Volk und
Nation
Rezension des Buches: Christian Böttger, Der Nebel um den Volksbegriff.
Lindenbaum Verlag, 56290 Schnellbach
2014, 408 Seiten, 24,80 €, ISBN
978-3-938176-50-4
Zunächst
einige allgemeine Bemerkungen zur Einleitung – mit Überlegungen zu den
Begriffen Ethnos und Nation, ethnische und nationale Identität. Ethnos /
Ethnie, Nation, Volk, Staat, Nationalismus, Patriotismus, ethnische / nationale
Identität – sie bedeuten alle etwas Ähnliches und werden in der Fachliteratur
unterschiedlich verwendet, definiert, verknüpft usw. Eine universelle
Begriffsbestimmung zum „Ethnos“ bzw. zur „Nation“ zu geben, gelingt nicht; bei
Durchsicht der Literatur gewinnt man den Eindruck, es gebe so viele
Nationsbegriffe wie Nationen (dies zeigt sich u.a. auch im Verhältnis zwischen
„deutscher Kulturnation“ und „österreichischer Nation“). Grundlage für die
Nationsbildung waren dabei in der Regel sprachlich-kulturelle Gemeinsamkeiten,
die nun besonders betont wurden und beim Übergang von Agrargesellschaften zu
modernen Industriegesellschaften eine große Rolle spielten und wesentlich zur
Sicherung dieser Homogenität beitrugen. Daher war multinationalen Staaten meist
keine lange Lebensdauer beschieden (beste Beispiele: Österreich-Ungarn † 1918,
Jugoslawien † 1991). Die oft geäußerte Bestimmung des Begriffs Nation (=
„Schicksalsgemeinschaft“, die auf gemeinsame Abstammung, gemeinsame Geschichte
und Tradition, Religion etc. zurückgeht) ist in der Regel Fiktion, aber es gibt
einen realen Kern der Ethnogenese bzw. Nationsbildung, einen Nukleus, der die
ethnische Zugehörigkeit bewirkt (hat).
Nach
Benedict Anderson sei der Begriff „Nationalismus“ nicht wie „Liberalismus“ oder
„Faschismus“ zu betrachten, sondern wie „Verwandtschaft“ oder „Religion“ und er
definiert die Nation dann so: „Sie ist eine vorgestellte politische
Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“. „Vorgestellt“ sei sie
deswegen, weil ihre Mitglieder die meisten anderen zwar nicht kennen, aber
dennoch existiere im Kopf eines jeden die Vorstellung von ihrer Gemeinschaft,
„begrenzt“ ist sie, da es einerseits sehr viele davon gibt und andererseits
sich keine Nation mit der ganzen Menschheit gleichsetzt, „souverän“ ist sie, da
Maßstab und Symbol der nationalen Freiheit der souveräne Staat ist, und eine
„Gemeinschaft“ ist sie, da sie als kameradschaftlicher Verbund von Gleichen
verstanden wird (1).
Die „Nation“ ist also ein ideologisches Konstrukt, während das „Ethnos“ eine
historisch gewachsene Realität ist – oder eben das, was wir im alltäglichen
Sprachgebrauch „Volk“ nennen. Ein Begriff, der heute im Zeichen des „Vereinten
Europa“ oder der „Globalisierung“ eher negativ besetzt ist und vielfach als
obsolet betrachtet wird.
Eben
diesem problematischen wie auch vielfältigen Thema ist das vorliegende Buch
gewidmet. Einleitend stellt der Autor die Aktualität des Themas vor: was ist
eigentlich ein Volk? Als Wissenschaft von den Völkern müssten hier eigentlich
sowohl die Ethnologie als auch die Volkskunde Auskunft geben können – sie tut
es aber nicht und diese Frage(n) versucht der Autor zu beantworten. Er selbst
ist ein promovierter Ethnologe und Volkskundler (und Schüler des an der
Berliner Humboldt-Universität wirkenden Historikers Prof. Eckhard Müller-Mertens);
er war vor der „Wende“ wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der
Wissenschaften der DDR. Er beschäftigt sich mit dem im Untertitel genannten „Nebel“, der heute vielfach um den
Volksbegriff erzeugt wird, der in letzter Zeit nicht ganz zufällig aus dem
wissenschaftlichen Diskurs und dem allgemeinen Sprachgebrauch zu verschwinden
scheint. Aus Sicht des Verfassers sei das zentrale ideologische Instrument zur
Verbreitung dieses Nebels die amerikanische Kulturanthropologie, da diese die
ständig sich verändernde Lebensweise als Kultur begreift und somit alle
bestehenden kollektiven Identitäten, die ja selbst kulturell unterlegt sind,
als etwas rein Abstraktes aufzulösen versucht. Auf diese Weise wird die
Kulturanthropologie im Prozess der fortschreitenden Globalisierung zu einem
Werkzeug im Kampf gegen die Völkervielfalt. Der Autor bietet mit seiner
historisch-systemischen Methode der russischen Ethnos-Theorie v.a. nach Julian
Vladimirovič Bromlej überzeugend eine Alternative dazu und testet ihre
Belastbarkeit und Chancen am Beispiel der Entstehungsgeschichte (im Kapitel 6
„Ethnogenese“) des deutschen Volkes (2). Die Grundthesen
Bromlejs kann man so zusammenfassen:
„Unter Ethnos im engen Sinn … verstehen wir eine historisch entstandene Gruppe
von Menschen, die über eine nur für sie charakteristische Gesamtheit
beständiger Züge der Kultur …, der Sprache und der Psyche sowie über ein
Selbstbewusstsein, darunter auch das Bewusstsein ihres Unterschiedes von
anderen ähnlichen Gebilden, und eine Selbstbezeichnung (Ethnonym) verfügen“
(3).
