Überlegungen zu den Begriffen Ethnos und Nation, ethnische und nationale Identität

(s.a. Volk u. Nation)

Ethnos / Ethnie, Nation, Volk, Staat, Nationalismus, Patriotismus, ethnische / nationale Identität – sie bedeuten alle etwas Ähnliches und werden in der Fachliteratur unterschiedlich verwendet, definiert, verknüpft usw. Eine universelle Begriffsbestimmung zur „Nation“ zu geben, gelingt nicht; bei Durchsicht der Literatur gewinnt man den Eindruck, es gebe so viele Nationsbegriffe wie Nationen (dies zeigt sich m.E. auch im Verhältnis zwischen „deutscher Kulturnation“ und „österreichischer Nation“). Eine Nation ist offensichtlich eine jede Gruppe, die sich als solche bezeichnet.  Grundlage für die Nationsbildung waren dabei in der Regel sprachlich-kulturelle Gemeinsamkeiten, die nun besonders betont wurden. Das angestrebte Ziel war die Zusammenfassung der sprachlich definierten „Kulturnation“ in einem Staat. Daher diente die Nation als Ideologie der „Gleichschaltung“ (oder besser: „Vereinnahmung“) im Übergang von Agrargesellschaften zu modernen Industriegesellschaften, die eine homogene Bevölkerung verlangen und trägt zur Sicherung dieser Homogenität bei. Weiters ist wichtig die territoriale Komponente: Nationen beanspruchen ein Territorium (den „Staat“), den sie möglichst homogen und exklusiv auszufüllen trachten. Daher  können ethnisch-sprachliche Minderheiten darin nur schwer ihren Platz finden; multinationalen Staaten ist / war meist keine lange Lebensdauer beschieden.

Die oft geäußerte Bestimmung des Begriffs Nation (= „Schicksalsgemeinschaft“, die auf gemeinsame Abstammung, gemeinsame Geschichte und Tradition, Religion etc. zurückgeht) ist in der Regel Fiktion und bleibt im nationalistischen Kontext. Weit verbreitet ist insbesondere die Ansicht, die eine Nation bildende Bevölkerung hätte eine gemeinsame Abstammung. Demnach gäbe es einen realen Kern der Nationsbildung, einen Nukleus, der die ethnische Zugehörigkeit bewirkt (hat), die jeder „hat“, genauso wie man ein Alter, eine Augenfarbe, ein biologisches Geschlecht „hat“. Es ist jedoch eher anzunehmen. dass – zumindest im europäischen Kontext, aber auch anderswo – ethnische und nationale Zugehörigkeit ein- und dasselbe bedeuten. Das heißt: sobald ethnische Zugehörigkeit bedeutsam wird, ist sie nationale Zugehörigkeit. Die Präsentation von Nation als Abstammungsgemeinschaft ist trotzdem äußerst wirkungsvoll, denn sie dient der genannten Homogenisierung. Man hat es mit sozialen Kommunikationsphänomenen zu tun, bei denen nicht ausschlaggebend ist, wie sich die Dinge „wirklich“ verhalten, sondern wie die Menschen glauben, dass sie sich verhalten – kurz: es handelt sich um ein ideologisches Phänomen.

Somit bleibt als einzig „authentisches“ Element das Zugehörigkeitsgefühl. Diesem ethnischen Gefühl (Nationalgefühl) kann sich niemand so recht entziehen, was für die Wirksamkeit dieser Ideologie im Rahmen der Modernisierung europäischer Gesellschaften spricht. Man sollte also nicht von ethnischer / nationaler Identität sprechen, also so tun, es handle sich hier um etwas, was man hat (wie eine Haar- oder Augenfarbe), sondern von ethnischem / nationalen „Gefühl“ oder „Bewusstsein“. Die Attribute „ethnisch“ und „national“ sind dabei austauschbar.

Nach Benedict Anderson sei der Begriff „Nationalismus“ nicht wie „Liberalismus“ oder „Faschismus“ zu betrachten, sondern wie „Verwandtschaft“ oder „Religion“ und er definiert die Nation dann so: „Sie ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“. „Vorgestellt“ sei sie deswegen, weil ihre Mitglieder die meisten anderen zwar nicht kennen, aber dennoch existiere im Kopf eines jeden die Vorstellung von ihrer Gemeinschaft, „begrenzt“ ist sie, da es einerseits sehr viele davon gibt und andererseits sich keine Nation mit der ganzen Menschheit gleichsetzt, „souverän“ ist sie, da Maßstab und Symbol der nationalen Freiheit der souveräne Staat ist, und eine „Gemeinschaft“ ist sie, da sie als kameradschaftlicher Verbund von Gleichen verstanden wird.

(bearbeitet nach Werner WEILGUNI und Ernest GELLNER sowie Benedict Anderson, s. Literaturverzeichnis, weiters Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2004).

Näheres s. Sprachinseln und Volk u. Nation