘Binnendeutschen’ ein allgemein verbindlicher oder höherer Rang beigemessen werden [Es folgen einige Beispiele aus dem Bereich des Wortschatzes und der Beitrag schließt mit der Bemerkung:] Andererseits geht es nicht an, die auch in Österreich vorhandene Sprach- und Stilschichtung zu leugnen und Erscheinungen des Dialekts und der Umgangssprache schrift- und standardsprachliches Niveau beizumessen. Österreichisches Deutsch präsentiert sich also nicht als eine einheitliche nationale Sprachform, sondern der Gesamtheit seiner einzelnen, in unterschiedlicher Verbreitung geltenden Eigenheiten kommt als einer Varietät des Deutschen normative Gültigkeit zu [Hervorhebungen von mir, H.D.P.].

Eine Sprachplanung für das österreichische Deutsch, wie sie der Grazer Germanist Rudolf Muhr (1995:105f.) fordert, ist also entbehrlich. Sie würde übrigens auf eine Standardisierung nach dem Muster von Wien und dem Osten von Österreich hinauslaufen, die im Westen (und Süden) auf wenig Gegenliebe stieße (vgl. u.a. Wiesinger 1997a:24f.). Darüber hinaus ist der österreichische Sprachgebrauch ausreichend dokumentiert, im ÖWB sowie im Sammelband „Das österreichische Deutsch“ (Wiesinger 1988 (v.a. mit den Beiträgen Ebner 1988, Lipold 1988, Tatzreiter 1988). eine Zusammenfassung meiner Publikationen dazu POHL 2014).

4. Bis Mitte der 80er Jahre bestand in der Germanistik eine „monozentrische Auffassung. Man wusste zwar, dass die deutsche Sprache in den 5 Staaten BRD, DDR, Österreich, Liechtenstein und Schweiz zwar nicht völlig einheitlich ist, aber trotz vieler Varianten waren die grundsätzlichen Normen überall akzeptiert. Ende der 80er Jahre kam als neue Sichtweise die jeweilige Eigenstaatlichkeit als wesentlicher Beurteilungsfaktor hinzu (vgl. Wiesinger 1997a:19 mit Lit.) und es entstand der „pluri- (oder poly-) zentrische Ansatz“, den in Österreich v.a. der Grazer Germanist Rudolf Muhr und der Wiener Romanist Wolfgang Pollak (†) aufgriffen. Man postulierte eine „österreichische (nationale) Varietät“ der deutschen Sprache, die aber bei genauerer Betrachtung nur z.T. mit dem österreichischen Staatsgebiet korreliert. Von den westösterreichischen Verhältnissen ausgehend führten die beiden Germanisten Norbert Richard Wolf (Würzburg) und Hermann Scheuringer (Wien) den „pluriarealen Ansatz“ ein, denn die meisten Verschiedenheiten im deutschen Sprachgebiet lassen sich nicht an den Staatsgrenzen festmachen. Ich halte den „plurizentrischen“ und „pluriarealen“ Ansatz nicht unbedingt für fundamentale Gegensätze, wenn ich auch, sprachgeographisch gesehen, den pluriarealen als angemessener  betrachte (vgl. Pohl 1997b:69). Eines wird allerdings oft übersehen: der Gültigkeitsbereich sprachlicher Erscheinungen auf Ebene des Standards ergibt sich eindeutig auf Grund der nationalen Varietäten einer Sprache (so gelten viele Wörter in Österreich als Standard, in Bayern aber nicht, z.B. Jänner, Ribisel, Jause, was auch auf einige grammatische Besonderheiten zutrifft wie z.B. der Gehalt, vergessen auf usw.) und nicht (nur) auf Grund arealer Gliederung in Großdialekte. Diese aber lieferten (zusammen mit den historischen und politischen Fakten) die Voraussetzungen dazu, dass überhaupt nationale Varietäten entstehen konnten. Ich denke, dass sich die „Bevorzugung“ eines der beiden Gesichtspunkte aus den wissenschaftlichen Schwerpunkten und Interessen jener ergibt, die sich mit dem Österreichischen Deutsch beschäftigen, daher neigen Kollegen wie Muhr, der sich v.a. um das Österreichische Deutsch im Unterricht „Deutsch als Fremdsprache“ verdient gemacht hat, zum „plurizentrischen“ Ansatz, Kollegen wie Scheuringer (und ich) zum „pluriarealen“.

