Alexander Issatschenko

 

Wenn Ende des 15. Jahrhunderts Novgorod über Moskau den Sieg errungen hätte …

Über eine nicht stattgefundene Variante der Geschichte der russischen Sprache

 

Aus dem Russischen übersetzt von Otto Kronsteiner

 

Die folgenden Überlegungen sind als Gedankenexperiment zu verstehen. Der Autor hält den Ablauf der Geschichte nicht für absolut unumgänglich. Bei allen historischen Prozessen gab und gibt es Wendepunkte: Scheidewege. Die Wahl des einen oder anderen Weges hängt oft vom blinden Zufall ab. Ein solcher Scheideweg in der Geschichte des russischen Volkes (und der russischen Sprache) war das Ende des 15. Jahrhunderts, als die Frage über die führende politische Kraft bei der Vereinigung der russischen Länder entschieden wurde.  Ungeachtet der politischen Erfolge Moskaus blieb Novgorod ernster Rivale der zentralistischen Politik Ivans III. 

Wir wissen, welchen Verlauf die russische Geschichte nach dem Sieg Moskaus nahm:  der russische Grossfürst Ivan, faktisch noch ein Vasall der Goldenen Horde, verwandelt sich in einen absolutistischen Zaren, einen Nachfolger byzantinischer Grösse, und der moskovitische Staat übernimmt von Byzanz, gemeinsam mit dem zweiköpfigen Adler, die Rolle des Verteidigers und Hüters der Glaubensreinheit. Der Kampf aber für die Reinheit des orthodoxen Glaubens schliesst nicht nur die ideologische Polemik mit dem westlichen Christentum ein, sondern auch einen erbitterten Kampf gegen den Fortschritt in all seinen geistigen und praktischen Erscheinungsformen. Es kann nicht übersehen werden, dass die ganze blutige Geschichte des russischen Absolutismus und Despotismus Endes des fünfzehnten, Anfang des 16. Jahrhunderts, gerade in Moskau seinen Anfang nimmt. Die Aufzeichnungen des Barons von Herberstein über die moskovitischen Zustände zur Zeit Vasilijs III. erinnern frappierend an politische und alltägliche Züge der russischen Wirklichkeit uns näherer Epochen.

Indem Moskau den griechischen und slawischen Emigranten aus dem Süden Zuflucht gewährte, drehte es das Rad nicht nur der Geschichte des Landes selbst entscheidend zurück, sondern auch das der Geschichte der Schriftsprache.

Die sich in der komplizierten kulturpolitischen und sprachlichen Realität nicht zurecht findenden balkanischen Buchgelehrten kъnigъčii werden zu Verbreitern völlig absurder und zutiefst reaktionärer Massnahmen. So werden in die Orthographie der russischen Sprache des 15. Jahrhunderts absolut fremde Elemente eingeführt: es wird der Buchstabe ѫ [ǫ bzw. oN] wieder eingeführt, der auf ostslawischem Boden nie eine fonologische Berechtigung hatte; es wird die Schreibung des Typs vsea (statt vseja), pъlkъ statt polkъ, velikij (statt velikii oder velikoi) eingeführt. In die Schriftsprache wird gewaltsam eine ihr fremde Morphologie eingeführt; Syntax und Lexikon werden archaisiert. Die Stilisierung schriftlicher Darstellungen wird zum Selbstzweck und macht den Text völlig unverständlich, wie z.B. in den Werken des Diakons Timofeev. Alle diese künstlichen Massnahmen vertiefen nur den Abgrund zwischen der Schreibsprache „erhabener“ Texte und der Sprache der Bevölkerung. Die Zweisprachigkeit, die im Westen am Ende des Mittelalters beseitigt wurde, wird na Rusi, in der Rus’ zu einem sehr ernsten Hindernis des geistigen und kulturellen Wachstums des Landes. Das, was man in Lehrbüchern konventionellerweise andächtig Kyprianische Reform oder vtoroe južnoslavjanksoe vlijanie zweiten südslawischen Einfluss nennt, erweist sich in Wirklichkeit als Phänomen eines Obskurantismus, der auf lange Zeit die russische Sprache von ihren Quellen trennt und eben dadurch auch das moskovitische Russland von seinen europäischen Zeitgenossen. Die Hinweise auf die geplante (und gewissermassen gewünschte) Annäherung der russischen Sprache an die bulgarische oder serbische kann man kaum ernst nehmen. Die Annäherung an die südslawischen Völker, die unter türkische Herrschaft fielen, lässt sich nicht mit der Megalomanie der moskovitischen Zaren in Verbindung bringen. Kurz, am Vorabend der Einführung des Buchdrucks bindet sich in der Rus’ die gesamte Autorität der Kirche fest und lang an die künstliche, spitzfindige und im Grund tote Sprache des Mittelalters. Damit ist nicht nur der allgemeine Verfall der Moskauer Literatur verbunden, wie ein Forscher wie Buslaev betont. Damit in Zusammenhang steht auch die gesamte Verspätung der russischen Kultur.

