ERINNERUNGEN EINES GRÜNDUNGSMITGLIEDES

Als einige – es können höchstens zehn bis zwölf gewesen sein - Musikfreunde beschlossen, dem amtierenden Operndirektor Dr. Karl Böhm am 1.3.1956 vor einem FIDELIO (mit Gertrude Grob-Prandl, Julius Patzak, Edmond Hurshell, Josef Greindl, Waldemar Kmentt und Hans Braun) ihr Missfallen darüber auszudrücken, dass die Wiener Staatsoper nach der Operneröffnung im November 1955 im Niveau katastrophal abgestürzt war, wusste noch niemand, was sich daraus entwickeln würde.

Vorausgegangen war ein ehrliches, aber ungeschicktes Interview des Direktors Karl Böhm mit Karl Löbl, in dem er sagte, „er denke nicht daran, seine internationale Karriere der Wiener Staatsoper zu opfern“, was das Opernvolk damals enorm aufregte. Dass beides zugleich durchaus vereinbar ist, bewies wenig später Herbert von Karajan

Die Vorstellung am 1.3.1956 war zur Hälfte an die Gewerkschaft verkauft, und die Protestierer, die das damals neu erfundene „Buh“ einsetzten, staunten nicht schlecht, als die Gewerkschaftsjugend auf den restlichen Stehplätzen fröhlich buhend einstimmte, weil es ihr offenbar gefiel, dass „sich da etwas tat“. Zufälligerweise befanden sich zwei Radioreporter im Hause, die das gewaltige Buhkonzert aufnahmen und auch sendeten. Daraufhin trat Dr. Karl Böhm zurück, was niemand erwartet hatte.

Als es bekannt wurde, dass der damalige Chef der Bundestheaterverwaltung Dr. Ernst Marboe (Vater der noch jetzt im Kulturleben tätigen „Marboe-Brüder“) mit Herbert von Karajan verhandelte, war beim Publikum die Freude groß. Die Front gegen Karajan begann sich aber bereits zu formieren. Das hat ja bekanntlich die gesamten acht Jahre der Ära Karajan nicht aufgehört. Um auch dazu die Meinung des Stammpublikums abgeben zu können, das die damalige alte Kritikergarde für verkalkt hielt (Karl Löbl war der einzige Junge!), und um Karajan bei seiner Sisyphusarbeit der Umstellung auf die Originalsprache und ein internationales Sängerensemble zu unterstützen, wurde im Herbst 1956 der MERKER gegründet, ein „Verein zur Herausgabe eines Mitteilungsblattes“ erschaffen und die nötigen bürokratischen Hürden genommen. Mit einer Startauflage von 500-600 Stück – hektographiert und mit eingeklebten Künstlerfotos zu den jeweiligen Interviews – hielt sich diese Version bis 1988, um nach einem Jahr Pause gedruckt neu zu erscheinen.

Und jetzt gibt es den MERKER noch immer!

Ein paar Gründungsmitglieder arbeiten noch immer mit, etwa der Frankreich-Korrespondent Wilhelm Guschlbauer, und die unterzeichnete I.M.S.

Manche Leser der ersten Stunde lesen den MERKER auch noch immer.

Ad multos annos!

I.M.S.

 

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ERINNERUNGEN DER HERAUSGEBERIN

Herbert von Karajan feierte am 5. April 2008 seinen hundertsten Geburtstag.

Dann waren es ziemlich genau 51 Jahre her, dass er mit der Neuinszenierung von WALKÜRE am 2. April 1957 seine Tätigkeit als Künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper begann, die er am 17. Juni 1964 mit FRAU OHNE SCHATTEN beendete.

Als er die Leitung des Hauses übernahm, war das künstlerische Niveau der Wiener Staatsoper auf einen erschreckenden Tiefpunkt gesunken, eine heute so gut wie unbestrittene Tatsache. Innerhalb kürzester Zeit blühte das Haus am Ring aber wieder auf und entwickelte sich zum, auch das ist heute weitgehend unbestritten, zum besten Opernhaus der Welt.

