Die Kärntner Volksabstimmung 1920 und die Geschichtsforschung. Leistungen, Defizite, Perspektiven. Internationale wissenschaftliche Tagung,

6./.7. Oktober 2000. – Vortrag 6.10., 17 Uhr

Druckfassung des Vortrages (Fußnoten im Text in kleinerer Schrift blau eingefügt)

© Heinz Dieter Pohl 2001 (2011) geringfügig zuletzt überarbeitet am 13.10.2013

Die ethnisch-sprachlichen Voraussetzungen der Volksabstimmung

Kurzfassung hier

Siehe auch: http://members.chello.at/heinz.pohl/Sprache_Erbe.htm

und  http://members.chello.at/heinz.pohl/Landessprache.htm

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Für eine Volksgruppe bzw. für ein Volk (in der Wissenschaft Ethnie oder Ethnos) stehen als wichtigste Charaktermerkmale nicht anthropologische, sondern eindeutig soziokulturelle im Vordergrund. Kultur wird im weitesten Sinn als ein wechselseitiger in sich verflochtener Komplex aus Sprache, Religion, Wertnormen und Bräuchen verstanden, an denen die Angehörigen einer solchen gesellschaftlichen Großgruppe gemeinsam teilhaben. Eine solche Definition entzieht romantischen Vorstellungen jede Grundlage, erst die Politisierung der Sprache, ausgehend vom nicht immer richtig verstandenen Herder’schen Nationsbegriff „Volk gleicher Zunge, daher Volk gleicher Kultur“, hat die modernen (Sprach- bzw. Kultur-) Nationen hervorgebracht und mit der gemeinsamen Hochsprache zu einem national- und kulturpolitischen Zusammenschluss recht heterogener Teile eines größeren Sprachgebietes zu einer Sprach- bzw. Kulturnation geführt, begründet in der Vorstellung, es bestehe ein direkter Zusammenhang zwischen der Muttersprache und der ethnischen Identität, und dass man in einem bestimmten Sprachsystem denkt. [„und wie man denkt, so ist man eben“ (Sornig 1998, 169 mit weiteren interessanten Hinweisen)]

Ferner kam es auf Grund sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse zur Vorstellung von einer germanischen / slawischen / romanischen Völkergruppe oder -familie – als Reflex der betreffenden Sprachfamilien. Doch dass Engländer und Deutsche „Germanen“, Slowenen und Serben „Slawen“, Franzosen und Italiener „Romanen“ sind, ist in erster Linie eine Angelegenheit der höheren Bildung oder des geschulten politischen Bewusstseins, aber nicht Ausfluss nationalen Empfindens und Erlebens. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die Deutschen (einschließlich der Österreicher) mit den Baiern, Alemannen, Sachsen usw. Denn „Slawe“, „Germane“, „Deutscher“ usw. zu sein ist ein durch die Sprache bzw. sprachwissenschaftlich begründeter Mythos, ein Kärntner Slowene hat mit einem deutschen Kärntner, ein Deutscher aus Pladen/Sappada mit einem Furlaner mehr gemeinsam als beispielsweise ein deutscher Kärntner mit einem Vorarlberger oder ein slowenischer Kärntner mit einem aus Prekmurje, denn die soziokulturellen Grenzen sind fließend und stimmen nicht immer mit den sprachlichen und ethnischen Verhältnissen überein. Eine solche Feststellung leugnet keineswegs die Bedeutung eines bestimmten Sprachgebietes als Kommunikationsgemeinschaft über politische und kulturelle (usw.) Grenzen hinweg, relativiert sie aber, denn „Völker“ sind primär keine Abstammungsgemeinschaften, sondern Produkte von natürlich entstandenen und/oder machtpolitisch organisierten Lebensräumen. Daher war früher (bis ins 19. Jhdt.) die Sprache dem Landesbewusstsein und der Religion nachgeordnet; es ist kein Zufall, dass sich das alte Herzogtum Kärnten im 16. Jhdt. selbstbewusst „Windisches Erzherzogtum“ genannt hat [vgl. Fräss-Ehrfeld 1994, 295ff., vgl. auch Fräss-Ehrfeld 2000, 25ff.] wie auch bei der Zeremonie der Herzogseinsetzung beim Fürstenstein auf dem Zollfeld immer die „windische“ (also slowenische) Sprache präsent war. Noch bei der Volksabstimmung im Jahre 1920 war das gemeinsame Kärntner Landesbewusstsein genug stark ausgeprägt und stand in Konkurrenz zum nationalpolitischen Empfinden, haben doch rund 40% derer, die bei der Volkszählung 1910 Slowenisch als Umgangssprache angegeben haben (dies waren rund 69%), für Österreich, also für die Einheit (und gegen eine ethnographische Teilung) Kärntens, gestimmt (zusammen mit den rund 31% Personen deutscher Umgangssprache).