Nicht mit dem tatarskoe igo, dem Tatarenjoch, nicht mit Stagnation und Konservatismus, sondern mit dem Geist aktiver Reaktion ist das Zurückbleiben des Moskauer Staates auf allen Gebieten der Wissenschaft, der Technik, der staatlichen und militärischen Organisation, des Finanzwesens, der Rechtsnormen, und schliesslich der Kunst, ja sogar der Theologie, zu erklären. Die politische Befreiung von der Tatarenherrschaft zieht nicht eine Periode stürmischer Kulturentwicklung nach sich und macht nicht die schöpferischen Kräfte einer Gesellschaft frei, die die politische Freiheit gefunden hat. Es fällt schwer, Ivan den Schrecklichen einen aufgeklärten Monarchen zu nennen. Die Zeit der Wirren smutnoe vremja und die Regierungszeit der ersten zwei Romanovs unterscheiden sich nicht durch progressive Reformen oder einen „Sprung nach vorn“. Wieder einmal (zum wievielten Mal schon!) werden die „Bücher“ einer Reform (d.h. einer künstlichen Archaisierung) unterzogen und wieder einmal triumphiert das Nikonsche Prinzip der Archaisierung und des Byzantinismus über die sehr ungeschickt formulierten Keime neuer (protestantischer) Ideen. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war es der russischen Sprache nicht bestimmt, das Bürgerrecht in der nationalen Kultur zu finden, sich den Platz zu erobern, den in ihren Kultursphären das Englische, Französische, Italienische und Deutsche längst einnahmen. Bewusst überspitzt formulierend sind wir der Ansicht, dass einer der Hauptgründe des Zurückbleibens der russischen Kultur in der vorpetrinischen Zeit die Absenz einer autoritativen natürlichen Sprache war.

Die Düsternis des gezeichneten Entwicklungsbilds ist nicht das Produkt einer einseitigen Schwarz/WeissMalerei. Man muss schliesslich den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen, und nicht für das, was sich ereignete, historische Rechtfertigungen zu suchen. Die mittelalterliche Schwülstigkeit des Kirchenslawischen [Altbulgarischen] wurde unmässig verlängert, das russische Mittelalter selbst erst durch das Auftreten Peters des Grossen beendet. Aber versuchen wir, uns kurz vorzustellen, dass in der entscheidenden Phase, in den 70-er Jahren des 15. Jahrhunderts, nicht Moskau sondern Novgorod Vollender der „Vereinigung der russischen Länder“ gewesen wäre.

Von allem Anfang an unterschied sich die politische Organisation Novgorods und der Novgoroder Länder von den übrigen Teilgebieten durch ihre originelle demokratische, fast republikanische Verwaltungsform. Die Beschränkung der Macht des Fürsten und des Statthalters Posadnik, die führende Rolle des Parlaments Veče, der aktive Handels- und Kulturaustausch mit den Seefahrerländern des Baltikums, das fast völlige Fehlen politischer Bedrohung von Seiten der nomadischen Steppe, die Unerlässlichkeit, sich technisch mit der Bewaffnungstechnik und Kriegstaktik der Heere des Ritterordens zu messen – all das hinterliess tiefe Spuren im staatlichen Aufbau, im politischen Denken, in der wirtschaftlichen Struktur des StadtStaates und betraf in entscheidender Weise die Lebensart seiner Bewohner.