Es war eine wunderbare und aufregende Zeit, die uns Karajan im Haus am Ring bescherte. Künstlerisch brachte sie uns fast ausnahmslos umjubelte Premieren, gültige Inszenierungen und viele grandiose Festaufführungen, denen natürlich auch ein mittelmäßiges Repertoire gegenüberstand. Denn: „Wo viel Licht ist, ist viel Schatten!“

Dazu möchte ich den Merker mit einem Satz (3. Jahrgang, Heft 12) zitieren, in dem die Aufführungen des November 1958 besprochen wurden: „Und trotz scharfer Kritik dürfen wir nicht vergessen, im Jahr 1955 und 1956 hätten wir dieselben Vorstellungen als Aufschwung, ja als Fest angesprochen, so arm waren wir damals, und so reich sind wir heute, daß wir uns solche Unzufriedenheit, aus gutem Grund, leisten können.“ Ein Satz, der mir immer dann zu denken gibt, wenn ich die heute zumeist geäußerte Feststellung höre: „Es ist gar nicht einmal so schlecht!“ Damals wurde darüber diskutiert und gestritten, wer nun in dieser oder jener Partie oder am Dirigentenpult besser sei.

Die Ära Karajan brachte eine rasche Umstellung des Repertoires auf Originalsprache, was nicht immer problemlos ablief, aber die Basis für die herrlichen Aufführungen vor allem von Verdi und Puccini ermöglichte und auch für die Opern Mozarts von großem Vorteil war. Karajan dirigierte und inszenierte fast alle Werke Richard Wagners und schuf so einen eigenen Wiener Wagner-Stil. Seine Ära brachte den Aufbau eines Ensembles nach modernen Vorstellungen, etwas, das auch als „Stückensemble“ bezeichnet wurde. Es gab auch eine gedeihliche Nachwuchspflege und eine Reihe von Aufführungen moderner Opern, mehr als in den Direktionen danach.

Dies alles ist im MERKER nachzulesen. Denn hier wurde fast jede Aufführung besprochen. Dieser Zeitschrift ist eine Fundgrube und eine komplette Dokumentation dieser großartigen Ära. Ich habe auch die Berichte über die Salzburger Festspiele bewusst aufgenommen, da man sie in dieser Zeit mit vollen Recht als Sommerfiliale der Wiener Staatsoper bezeichnet hat, was – meiner Meinung nach – durchaus als Kompliment aufzufassen war.

Diese Zeitschrift zeigt aber auch deutlich das gespannte Verhältnis zwischen der künstlerischen Leitung der Wiener Staatsoper und der Wiener Musikkritik. Man kann in diversen Leitartikel die „Freunderlwirtschaft“ und die Wiener Giftküche sehr gut erkennen. Diese Artikel sind daher mit voller Absicht in diese Arbeit aufgenommen. Es soll damit auch gezeigt werden, wie vorsichtig man mit den diversen Rezensionen umgehen soll. Als Beispiele sollen hier „Verrisse“ über Aufführungen angegeben werden, die heute den allgemein anerkannten Begriff „legendär“ tragen: Falstaff, Tosca, Die Macht des Schicksals, die Fledermaus usw.

 

IN EIGENER SACHE

Der Beginn der Ära Karajan fällt mit dem Beginn meiner regelmäßigen Stehplatz-Besuche in der Wiener Staatsoper zusammen. Als knapp Fünfzehnjährige habe ich die Walküre- und die Othello-Premiere erlebt und die Tage danach in völliger Begeisterung zugebracht. Ich habe danach alle die Premieren und viele, viele der hervorragenden Aufführungen (und natürlich auch weniger gute) besucht. Ich bin ein Teil des Stammpublikums geworden, für das die Wiener Staatsoper zu einem wichtigen Bestandteil des Lebens geworden ist.