Im 19. Jhdt. kam es zur Ausbildung sowohl eines deutschen als auch eines slowenischen, nach der Sprache orientierten Nationalbewusstseins und es entstand einerseits die Bestrebung zur Gründung eines deutschen Nationalstaates (dem allerdings der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Österreich und Preußen im Wege stand, sodass es nach dem Hinausdrängen Österreichs aus dem Deutschen Bund mit der Reichsgründung 1871 zur kleindeutschen Lösung kam), und andererseits keimte der Gedanke, alle slowenischen Länder verwaltungsmäßig zusammenzufassen – freilich im Rahmen der Monarchie, aber dies hätte trotzdem eine (administrative) Teilung des Landes Kärnten bedeutet, der sich selbst auch Kärntner Abgeordnete slowenischer Abstammung widersetzten (z.B. der Abgeordnete zum Kärntner Landtag Dr. Matthias Rulitz). Auch das slowenische Pflichtschulwesen (seit 1855 in kirchlichen Händen) mit slowenischer Unterrichtssprache musste 1869 neu organisiert werden, es kam zum Ausbau der sogenannten utraquistischen Schule, neben der es auch rein slowenische Schulen gab (1914: St. Jakob im Rosental, St. Michael ob Bleiburg, Zell [-Pfarre]). [Jahne 1914, 78. Dort wird auch bereits der Begriff „Südkärnten“ verwendet] Diese utraquistische Schule (Prinzip: Elementarunterricht in slowenischer Sprache und schrittweises Erlernen der deutschen Sprache, bis diese so gut beherrscht wird, dass der Unterricht überwiegend deutsch erfolgen kann) widersprach den Vorstellungen slowenisch-nationaler Kreise, kam aber deutschfreundlichen Slowenen entgegen [Ein bemerkenswertes Zitat bei Jahne 1914, 78: „Bezeichnend ist die Ausage eines windischen Bäuerleins, dem der Pfarrer eine Begehrschrift für die rein slovenische Schule vorlegte: ‘Wenn mein Bub schon eine fremde Sprache lernen soll, so ist es mir lieber, er lernt deutsch!’ Dem Manne erschien also die neuslovenische Schriftsprache viel fremder als das Deutsche, das er täglich im Verkehr benötigt! „ Übrigens eine weit verbreitete Vorstellung, wie u.a. auch, dass „der Kärntner...Slovene...einen vielfach von deutschen Worten durchsetzten Dialekt „ spreche, der sich „wesentlich von der künstlich gemachten neuslovenischen Schriftsprache“ unterscheide (Jahne ebda. 75f.)] und wurde von den Deutschen als ein System betrachtet, „das sich seit Menschenaltern treffend bewährte“. [Jahne 1914, 76] Von den Slowenen wurde die utraquistische Schule daher als „Germanisierungsinstrument“ betrachtet [zumindest indirekt, vgl. Inzko 1988, 85 u. Kurz 1990], einer Ansicht, der man sich bei objektiver Betrachtung nicht ganz verschließen kann.

Somit kam es unter den Kärntner Slowenen gegen Ende des 19. Jhdts. zur Herausbildung zweier Lager: eines „nationalen“ und eines „deutschfreundlichen“ [beschrieben u.a. bei Jahne 1914, 75ff., Wutte 1927]. Ersteres stimmte am 10. Oktober überwiegend für Jugoslawien, letzteres für Österreich (gemeinsam mit jenen Slowenen, die im SHS-Königreich ihre nationalen Träume nicht verwirklicht sahen). Beide zusammen machen die slowenischsprachige Minderheit aus. Es drängt sich ein Vergleich mit den letzten Jahrzehnten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie bzw. dem Nachkriegsösterreich der Ersten Republik auf, wo es auch zwei „deutsche“ Lager gab, ein großdeutsch orientiertes und den Anschluss ans Reich erstrebendes und ein auf Eigenstaatlichkeit bedachtes österreichisch- patriotisches, das dann nach dem tatsächlich erfolgten Anschluss 1938 endgültig die Oberhand gewann.