Auch in den schrecklichen Jahren der TatarenEinfälle fiel Novgorod nicht unter mongolische Okkupation. Der erniedrigende Kollaborationismus mit den Okkupanten    so charakteristisch für die moskovitischen (und anderen) Fürsten des russischen Landes (Daniil, Ivan Kalita) aber auch für die Spitzen der orthodoxen Kirche – artete in Novgorod nie zu dieser widerwärtigen Kriecherei aus. Die „Gesetze“ der Goldenen Horde, das mongolische Geldsystem, die tatarischen Masseinheiten, ganz allgemein die östlichen Sitten, die in Moskau Fuss fassten und in vielem die Art des mittelalterlichen Moskoviters bestimmten,    auch sie erreichten Novgorod nicht.

Novgorod und die Novgoroder Länder – eben dieser russische Norden fesselt heute die Kenner der russischen Kunst beiderseits der Grenzen so sehr. Angefangen von der monumental strengen Architektur der ältesten Novgoroder Kirchen, die sich so sehr von den Erzeugnissen der Kiewer Architektur unterscheiden, bis hin zu den in der Orthodoxie so äusserst seltenen Holzskulpturen, die vor kurzem auf den Dachböden kleiner Kirchlein des Nordens gefunden wurden, schufen Novgorod und die Novgoroder Länder originelle Kostbarkeiten, die weder in Kiew noch in Zentral-Russland Parallelen haben.

Die Sprache der Novgoroder Chroniken enthält eine ganze Reihe lexikalischer Elemente, die den Text nicht mit Kiew sondern mit westslawischen Traditionen verbinden. In Novgorod und nicht in Kiew wurde das erste Gesetzbuch der Ostlawen, die Pravda russkaja geschaffen und vielfach abgeschrieben. In Novgorod und nicht in Kiew entstand die Kanzleisprache des ostslawischen Mittelalters. Man kann die völlige Absenz eines juridischen Schrifttums in der vormongolischen Zeit im Süden des Kiewer Staates kaum ausschliesslich auf das unangenehme Zusammentreffen historischer Umstände („Brände“ und „Raubzüge“) zurückführen. Während wir über ein ziemlich grosses Corpus eines Novgoroder, Pskover und etwas später auch Smolensker Kanzleischrifttums verfügen, haben wir nicht die geringsten Vorstellungen von einer Kanzleisprache in Kiew.

In Novgorod und nicht in Kiew (auch nicht in Moskau) wurden persönliche Notizen und Briefe auf Birkenrinde gefunden, die (auch wenn sie nur wenig hergeben zur Ergänzung unseres Wissens über die Sprache der Epoche) unbestreitbar eine kultur-historische Erscheinung erster Ordnung sind. Im russischen Norden und nicht in den moskovitischen Ländern haben sich bis heute Spuren des ältesten Volksepos der Ostslawen, die Stariny erhalten. Im russischen Norden und nicht in Moskau haben sich die Urbilder einer eigenständigen Holzarchitektur (z.B. in Kiži) erhalten. Der Geschmack der italienischen Maurer, die den schnörkelhaft-asiatischen style russe eines Vasilij Blažennyj  schufen, hat die monumentale Einheit des Novgoroder und Pskover Kremls nicht verdorben.

Schon oft wurde von den Sprachforschern und Literatur-wissenschaftern bemerkt, dass der Erzählstil der Novgoroder Chroniken bedeutend nüchterner ist als der Stil anderer Chroniken, dass die Sprache weniger gewunden und der Umgangssprache näher ist. Wahrscheinlich hängt dieser Zug des Novgoroder Schrifttums direkt mit der demokratischen Struktur des StadtStaates zusammen, mit dem relativ hohen Prozentsatz schriftkundiger Leute, die gewohnt waren, russisch zu schreiben, kurz, mit der allgemeinen Transparenz der Novgoroder Lebensart. Eben in Novgorod ist das kirchenslawische Sprachelement von der dialektal gefärbten natürlichen Sprache der Bewohner geprägt.