Ich selbst war zwar nie Mitglied der Merkerredaktion, habe aber deren Mitglieder alle gut gekannt. Natürlich habe ich die Hefte alle gelesen, auch wenn ich nicht immer mit den Besprechungen wirklich einverstanden war. Aber das waren eher Ausnahmen. Nicht nur das Stammpublikum wartete zumeist voll Ungeduld auf die nächste Nummer. Auch die Sänger gehörten zum Leserkreis, wenngleich sie das oft bestritten.

Man hatte es als Anfänger auf dem Stehplatz nicht leicht, da erst die Phalanx der durch lange Anstellschlachten zusammen-geschweißten Stammbesucher durchbrochen werden musste. Man musste sich integrieren, selbst ein Teil dieses Publikums werden, um auch einmal auf den besseren Plätzen zu landen. Und dabei bekam man Lektionen über Atemtechnik, Phrasierung, Ausdrucksmöglichkeit und Darstellungsfähigkeit der einzelnen Sänger eingebläut. Und so lernte man selbst zu horchen und herauszufinden, worauf es ankommt. Es gab keine bessere Schule dafür. Und man muss keineswegs ein selbst ausübender Musiker sein, um die Qualität einer Aufführung zu spüren.

Dieser Meinung war auch Herr von Karajan. Dazu mag die Beschreibung einer unvergesslichen Szene beitragen: Die Plattenaufnahmen von Madama Butterfly  in den Wiener Sophiensälen gaben vielen die Gelegenheit, den Maestro auch wieder einmal in Wien wenigstens zu sehen. Eines schönen Nachmittags lief dort ein völlig Fremder auf und ab, der von uns sehr skeptisch betrachtet wurde. Als dann Karajan das Haus verließ, rannte dieser Fremde zu unserem fürchterlichen Schreck auf Karajan zu, fiel ihm um den Hals und rief: „Sie sind sicher der Karajan. Ich wohn' da gegenüber und hör' die ganze Zeit die Musik. Ich versteh' zwar gar nix davon. Aber ich muss Ihnen sagen, das ist sooo schön.“ Und darauf lächelte der jeder wilden Attacke abholde Maestro, klopfte nun seinerseits dem Fremden auf die Schulter und sagte: „Sie müssen gar nichts von Musik verstehen, Hauptsache Sie spüren sie. Sie haben mir jetzt eine große Freude gemacht." Sprach es und ging und ließ uns fassungslos zurück.

Und wie bei den Anstellschlachten um die Sitz- und Stehplätze – immerhin haben wir ganze Nächte bei der Oper zugebracht – gesprochen wurde, so wurde auch im MERKER geschrieben. Wie schon in der Einleitung gesagt, habe ich einige wenige Auswüchse entschärft. Aber solange ein Kritiker in einer offiziellen Tageszeitung eine Sängerin als "Kredenz auf Radeln" bezeichnen durfte, solange musste man sich im MERKER auch nicht zurückhalten.

Und nun zur praktischen Benützung: Auf der Seite INHALT sind zur Vorinformation Neuinszenierungen und wichtige Ereignisse bei den einzelnen SAISONEN  angegeben, über deren Link man zur MONATSÜBERSICHT mit weiteren Vorinformationen kommt. Ein Klick auf den jeweiligen Monat, und Sie sind mitten im Lesevergnügen. Auch die ZUSAMMENFASSUNG, die seit dem 5. April 2010 im Internet steht und interessante Daten, Fakten und Zahlen enthält, ist auch über den INHALT – nach den Saisonen – zu finden.

Hedda Hoyer als Herausgeberin

Mit vielem Dank an die hilfreichen Hände von

Eva Taudes und

Heinrich Schramm-Schiessl

 

P.S. Wir haben uns um eine einheitliche Schreibweise der Namen bemüht und bitten um Entschuldigung für alle vorhandenen Tippfehler. Für Hinweise und Korrekturvorschläge sind wir dankbar!

hedda.hoyer@chello.at

 

 

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