Er
zeigt dabei recht deutlich, dass sich diese Ethnogenese nicht nur in unseren
Gehirnen, also im intellektuellen Diskurs als Erfindung von Volkskundlern und
Ethnologen abgespielt hat, wie dies die „Konstruktivisten“ vielfach behaupten,
sondern dass sie ein realer Prozess in der Weltgeschichte war, also nicht nur
ein ideologisches Konstrukt. Im Kapitel 4 (Die Lehre vom „Ethnos“ – eine
Einführung in die moderne mittel- und osteuropäische Auffassung vom Volk [4])
wird ein ganz anderes Bild gezeigt als es die amerikanische Kulturanthropologie
(Kapitel 5) vorgegeben hat – als ideologische Waffe mit fatalen Folgen (Kap.
5.3). Den Volksbegriff, das Ethnos, als „rechtes“ Gedankengut zu sehen erweist
sich so als ein Irrweg, kommt doch die hier gebotene Sichtweise aus den
ehemaligen sozialistischen Ländern.
Der deutsche Begriff Ethnie beruht auf dem griechischen Wort Ethnos, was eigentlich „Volk“ bedeutet.
Durch den Missbrauch dieses Wortes – einerseits allgemein in den nationalpolitischen
„rechten“ Auseinandersetzungen des 20. Jhdts. und andererseits durch die
rassistische Sichtweise der Nationalsozialisten – steht dieser Begriff derzeit
nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses und ist Teil einer heute wenig
beachteter Wissenschaft. Für die Fachwelt sieht das völlig anders aus und
dieser Begriff steht im Mittelpunkt von Böttgers Buch. Er zeigt auch die
Unterschiede zwischen der amerikanischen Kulturanthropologie und der
traditionellen europäischen Ethnologie auf (v.a. die mittel- und osteuropäische
Auffassung). Die amerikanische Gesellschaft war von Anbeginn eine
Einwanderungsgesellschaft mit einem schmalen ethnischen Kern. Zur gleichen Zeit
entstanden in Europa die einzelnen Nationen, die zwar auch nicht nur aus einem ethnischen Kern allein bestehen,
aber primär sind sie nicht durch Zuwanderung, sondern vielmehr durch
Angleichung und Anpassung (Assimilation) entstanden (5). Diese traditionelle Ansicht
wird aber heute vom „Mainstream“ als „rechts“ diskreditiert und in Böttgers
letzten Kapitel „Ergebnis und Ausblick“ thematisiert. Ausgesprochen lesenswert
sind seine Äußerungen zu den Begriffen „rechts“ und „links“ (Kapitel 2).
Weiters übt er u.a. an der Einwanderungs- und Asylpolitik recht scharfe Kritik,
wobei ihm zumindest manche Ethnologen wohl recht geben werden. Für ihn ist
Mitteleuropa (einschließlich Niederlande und Baltikum) eine Zukunftsvision und
ein zentraler Punkt, der im „Kampf gegen
die Islamisierung Europas sehr schnell aktuell werden könnte“, wobei er an den
polnischen König Sobieski (im Kampf gegen die Osmanen 1683 bei Wien) erinnert.
Deutschland sehe sich heute weniger als „Ethnos“, vielmehr als
„Einwanderungsgesellschaft“ (S. 10) – dies zu widerlegen versucht Böttgers Buch
(6).
Anmerkungen:
(1) Diese
Gedanken habe ich meinem Beitrag „Sprachen und Sprachinseln im südalpinen Raum – ein
Überblick“ in: Europa Ethnica 2005/3-4, 91-100, Abschnitt 4 geäußert (mit Lit., im Internet
unter http://members.chello.at/heinz.pohl/Sprachinseln.htm).
(2) Gemeint ist damit in erster Linie das
heutige wiedervereinigte Deutschland, betrifft aber in mancher Hinsicht alle
Angehörigen der deutschen Sprachgemeinschaft.
(3) So zitiert (mit Quelle) auf S. 166f.
(4) insbes. Abschnitt
4.2: Der „russische“ Ethnosbegriff als Basis für die Volksforschung.
(5) Ich selbst sehe dies so (s.o. Anm. 1): Für eine Volksgruppe bzw.
für ein Volk (in der Wissenschaft Ethnie oder Ethnos) stehen als
wichtigste Charaktermerkmale also nicht anthropologische, sondern eindeutig
soziokulturelle im Vordergrund. Kultur wird im weitesten Sinn als ein
wechselseitiger in sich verflochtener Komplex aus Sprache, Religion, Wertnormen
und Bräuchen verstanden, an denen die Angehörigen einer solchen
gesellschaftlichen Großgruppe gemeinsam teilhaben. Eine solche Definition
entzieht romantischen Vorstellungen jede Grundlage, erst die Politisierung
der Sprache, ausgehend vom nicht immer richtig verstandenen Herder’schen
Nationsbegriff „Volk gleicher Zunge, daher Volk gleicher Kultur“, hat
die modernen (Sprach- bzw. Kultur-) Nationen hervorgebracht und mit der
gemeinsamen Hochsprache zu einem national- und kulturpolitischen
Zusammenschluss recht heterogener Teile eines größeren Sprachgebietes zu einer
Sprach- bzw. Kulturnation geführt.
(6) Es ist eine Zusammenfassung von im Laufe der
Jahre gehaltenen Vorträgen und geschriebenen Artikeln – vielleicht mit ein
Grund, dass noch die alte Rechtschreibung verwendet wird.
© H.D. Pohl zurück
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