Nach dem Fall von Konstantinopel (1453) und der Invasion der Türken auf der Balkanhalbinsel erwies sich Moskau faktisch als von Byzanz abgeschnitten, d.h. von der Quelle, aus der es all seine geistigen und kulturellen Werte schöpfte. Aber statt sich der europäischen Realität zuzuwenden, baut der moskovitische Staat seine Ideologie auf einer durch völligen Bankrott geschädigten Ideologie eines zusammengestürzten Imperiums auf. Statt sich der gesamteuropäischen geistigen Bewegung der Renaissance, des Humanismus und der Reformation anzuschliessen, grenzt sich das moskovitische Russland, von Byzanz nunmehr abgeschnitten, mit allen Kräften vom lateinischen Westen ab.

Es spricht sehr viel dafür, dass Novgorod in bedeutendem Mass in den Prozess geistiger Unruhe eingebunden war, der am Ende des 15. Jahrhunderts Mittel-, West- und Nordeuropa erfasst hatte. Es fällt schwer, die gleichzeitige Erscheinung religiöser Bewegungen in verschiedenen Gegenden Europas, die gegen die offizielle Kirche gerichtet waren und eindeutig sozialökonomische Wurzeln hatten, für zufällig zu halten. Hier ist nicht der Ort, die theologischen und sozialpolitischen Grundlagen der antikirchlichen Bewegungen zu analysieren, die in Novgorod und Pskov zu Tage traten und den Namen Strigol’niki und Židovstvujuščie (Jüdisierende) erhielten. Die Leugnung der Existenz von Heiligen, die Absage an die IkonenVerehrung, die sich verschärfende Polemik mit der kirchlichen Hierarchie, das Motiv der „Uneigennützigkeit“, dies alles bringt diese Häresien in die Nähe der verschiedenen  rationalistischen Strömungen des westeuropäischen Protestantismus. Der Kampf gegen Dogmatismus, die Idee der Säkularisierung des Denkens, dies ist typisch für das Westeuropa der Reformation sowie für das Novgorod und Pskov am Ende des 15. Jahrhunderts.

Den Sprachforscher interessiert in erster Linie das Schicksal der Sprache. In allen Ländern des katholischen Europa, in denen die Reformation siegte, war die hervorstechendste und wichtigste Folge der AntiRomBewegung der Kampf gegen das Lateinische und die Einführung der NationalSprache.  Ohne die Lutherische Bibelübersetzung in Deutschland gäbe es keine Reformation. Nur im Zusammenhang mit der Reformation entstehen schon im 16. Jahrhundert Deutsch, Litauisch, Slowenisch, Ungarisch und viele andere Schriftsprachen. Verbreiter der neuen, eindeutig antifeudalen Ideen sind der niedere Klerus und das städtische Bürgertum.

Angesichts dieser allgemein bekannten Fakten ist es nicht allzu kühn, anzunehmen, dass auch in Novgorod und Pskov – in den Zentren der mittelalterlichen Revisionisten    sehr spürbare Voraussetzungen bestanden für den Austausch der fremden und wenig verständlichen kirchenslawischen Sprache mit der natürlichen, d.h. der russischen Sprache. Wenn die Häresie der Jüdisierenden nicht gleich nach ihrem Erscheinen ausgerottet worden wäre, wenn Novgorod die Chance gegeben worden wäre, die neue religiöse Lehre zu entwickeln und zu propagieren, dann wäre die Übersetzung der Heiligen Schrift ins Russische unvermeidlich gewesen. Eine solche „Gefahr“ bestand offensichtlich tatsächlich. Gewissermassen als Gegengewicht zu möglichen Massnahmen „von unten“ organisierte der Novgoroder Erzbischof Gennadij eine neue Übersetzung der biblischen Texte (1489-1499), wobei in den Kreis der zu übersetzenden Originale nicht nur griechische, sondern, was besonders charakteristisch ist, auch lateinische, hebräische und sogar deutsche Texte einbezogen wurden.