Der Wiener Germanist Richard Schrodt (1997a:15) hat versucht, den verschiedenen Standpunkten des plurizentrischen Ansatzes die wichtigsten Vertreter zuzuordnen: österreichisch-national (u.a. Möcker, Muhr, Pollak, Wodak [sowie De Cillia (unter „plurizentrisch-staatsbezogen“ auf S. 16)]), österreichisch-integral (Ebner, Reiffenstein, Wiesinger) und deutsch-integrativ (Pohl, Scheuringer, Wolf), wobei „deutsch-integrativ“ mit „pluriareal“ identisch ist (Schrodt 1997a:16 auf Grund einer persönlichen Mitteilung von Scheuringer). Diese Einteilung mag ihre Berechtigung haben, sie vernachlässigt aber einen Aspekt: die ideologische Sichtweise vieler Vertreter des „österreichisch-nationalen Ansatzes“, die den Begriff des „österreichischen Deutsch“ vornehmlich aus der Eigenstaatlichkeit und nationalen Unabhängigkeit Österreichs ableiten und weniger auf Grund des linguistischen Befundes. Nur in einem solchen weltanschaulichen Ambiente konnte es zur Vorstellung kommen, dass „innerhalb Österreichs eine bestimmte Variante des Wienerdeutschen das höchste Prestige“ (Wodak 1994:26) habe und „für eine Standardisierung geeignet“ sei (De Cillia 1995b:7; er erwähnt aber nicht, dass in den österreichischen Landeshauptstädten die Wiener Varietät eher abgelehnt wird (Moosmüller 1991:22), was auch ich wiederholt beobachtet habe). Als Vertreter eines solchen ideologisch (ähnlich Scheuringer 1997:339f. (dazu vgl. auch Schrodt 1997a:37); „ideologisch“ wäre auch der extreme „deutsch-integrative“ Standpunkt, wenn jedwede österreichische Besonderheit geleugnet oder marginalisiert würde bzw. man ein strammes „Einheitsdeutsch“ ohne Regionalismen forderte (ein Hang in diese Richtung ist bei bundesdeutschen Lektoren feststellbar, vgl. Muhr 1997b sowie die Untersuchung von J. RANSMAYR). Mir ist aber aus der germanistischen und linguistischen Fachliteratur derzeit niemand bekannt, der so dächte) begründeten  österreichisch-nationalen Standpunktes“ – dieser Standpunkt entspricht der „Absetzungsstrategie“ der Österreicher vom gesamt­deutschen Sprach- und Kulturraum auf Ebene der Sprache (vgl. dazu auch Hessmann 1995:21f. und Wiesinger 1996:214f. – Scheuringer 1996 spricht von einem „staatlich begrenzten Horizont“. – Wiesinger (1999b:234ff.) unterscheidet im „plurizentrischen Modell“ einen „nationalen bzw. staatsbezogenen“ (u.a. De Cillia, Muhr, Pollak, Wodak) und einen „neutralen bzw. integralen Standpunkt“ (u.a. Ebner, Reiffenstein, Wiesinger). „Neutral“ wäre m.E. u.a. auch Hornung 1987. Das zweite Modell ist das „pluriareale“, u.a. Pohl, Scheuringer, Wolf) – wären De Cillia, Muhr, Pollak und Wodak zu bezeichnen, nicht aber Möcker (und Moosmüller); einen vermittelnden Standpunkt nimmt Schrodt selbst ein.

Realistisch sieht Jakob Ebner die Dinge – er schrieb mit seinem Duden-Taschenbuch „Wie sagt man in Österreich“ österreichische Sprachgeschichte. Ebners Buch erhob nie den Anspruch, ein normatives Lexikon zu sein, sondern er war (und ist) bestrebt, den Wortschatz des „österreichischen Deutsch“, also den „gesamten für Österreich spezifischen Sprachgebrauch“ zu erfassen. Seine Interpretation des Begriffes Austriazismen ist klar nachvollziehbar und sagt alles (Ebner 1998:8):

Gegenstand des Buches sind natürlich Austriazismen. Dieses Prinzip stößt auf die Schwierigkeit, österreichischen Sprachgebrauch von den Nachbarländern abzu­grenzen. Der Nutzen eines Buches, in dem nur die reinen Austriazismen, d.h. die auf Österreich beschränkten Spracheigentümlichkeiten, behandelt werden, wäre gering. Will man die österreichische Standardsprache in allen ihren Erscheinungen erfassen, muss man jene Wörter mit einbeziehen, die auch in einer benachbarten Sprachlandschaft vorkommen. Ebenso werden die Wörter behandelt, die nur in einem Teil Österreichs vorkommen. Statt ‘Austriazismenwörterbuch’ ist die Bezeichnung ‘Wörterbuch des österrei­chischen Deutsch’ zutreffender, sie drückt aus, dass der gesamte für Österreich spezifische Sprachgebrauch behandelt wird, gleich ob Wörter auch in Nachbarlandschaften oder nicht in ganz Österreich verbreitet sind. Die regionale Verbreitung wird jeweils angegeben (z.B. auch bayr[isch], auch süddeutsch, auch schweiz[erisch], auch ostmitteldeutsch usw.) bzw. die beschränkte Verbreitung innerhalb Österreichs.

Das Wörterbuch ist in erster Linie der Standardsprache in Österreich gewidmet, enthält aber auch viele umgangssprachliche und dialektnahe Wörter, soferne sie geschrieben vorkommen (in der Literatur, in fachsprachlichen Texten [z.B. Küchensprache], aber unter Ausschluss der eigentlichen Dialektliteratur).         