Auch ohne üppige Fantasie ist es nicht schwer, sich vorzustellen, welche Richtung die Entwicklung der russischen Sprache genommen hätte, wenn Anfang des 16. Jahrhunderts statt der Kyprianischen Reform der vollständige russische Bibeltext erschienen wäre. Ein Teil des Klerus hätte mit der gleichen Feindseligkeit reagiert, wie ein Teil des katholischen Klerus auf die Lutherische Übersetzung. Das Schisma der russischen orthodoxen Kirche hätte 100 bis 150 Jahre vor dem Nikonschen Schisma stattgefunden, nur wäre der Sieger nicht die ultra-reaktionäre Partei des Patriarchen gewesen, sondern der demokratische Teil des Klerus und der aufgeklärten Stadtbevölkerung.

Jede Nationalsprache, die für die Anwendung im Gottesdienst für würdig befunden wurde, hat eben dadurch in der Gesellschaft höchste Autorität erlangt. Es ist äusserst wahrscheinlich, dass die liturgische Eigenart einer hier angenommenen russischen Sprache bedeutende Elemente des traditionellen Kirchenslawisch in sich aufgenommen hätte. Auf diese Weise hätte die Amalgamierung der Buchsprache und der natürlichen  Sprache nicht erst im achtzehnten, sondern schon im 16. Jahrhundert begonnen. Und diese neue, in phonetischer, morphologischer und syntaktischer Hinsicht russische Schriftsprache, und eigentlich erst jetzt literarisch gewordene Sprache, hätte ihren Triumphzug durch das Land gemacht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Sprache, vom Novgoroder Zentrum ausgehend, statt der moskovitischen einige Dialektmerkmale Novgorods hätte. Die Kenntnis und ständige Lektüre der Bibel ist die Grundlage des Protestantismus. Die Existenz einer russischen Übersetzung hätte die Basis der Schrift-Beherrschung der Bevölkerung beträchtlich erweitert. Die Heilige Schrift wäre in der Muttersprache bei weitem zugänglicher als in der wenig verständlichen Kirchensprache. Die Säkularisierung der Sprache hätte unvermeidlich eine Säkularisierung der gesamten Kultur zur Folge gehabt, die Beseitigung künstlicher Hindernisse, die das unbewegliche russische Mittelalter wie eine kaum durchdringbare Mauer von der neuen europäischen Geschichte trennt.

Der politische Sieg Novgorods über Moskau hätte eine Reihe anderer, kaum weniger wichtiger Folgen nach sich gezogen. In Novgorod machte sich nicht das wilde Asiatentum des Moskauer Hofes breit mit seinem Argwohn gegenüber allem Ausländischen, mit seiner Grausamkeit und Rechtlosigkeit. Man kann annehmen, dass Novgorod sich etwa so entwickelt hätte wir Riga oder Stockholm. Die europäische Lebensform wäre nicht Ende des siebzehnten, sondern schon Mitte des 16. Jahrhunderts nach Russland vorgedrungen. Die europäische Kunst (die Malerei, die Musik, das Theater, die Poesie), die Geistes- und Naturwissenschaften, Kleidung und Haushaltsgerät, Medizin und Mathematik, Philosophie und klassische Bildung, all das konnte im Novgoroder Staat volles Bürgerrecht erhalten. Noch im 16. Jahrhundert wäre es möglich gewesen, all das aufzuholen, was in den zwei Jahrhunderten Tatarenherrschaft versäumt wurde. Der Moskauer Kreml rechnete mit dieser Möglichkeit und traf die nötigen Massnahmen, eine solche Entwicklung zu unterbinden: im Jahr 1494 schliesst Ivan III. die letzte Handelsniederlassung der Hansa in Novgorod, und die Grenze zum Westen wurde fast hermetisch geschlossen.