So weit ein Überblick zum Stand der Diskussion über das österreichische Deutsch (eine gute Zusammenfassung u.a. Wiesinger 1999b). Am ehesten ist noch bei der Aussprache (dazu Back 1995 und  Lipold 1988) sowie „atmosphärisch“ (nach Greil-Wolkerstorfer 1997:514, vgl. auch Pohl 1999b:99) auf Anhieb österreichisches Deutsch zu erkennen. Wie sehr hier aber oft Wunschdenken und Realität auseinanderklaffen, zeigt die berühmte EU-Liste österreichspezifischer Ausdrücke (sogenanntes Protokoll Nr. 10, Teil des österreichisches Beitrittsantrages; dazu vgl. De Cillia 1995a, zuletzt 1998:78ff., sowie Pollak 1994:152ff., zur dialektologischen und sprach­geographischen Kritik vgl. Pohl 1997c:19ff., zuletzt genauer 1999b:99-101, jetzt auch im Internet unter: EU-Liste.htm):

Beiried/Roastbeef; Eierschwammerl/­Pfifferlinge; Erdäpfel/Kartoffeln; Fa­schier­tes/­Hack­fleisch; Fisolen/Grüne Bohnen; Grammeln/Grieben; Hüferl/Hüfte; Kar­fiol/­Blumenkohl; Kohlsprossen/­Rosenkohl; Kren/Meerrettich; Lungenbraten/­Filet; Marillen/Aprikosen; Melanzani/Auberginen; Nuß/­Kugel; Obers/Sahne; Paradeiser/­Tomaten; Powidl/Pflaumen­mus; Ribisel/­Johannis­bee­ren; Rostbraten/­Hochrippe; Schlögel/Keule; Topfen/Quark; Vogerlsa­lat/Feldsalat; Weichseln/­Sauerkirschen.

Nur 10 Aus­drücke (oder 40%) weist der DUDEN (21. Aufl.) als spezifisch österreichisch aus (Beiried, Faschiertes, Fisolen, Kohlsprossen, Lungenbraten, Marillen,  Paradeiser, Powidl, Ribisel, Vogerlsalat), 9 weitere als süddeutsch oder landschaftlich (Eierschwammerl, Erdäpfel, Grammeln, Karfiol, Kren, Obers, Schlögel/Schlegel, Topfen, Weichseln; z.T. auch bayerisch), weiters Rostbraten ohne nähere Angaben, und die Wörter Hüferl (Haupteintrag im ÖWB Hieferl, traditionell Hieferschwanzl (Wien, eine Rindfleischsorte). Ammon (1995:209) interpretierte das Wort (wohl irrtümlich) als Hüfterl), Melanzani und Nuss fehlen (sind aber jetzt in der 27. Auflage 2017 enthalten). Bei Ebner sind 12 Ausdrücke (oder etwas mehr als 50%) als spezifisch österreichisch ausgewiesen, im ÖWB 10 (Bemerkenswert erscheint mir die Tatsache, dass die vorige (37.) Auflage des ÖWB nur 5 Wörter (nicht einmal 25%) aus der Liste durch „Sternchen-Wörter“ erklärt hat und so indirekt als „österreichisch“ auswies (wenn auch nur eines davon ein „echter“ Austriazismus ist: Marille). – Mit Sternchen [*] werden im ÖWB in Österreich nicht heimische Wörter gekennzeichnet; zur Problematik und Geschichte der Sternchen-Wörter vgl. Ammon 1995:181ff.; es waren übrigens in der 37. Auflage des ÖWB nur 170 Einträge + 49 in den Worterklärungen Sternchen-Wörter, das sind weniger als 1% des gesamten im ÖWB enthaltenen Wortschatz. In der 38. Auflage ist die Anzahl der „Sternchen-Wörter“ weiter zurückgegangen, jedoch um die mit den Symbolen D (für Deutschland) und CH  (für die Schweiz) gekennzeichneten Wörter erweitert worden. In der letzten 43. Auflage [2016] werden die Abkürzungen (D) u. (CH) verwendet).

Diese Liste ist also – linguistisch gesehen – sehr oberflächlich und ungenau, darüber hinaus ist sie symptomatisch für die Unmöglichkeit, „Austriazismen“ eindeutig festzumachen; sie zeigt auch deutlich die Grenzen auf (wie meine Übersicht (samt Kommentar) in Pohl 1999b:99-101 beweist): nicht einmal die Hälfte der EU-Austriazismen sind „echte“ Austriazismen (und davon wiederum ein Teil ist nicht in ganz Österreich üblich). Sprachpolitisch gesehen wurde eine große Chance vertan: je größer die Anzahl der (eigentlichen sowie süddeutschen) Austriazismen gewesen wäre, desto mehr wäre das Süddeutsche ganz allgemein gestärkt bzw. aufgewertet worden und gerade im Hinblick auf die Regionen in der EU hätte die Vielfalt der regionalen Alltagskultur ihren sprachlichen Reflex finden müssen – dies ist meine Hauptkritik. Wolfgang Pollaks Kritik geht auch in eine andere Richtung, er sieht in der seiner Meinung nach mangelnden Gleichberechtigung österreichischer Ausdrücke gegenüber bundes­deutschen eine Gefährdung „der sprachlichen Identität der Österreicher“, deren „Sprachkultur ... eine integrale Komponente der österreichischen Kulturnation“ sei (Pollak 1994:152). Dies ist aber eine Neuauflage des alten, Herder’schen Konzeptes der Kulturnation: da Österreich nach seinem Selbstverständnis eine Nation ist, muss es auch eine „Nationalsprache“ haben, eine Sichtweise, die ich als einen „ideologisch begründeten österreichisch-nationalen Standpunkt“ nennen will (s.o.). Die Vertreter dieser Auffassung, außer Wolfgang Pollak v.a. Rudolf Muhr (vgl. Muhr 1998), der von der „Wieder­­kehr der Stämme“ spricht, wenn die sprachliche Eigenständigkeit Österreichs relativiert wird und die Gemeinsamkeiten mit Bayern und dem süddeutschen Raum hervorgehoben werden, Rudolf De Cillia (der die Angaben von Informanten unkritisch wiedergibt, ohne die dialektologischen Hintergründe zu beachten (z.B. De Cillia 1997:120). Da viele über österreichisches Deutsch arbeitende Autoren die  dialektologischen Gegebenheiten in Österreich vernachlässigen, kommt es oft zu fragwürdigen Aussagen, wie einige Beispiele bei De Cillia (1997:120) zeigen: Frikadelle ist in der Tat in Vorarlberg unüblich, aber Faschiertes auch, man sagt eben Hackfleisch und sollte dieses auch in Wien zur Kenntnis nehmen, ohne weiteren Kommentar. Auch die auf der selben Seite gegebene Bemerkung zu Fleisch- bzw. Leberkäs(e) lässt jede Sachkenntnis vermissen: in Tirol (und z.T. auch in Oberkärnten) sagt man eben Fleischkäse, wie auch in Baden-Württemberg, nicht aber in (Alt-) Bayern, wo – wie im größten Teil Österreichs – Leberkäse gilt.Zu Pfifferling und Hackfleisch in Vorarlberg: wie in Tirol ist auch in Vorarlberg neben Eierschwamm das gemeindeutsche Pfifferling üblich und Faschiertes ist dort unüblich, vgl. Forer – Moser und Metzler in Wiesinger 1988:192 u. 217) und Ruth Wodak (1994:26f.) unter dem bezeichnenden TitelWir sind nicht Duden-Land“ (angeblich stammt der Titel nicht von der Verfasserin selbst, sondern wurde von der Redaktion der Zeitschrift gegeben, so Schrodt 1997b. Darin die der Behauptung (S. 26) „Die ältere Generation wertet Dudendeutsch höher, Rechtsstehende und Deutschnationale ebenfalls“. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Feststellung so richtig ist: der Duden ist nun einmal das Nachschlagewerk zum Deutschen, sozusagen die „höchste Instanz“, und er verzeichnet auch die österreichischen Besonderheiten (der Verlag hat mit Ebner 1980 bzw. 1998 sogar ein Spezialwörterbuch herausgegeben!). Im ÖWB steht im Grunde genommen auch nichts anderes, wenn man von Marginalien absieht. – Typisch ist für die österreichische Diskussionskultur, dass die Vertreter des „ideologisch begründeten österreichisch-nationalen“ Standpunktes (s.o.) auf Kritik äußerst sensibel reagieren, vgl. z.B. De Cillia 1998:73 Anm. 1, der Scheuringers (1996:150 u. 151) pointierte Ausführungen polemisch zurückweist, oder der Beitrag Muhr 1998, der einem Rundumschlag gegen ziemlich alle anders denkenden (Scheu­ringer, Wiesinger, Wolf und mich) gleichkommt) setzen sich über die historischen und dialektologischen Grundlagen des Deutschen in Österreich großzügig hinweg; aus einer solchen defizitären Sicht muss auch die EU-Liste der Austriazismen entstanden sein, die auf den österreichischen Osten zugeschnitten ist und in dieser Form – wenn überhaupt –  nur für Wien gültig ist.  Da – wie es Pollak (1994:155f.) ausführt – österrei­chischerseits die Frage der „Austriazismen“ noch bei den EWR-Verhandlungen als unwesentlich betrachtet wurde und erst nach kritischen Reaktionen der Öffentlichkeit bei den EU-Verhandlungen nicht mehr ignoriert werden konnte, ist das Ergebnis eben so wie es ist, ein paar geschickt ausgewählte „Demonstra­tionsaustriazismen“ aus dem Bereich der Gastronomie („gastrono­mische Schibboleths“ – vgl. Reiffenstein 1995:163) unter völliger Missachtung anderer semantischer Gruppen (relevant v.a. Amts- und Rechtssprache, z.B. Vignette [aus der Schweiz „entlehnt“] bzw. umgangssprachlich Pickerl „Aufkleber (v.a. als Nachweis der entrichteten Autobahngebühr“), Vorrang „Vorfahrt“ u.v.a.m.).

5. Das österreichische Deutsch ist jedoch in vieler Hinsicht mit dem ganzen oberdeutschen Raum verbunden, wobei es in Österreich selbst ein West-/Ost- bzw. Ost-/Südost-Gefälle gibt (vgl. z.B. Wiesinger 1988:25f.). Aus sprachpolitischen Gründen wäre außer dem nur in Österreich üblichen auch der mit Bayern und dem süddeutschen Raum gemeinsame Wortschatz in die Liste aufzunehmen gewesen. Viele beklagen in Österreich die „sprachliche Vereinnahmung“ (s.o. 2  sowie Muhr 1997b:90-92 (mit Lit.), auch zu den „Leiden“ österreichischer Autoren, die ihre österreichischen, süddeutschen und oft auch Wiener Ausdrücke nach dem Willen bundesdeutscher Lektoren nicht in die (gesamt-) deutsche Literatur(sprache) einbringen können. Doch dies ist keine „Vereinnahmung“, sondern sprachliche Gleichschaltung (ein anderes Vokabel fällt mir nicht ein) des geschriebenen Wortes, beim Fernsehen schon längst Realität, auch bei österreichischen Produktionen: sprach man z.B. in den in Wien gedrehten Folgen des „Tatortes“ in den 70er Jahren noch „österreichisch“, ist dies beim „Kommissar Rex“ der 90er Jahre nicht mehr der Fall – im Gegensatz etwa zu den bayerischen „Rosenheim-Cops“) von Norden her, auch viele Bayern tun dies, doch statt passivem Klagen wäre ein aktives sprachbewusstes gemeinsames Auftreten notwendig. Folgende Wörter aus dem Bereich „Lebensmittel“ wären in eine Liste der süddeutschen und bairisch-österreichischen Ausdrücke aufzunehmen, sie sind gleichzeitig Austriazismen und Bavarismen, da sie sowohl in Österreich (zumindest großräumig) als auch in Bayern (mehr oder weniger) allgemein üblich sind:

Beuge(r)l, Blaukraut, Blunzen, Bries, Brösel, Dampfl, Einbrenn(e), Erdäpfel- (Kartoffel-) püree, -fleck (in Kuttelfleck usw.), Geröstete („Bratkartoffeln“), Geselchtes, Gugelhupf, Häuptel (-salat), Hendl, -junge (in Hühner-, Enten- usw. statt -klein), Kipfe(r)l, Kletzen, Knödel, Krapfen, Kraut(-kopf, -wickel), Kutteln, Leberknödel, -käse, Laib (Brot), Marmelade, Nockerl, Orange, (der) Petersil, Porree, Radi, Rahm, Rindsbraten, Ripperl, rote Rübe, Sauerkraut, Scherzel, Schweinsbraten, Schmarren, Schwammerl, Semmel, Sur (-fleisch, -braten), Tafelspitz, Tellerfleisch, Truthahn, Wecken (Brot), Weißwurst, Wurzel­werk, Zipf (z.B. Polsterzipf „mit Marmelade gefülltes Gebäck“) und viele andere.

Den tiefgreifenden Gemeinsamkeiten zwischen dem bayerischen und österreichischen Bairischen stehen allerdings auch Unterschiede gegenüber, z.B. (Bavarismus/Austriazismus):

Schweishaxe(n)/-stelze, Hackbraten/Faschierter Braten, Feldsalat/Rapunzel oder Vogerlsalat, Fleischpf(l)anzel/Fleischlaibchen, Reiberdatschi/Kartoffel­puffer (auch Erdäpfellaibchen, -blattl usw.), Obatzter/(abgemachter Topfenkäse wie z.B. Liptauer o.ä),  gelbe Rübe/Karotte oder Möhre, Radieserl/Radieschen.

Doch solche Unterschiede gibt es auch innerhalb Österreichs, z.B. (Tirol) Fleischkäse, (sonst meist) Leberkäse oder Karotte neben Möhre und (gelbe) Rübe, (Westösterr.) Lüngerl, (der/die) Sellerie / (Ostösterr.) Beuschel, (der) Zeller, (Kärnten) Strankerl / (sonst meist) Fisole, in Vorarlberg Blumenkohl, Hackfleisch usw., oder eine andere Schichtung z.B. Heidel- bzw. Schwarzbeere oder Nachtmahl vs. Nacht- bzw. Abendessen.

Wie mehrmals angedeutet: ein einheitliches österreichisches Deutsch gibt es nicht (vgl. Ebner 1980:215f. und Wiesinger 1988:25f.), was freilich seine Existenz im Bewusstsein der meisten Sprecher nicht ausschließt. Dieses Thema ist aber (wie sub 4 ausgeführt) in den letzten Jahren wiederholt zum Gegenstand ideologischer Auseinandersetzungen geworden (vgl. in der Einleitung von Pollak 1992:1: „ich bin der Meinung, dass bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in einem bescheidenen Ausmaß auch politische Akzente gesetzt werden können“  – was „ein bescheidenes Ausmaß“ sein soll, ist sehr dehnbar, jedenfalls ist dieses Ausmaß in der angesprochenen Literatur m.E. eher unbescheiden; vgl. zur Kritik u.a. auch Wolf 1994:75).

6. Die österreichische staatsnationale Varietät ist also nichts anderes als die Summe aller sprachlichen Phänomene der deutschen Sprache in Österreich (ähnlich auch Wiesinger 1997b:25. – Er schlägt auch (1997a:22f., 1999b:242-244) eine Einteilung der Austriazismen vor: oberdeutscher, bayerisch-österreichischer, gesamtösterreichischer, ost-/westösterreichischer, regionaler Wortschatz sowie spezifische Bedeutungen. Die von ihm gebrachten Beispiele sind größtenteils hier in meiner Gruppierung eingearbeitet), wobei der Begriff Austriazismus nicht mehr besagt, als dass die betreffende sprachliche Erscheinung zwar für Österreich typisch ist, wobei jedoch nicht ausgeschlossen wird, dass diese auch in anderen deutschsprachigen Ländern (Regionen) üblich ist. „Austriazismen“ im engeren Sinn des Wortes sind also die vom Duisburger Germanisten Ulrich Ammon so genannten „spezifischen nationalen Varianten“ (Ammon 1996:162. „Unspezifisch“ wären Apfelstrudel, Germknödel und Vanillekipferl, denn diese stammen zwar aus Österreich, sind aber die einzigen Bezeichnungen der deutschen Sprache dafür. Dies gilt freilich auch für die schwäbischen Spätzle, den Hamburger Labskaus und die Münchner Weißwürste etc.), die fast ausschließlich zu den „staatsräumlichen Austriazismen“ gehören. Im weiteren Sinne sind „Austriazismen“ auch jene sprachlichen Erscheinungen, die zwar nicht gemeindeutsch sind, aber doch auf einem Areal liegen, an dem zumindest ein größerer Teil Österreichs Anteil hat.