Moskau mit seinem ultrareaktionären Isolationismus war ungeeignet, aus dem halbasiatischen Reich einen europäischen Staat zu machen. Dafür benötigt man eine völlige Revision der Staatsideologie, eine Verlegung des Zentrums des neuen Imperiums an einen Ort, von dem aus sich ein Fenster nach Europa leichter aufmachen lässt. Aber wenn wir annehmen, dass die führende Kraft Russlands noch im 15. Jahrhundert Novgorod  statt Moskau sein konnte, dann wäre auch das berühmte Fenster überflüssig. Stand doch die Tür nach Europa sperrangelweit offen.

Wenn im Gefolge der Übersetzung der Heiligen Schrift ins Russische im 16. Jahrhundert das Kirchenslawische in den Hintergrund gedrängt oder einfach überhaupt verdrängt worden wäre, dann würde der Prozess der Entstehung einer russischen Sprache nicht erst im achtzehnten, sondern schon im 16. Jahr-hundert begonnen haben, und seit dem 17. Jahrhundert hätte eine neue (klassische)  russische Literatur entstehen können, wie auch in den anderen Ländern Europas. Statt der erschütternden, von einem wütenden Protopopen in einer wenig gebildeten, groben Sprache geschriebenen Vita, könnte die russische Literatur ihre Molières und Racines haben    Zeitgenossen eines Avvakum.

Wir werden nicht fortsetzen: nichts vom Dargelegten hat sich ereignet. Die Geschichte Russlands und der russischen Sprache nahm eben den Verlauf, den wir in allgemeinen Zügen kennen. Aber wir sollten nicht der „Hypnose nackter Tatsachen“ unterliegen, besonders nicht, wenn diese Fakten manipuliert und bisweilen in einer spezifischen Verpackung überreicht werden. Unser Exkurs in ein Gebiet des wissenschaftlich Möglichen aber NichtGeschehenen hatte lediglich das Ziel, panegyrische Akzente von der traditionellen Geschichte der russischen Sprache zu nehmen, in der das Epitheton moskovitisch eine fast mystische Aureole erhalten hat. Bei aller Anerkennung einiger unbestreitbarer Verdienste der Moskauer Autokraten und Usurpatoren muss man einige russischer Seele liebgewordene Assoziationen, im Zusammenhang mit der Vorstellung über ein urtümliches Russland und Moskauer Kommunionbrot-Bäckereien [im Original: о московскихпросвирнях“], ohne die es sozusagen keine vollkommene russische Sprache gäbe, klar aussprechen, dass die Moskauer Variante der russischen Geschichte sich nicht als die progressivste, gelungenste, ja nicht einmal „unerlässlichste“ erwies, und dass man sich nur im Gefolge einer radikalen Überschätzung der Werte vom Stereotyp, das die Rus’ mit dem vorpetrinischen Moskau gleichsetzt, befreien kann und soll. Gerade dort, wo so grosszügig Bemerkungen fallen über Progressivität und Reaktion, sollte man sich vom schädlichen Objektivismus bei der Beurteilung der permanenten Massnahmen der Moskauer politischen und kirchlichen Machthaber lossagen, die nur auf die Ausrottung selbst der bescheidensten Versuche gerichtet waren, die russische Sprache aus dem Dunst der Kneipen und der Modrigkeit der Amtsstuben auf den weiten Weg einer, einer grossen Nation würdigen Nationalkultur zu führen.

Unser Gedankenexperiment hatte zum Ziel, den gefährlichen Automatismus traditioneller Beurteilungen der Geschichte der russischen Sprache in Zweifel zu ziehen und auf dem Hintergrund dessen, was „hätte sein können“ das Wesen dessen zu zeigen, was tatsächlich war.

 

Erstübersetzung  in der Zeitschrift Die Slawischen Sprachen (Salzburg) Bd. 13/1987: 35-43;

Erstpublikation in Wiener slavistisches Jahrbuch, Bd. Bd 18: 48-55;

Erste Veröffentlichung in Russland: ВЕСТНИК РОССИЙСКОЙ АКАДЕМИИ НАУК 1998, том 68/11.

 

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