Hans Weigel sagte einmal (zitiert nach Holzheimer 1997:139f.): Richtiges Österreichisch ist anders als richtiges Deutsch. Aber nicht alles falsche Deutsch, das Sie in Österreich lesen, ist darum richtig“. Österreichisches Deutsch ist also auf der Ebene des Standards ein ein wenig anderes Deutsch, kein „liebenswürdigeres“, „weicheres“ und auch kein „schlampigeres“ Deutsch – dies sind subjektive Einschätzungen. Es gibt auch keine „10.000 speziell österreichische Wörter“, wie oft behauptet wird, sondern bestenfalls ein paar hundert, das meiste findet sich auch in den anderen süddeutschen Regionen, v.a. in Bayern. Das in Österreich gepflegte Vorurteil vom „Bellen“ des nördlichen Nachbarn (des „Preußen“, s.o. 3) ist glatter Unsinn, wie übrigens auch die in den österreichischen Bundesländern kultivierte Vorstellung vom „Raunzen“ des Wieners.

Durch Kombination der plurinationalen“ (Ammon 1995:159), pluriarealen“ (Scheuringer 1996, Wolf 1994) und pluri­zen­trischen“ (Muhr 1993 u. 1995, Pollak 1992 u. 1994) Gesichtspunkte lassen sich die Austriazismen in 3 bis 4 Gruppen zusammenfassen:

(1)  staatsräumliche Austriazismen: v.a. Verwaltungs-, Rechts- und Mediensprache (vgl. Ebner 1980:215) wie z.B. Landesgericht (vs. Landge­richt), Bezirks­gericht (vs. Amts­gericht), Nationalrat (vs. Bundesrat), Landeshauptmann (vs. Ministerpräsi­dent), politischer Bezirk (vs. Landkreis), Obmann (vs. Vorsitzender), Erlagschein (vs. Zahlkarte), Tischler (vs. Schreiner, so auch in Vorarl­berg), Jause (vs. Brot­zeit), Journaldienst (vs. Bereitschaftsdienst), Ansuchen (vs. Gesuch), Einlaufstelle (vs. Annahme­stelle), Vignette (bzw. umgangssprachlich Pickerl) „Aufkleber als Nachweis der entrichteten Autobahngebühr“ (entsprechend picken vs. kleben), Allfälliges (statt binnendeutsch Verschiedenes auf der Tagesordnung), (Tabak-) Trafik (vs. Tabakladen), Schultasche (vs. -ranzen), Kundmachung (vs. Bekannt­ma­chung), Wachzimmer („Polizeibüro“), Jause (vs. Brotzeit, Vesper, Zwischen­mahlzeit), Karfiol (vs. Blumenkohl, so auch Vorarlberg), Matura (vs. Abitur), Vorrang (vs. Vorfahrt), Ruhensbestimmungen (d.s. Regelungen für das „Ruhen“ von Zahlungen aus der gesetzlichen Pensionsversicherung wegen Erwerbstätigkeit u.dgl.) usw. – diese Wörter „enden“ an der Staatsgrenze (vgl. Wiesinger 1988:25f.); Scheuringer (1988:69) spricht hier von „einem stark staatsräumlich bestimmten Bereich“, daher auch der von mir gewählte Terminus. Dazu kommt noch der von Wien ausgehende gesellschaftsgebundene Verkehrswortschatz wie z.B. Energieferien (heute veraltend für „(Schul-­) Semesterferien“) sowie Produkt­bezeichnungen (z.B. Obers-/Apfelkren, Heuriger, Sturm, Most, Bäckerei „süßes Kleingebäck“) und einige Berufstitel (z.B. Primarius) und -bezeichnungen wie Tischler „Schreiner“ (so auch Vorarlberg), ferner u.a. Buschenschank (vs. Straußwirtschaft), Marille (vs. Aprikose) und sich verkühlen (vs. sich (v)erkälten) usw. (in seiner Dissertation hat Josef Schneeweiss (Klagenfurt 1998) eine rund 20 Seiten umfassende Darstellung von Austriazismen der Wirtschaftssprache vorgelegt, also aus dem Bereich der Verwaltungs-, Rechts- und Mediensprache, wo sie besonders gut fassbar sind. Gerade dieser Bereich spielt beim Übersetzerdienst der EU in Brüssel die größte Rolle; vgl. dazu u.a. Markhardt 1998:60-63);

(2) süddeutsche Austriazismen: der österreichische Wortschatz auf Grund der Zugehörigkeit des Landes zum süddeutschen Sprachraum wie z.B. Bub (vs. Junge), heuer (vs. dieses Jahr), Samstag (vs. Sonnabend), kehren (vs. fegen), Ferse (vs. Hacke), Rechen (vs. Harke), Orange (vs. Apfelsine), Knödel (vs. Kloß), Knopf (vs. Knoten), Stiege(nhaus) (vs. Treppe(nhaus)), gehören (vs. gebühren, sich schicken), richten „reparieren, in Ordnung bringen“, ausrichten „schlecht machen, herabsetzen“ usw., dazu auch ich bin gelegen/gestanden (statt nördlichem habe), hinauf- (vs. hoch-), hinauf/hinunter/hinaus (vs. nach oben/unten/draußen), jemand anderer (vs. jemand anders);

(3) bairische Austriazismen: der mit (Alt-) Bayern gemeinsame Wortschatz des größten Teils von Österreichs auf Grund der Zugehörigkeit beider Länder zum bairischen Großdialekt, z.B. Maut „Zoll“, Brösel „Panier­mehl“, Kren (vs. Meerrettich), Scherzel „Anschnitt des Brotes“, Kletze (vs. Dörrbirne), Topfen (vs. Quark), Kluppe (vs. Wäscheklammer), Fleckerl- (vs. Flicken-) -teppich, (Tinten-)  -patzen (vs. -klecks), pelzen „Obstbäume veredeln“, Einbrenn(e) (vs. Mehlschwitze) usw (s.o. 5 weitere Beispiele);

(4)  regionale Austriazismen (Untergruppen zu 1/2/3): ost-/west-/südösterreichische Beson­der­­heiten und solche einzelner Bundesländer, z.B. großräumig (Ost) Obers, Nachtmahl, Fleischhauer, Fasching, Gelse, Rauchfang, Stoppel vs. (West/Süd) Rahm, Mücke bzw. (West) Abend-/Nachtessen, Metzger, Fasnacht, Kamin, Stopsel, kleinräumig (es stellt sich die Frage, ob hier von Austriazismen im engeren Sinn zu sprechen noch gerechtfertigt ist) z.B. Strankerl „Fisole, grüne Bohne“ (Kärnten) oder Fraktion „Gemeindeteil“ (Tirol) oder Hotter „Gemeindegrenze“ (Burgenland).

Worin und wie unterscheidet sich nun hauptsächlich das „österreichische“ Deutsch vom „deutschländischen“ Deutsch?

(A)   Auf Ebene des geschriebenen Standards kaum, auf Ebene des gesprochenen Standards stärker (im geschriebenen Substandard jedoch weniger, da „bundes-/binnen-/norddeutsche“ Formen in Österreich kritiklos übernommen werden, wie z.B. Rauswurf „Hinauswurf“, Reinfall „Hineinfall“ (besser „Irrtum, Enttäuschung, Misserfolg, Fehlentscheidung“), Schnäppchen „günstiger, vorteilhafter Kauf“, Frühchen „Frühgeburt“ usw. – In Österreich scheint sich jetzt das zu wiederholen, was hinsichtlich der Sprache in den letzten 50 Jahren im Freistaat Bayern geschehen ist: das Zurückdrängen der Mundart aus dem öffentlichen Leben fördert das Überhandnehmen der binnen-/norddeutsch geprägten Standardsprache. Die süddeutsche Hochsprache, die in meiner Schulzeit die „normale“ Schriftsprache war, tritt immer mehr in den Hintergrund. Niemand wird fordern zu schreiben: er geht außi „er geht hinaus“ oder sie kommt einer „sie kommt herein“, doch das (vermeintlich richtige) er geht raus und sie geht rein können wir ständig lesen oder hören, aber es ist geschrieben genau so „falsch“, also ein Verstoß gegen die Standardnorm, wie die mundartlichen bairischen Formen in unserer alltäglichen Verkehrssprache. Uns ist offensichtlich das Gefühl dafür abhanden gekommen, was korrekte Schriftsprache ist und was nicht; den eigenen Substandard meiden wir, den aus anderen Regionen übernehmen wir kritiklos...).

(B)    Auf Ebene der täglichen Verkehrs- und Umgangssprache weniger vom süddeutschen Raum, mehr vom binnen-/norddeutschen.

(C)    Auf Ebene der Verwaltungs- und Rechtssprache erheblich.

(D)   Auf Ebene der Wirtschafts- und (Print-) Mediensprache weniger bei Bericht­erstattung zu Themen aus dem (v.a. deutschsprachigen) Ausland, mehr aus dem Inland.

(E)    Auf Ebene von Rundfunk und Fernsehen kaum – abgesehen von den Nachrichten­themen (wie D) und von landes-/regionalspezifischen Sendungen (wie F).

(F)    Auf Ebene der Alltagskultur wenig vom süddeutschen Raum, stärker vom binnen-/norddeutschen.

(G)   Auf Ebene der Mundarten überhaupt nicht (bzw. fließend entlang der Staats­grenze).

(H)   Auf Grund des pragmatischen Sprachverhaltens stark.

(I)   Auf Ebene der Schulsprache nach Bundesländern verschieden mehr oder weniger stark.

Im Mittelpunkt steht daher in erster Linie (C) samt den rechts-/verwaltungs­relevanten Ausdrücken aus der Alltagskultur (z.B. Nahrungsmittelbezeichnungen nach dem Lebensmittelgesetz oder gesetzlich geschützte landesspezifische Produkte), nicht aber die alltägliche Umgangssprache (die sich unabhängig von Amt und Schule weiter entwickelt, daher nicht lenkbar ist, Modeeinflüssen unterliegt usw.).

Abschließend noch ein paar Worte zur Terminologie: die Termini „Austriazismus“ und „Helvetismus“ sind klar, „Teutonismus“ und/oder „Deutschlandismus“ aber unscharf. Wie die Republik Österreich (West-/Ost- und Ost-/Südost-Gefälle) ist auch die Bundesrepublik Deutschland sprachlich in sich gegliedert (Nord-/Süd- und West-/Ost-Gefälle). Weder die Begriffe „Binnendeutsch“ noch „Teutonismen“ (in ihrer Gesamtheit) erfassen die ganze BR Deutschland, „bundesdeutsch“ aber ist zumindest die Rechts- und Verwaltungsterminologie und sollte daher auf dieser Ebene der entsprechenden „österreichischen“ (und ggf. „schweizerischen“) gegenübergestellt werden. Überall sonst sind die Grenzen fließend. „Bundesdeutsch“ ist also für die Rechts- und Verwaltungssprache klar verwendbar (im Sinne von C, das wären also dann die „Deutschlandismen“ im konkreten Sinn des Wortes), „Binnendeutsch“ ist hingegen ein rein sprachgeo­graphischer Begriff. – „Teutonismus“ ist m.E. ein unscharfer Begriff, der noch dazu bei Nicht-Fachleuten falsche Vorstellungen erwecken könnte, sollte daher tunlichst vermieden werden (wenn er auch in der Fachliteratur vorkommt, in Österreich v.a. bei Muhr, in Deutschland v.a. bei Ammon).

7. Diese Beobachtungen zeigen, dass das Verhältnis zwischen dem Deutschen in Österreich und in der BR Deutschland (einschließlich des Freistaates Bayern) ein sehr verwickeltes ist. Die innerstaatlich verlaufende Kommunikation, bedingt durch die Eigenstaatlichkeit (spätestens seit 1866/71) ließ einerseits die „staatsräumlichen Austriazismen“ der Amts- und Verwaltungs- bzw. Küchen- und Mediensprache entstehen und lieferte andererseits den Rahmen dazu, dass süddeutsche und bairische Besonderheiten in unserem Lande ihre Position gegenüber binnen- und bundesdeutschen Varianten besser behaupten konnten als etwa im Freistaat Bayern. Dazu kommt die Randlage Österreichs im Süden des deutschen Sprachgebietes und Randgebiete sind bekanntlich konservativer als Binnenräume. Entscheidend war für Österreich aber die Einbindung in die einheitliche gesamtdeutsche Standardsprache seit dem 18. Jhdt. (dazu vgl. v.a. Wiesinger 1997b, insbes. 754ff.), die einerseits die areale Gliederung des pluriarealen deutschen Sprachgebietes reflektiert, in Österreich im kleinen, in Deutschland im großen, andererseits die deutschen Großdialekte überdacht und damit die Kommunikation sicherstellt. Die plurizentrische Gliederung des deutschen Sprachgebietes ist sekundär sowie historisch jünger und reflektiert die neuzeitliche politische Entwicklung, hat aber bisher keine einheitlichen Sprachräume nach den Staatsgrenzen schaffen können, zumindest nicht auf der Ebene der Alltagssprache.

Inwieweit das österreichische Deutsch seine spezifischen Besonderheiten bewahren wird und dort, wo es eigene Ausdrücke besitzt, dem Einfluss aus dem Norden über die Massenmedien und die Wirtschaft widerstehen kann, hängt vom Sprachwollen der österreichischen Bevölkerung ab (sinngemäß gleich u.a. Wiesinger 1988:242). Es gilt daher ein ausreichendes Bewusstsein über die Eigenarten der österreichischen Varietät der deutschen Standardsprache zu schaffen (ähnlich Möcker 1992:249. – Derzeit scheint es zu fehlen, vgl. De Cillia 1995b:11f. ­– Diesem Defizit verucht die Broschüre (Österreichisches) Deutsch als Unterrichts- und Bildungssprache (hg. v. BMUKK) entgegenzuwirken (an dieser arbeiteten u.a. die auch in meinem Beitrag zirierten Autoren R. De Cillia und J. Ebner mit). Näheres s. im Internet unter Broschuere_BMUKK.htm). Ein ausgeprägtes österreichisches Nationalbewusstsein ist offensichtlich zu wenig, wie die neuere Entwicklung zeigt. Den eigenstaatlich geprägten Österreicher formte nämlich seine Alltagskultur mit ihren zahlreichen Einflüssen aus der vielsprachigen alpin- mittel- bzw. südosteuropäischen Region, was wiederum auf die Sprache zurückwirkte. In dieser Wechselbeziehung drückt sich das eigentliche Österreichertum im Rahmen des deutschen Sprachraumes aus. Wenn man „Pluralität“ (s.o. 2Das Wort „Pluralität“ meint „Vielheit“, eine davon muss im Falle Österreichs das deutsche Element sein, dass vielfach vernachlässigt wird, s.o. 2) als ein besonderes Kennzeichen des Österreichers sieht, sollte man auch die ungebrochene Offenheit zum gesamtdeutschen Sprach- und Kulturraum als einen wesentlichen Teil davon betrachten und die geographische Lage als Quelle der Bereicherung schätzen, zumal ja viele Kulturgüter zusammen mit den Wörtern über Österreich nach Deutschland gekommen sind. Daher sollte die österreichische Identität sprachlich in einem zwanglosen Gebrauch der süddeutschen Standardvarietät einschließlich des zum Standard gehörenden spezifischen Wortschatzes aus Amt und Alltagskultur zum Ausdruck kommen.               

 

LITE­RATUR

 

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