Die Bevölkerungsentwicklung ist in Kärnten, seit statistische Aufzeichnungen vorliegen, zuungunsten der Slowenen verlaufen (von rund einem Drittel der Bevölkerung in der Mitte des 19. Jhdts. sank deren Anteil auf ca. ein Viertel bis 1900: ca. 90.500 gegenüber ca. 270.000, insges. ca. 367.000), auch 1910 gab es einen abermaligen Rückgang der Slowenen (ca. 82.000 gegenüber ca. 304.000, insges. ca. 396.000), wobei zu betonen ist, dass immer nur nach der Umgangssprache gezählt wurde, nicht nach der Muttersprache. Die Umgangssprache ist jene „Sprache, deren sich die Person im gewöhnlichen Umgange bedient“ [Wutte 1906, 156]. Sie festzustellen ist nicht immer leicht, zumal das wirtschaftliche und kulturelle Übergewicht des Deutschen in vielen Gegenden, v.a. in den Ballungszentren, eine Tatsache war, was zur Folge hatte, dass slowenische Umgangs- und Muttersprache nicht gleichzusetzen war, oder mit anderen Worten: ein Teil der Kärntner slowenischer Muttersprache kommunizierte im täglichen Leben überwiegend auf deutsch. [Dies interpretierte man aus deutscher Sicht gerne als „Machteinfluss des deutschen Wesens“ (Jahne 1914, 80. Dieser gibt die nationalpolitische Stimmung in Kärnten aus deutscher Sicht wieder, die slowenisch-nationale wird in „Aus dem Vilajet Kärnten“ von J. Brejc 1913 kundgetan)]

Von der Umgangssprache ausgehend sind daher keine sicheren Rückschlüsse auf die Nationalität zu ziehen, da diese auch durch eine Reihe von anderen Merkmalen zu bestimmen ist [vgl. Wutte 1906, 156f.]. Politisch bestimmend war auf slowenischer Seite v.a. der Klerus, während unter den Deutschen die nationalliberalen Kräfte das Übergewicht hatten [vgl. Jahne 1914, 80f.].

In absoluten Zahlen, umgerechnet auf das heutige Kärntner Gebiet (also ohne Mießtal, Tarvis und Seeland) gab es 1880 u. 1890 ca. 85.000, 1900 ca. 75.000, 1910 ca. 66.500 Slowenen; 1923 waren es nur mehr ca. 34.500. Danach erreichten sie im Jahre 1939 noch einmal einen höheren Wert, indem ca. 43.000 Personen mit slowenischer Muttersprache erhoben wurden; dazu eine Tabelle(berechnet nach Österreichische Rektorenkonferenz 1989, 58f., Pohl 1997, 1806 u. Statistik Austria 2002, 76):

Jahr

Kärnten

Österreich gesamt

1910

66 463

74 210

1939

43 179 (inkl. „Windisch“)

47 639

1951

19 658 (bzw. 42 095 a)

19 976

1961

24 911

f

1971

20 972 b

23 579

1981

16 552 c

18 640

1991

14 850 (inkl. „Windisch“)

17 379

2001

12.586 (ohne „Windisch“ d)

17 953 e (bzw. 24 855 g)

 

Anmerkungen zur Tabelle:

a)     in allen Kombinationen (z.B. „deutsch-slowenisch“, „deutsch-windisch“ usw.)

b)     davon 3961 „Windisch“

c)     davon 2348 „Windisch“

d)     deren Zahl wird mit 567 Personen angegeben (davon in Österreich geboren: 547)

e)     österreichische Staatsbürger (davon in Österreich geboren: 13 225)

f)      in den von mir benützten Unterlagen keine gesamtösterreichischen Angaben

g)     davon 6891 Ausländer (zuzüglich eine Person „Windisch“)

Die deutschfreundlichen bzw. österreichbewussten (auch „heimattreuen“) Slowenen wurden schon vor dem 1. Weltkrieg „Windische“ genannt [vgl. Jahne 1914, 75f.] und nannten sich z.T. auch selbst so; zu einem Politikum wurden die „Windischen“ seit den Zwanziger Jahren. Sie sind aber eindeutig (rein sprachlich gesehen) Slowenen („Sprachslowenen“), bekennen sich aber nicht ausdrücklich zum slowenischen Volkstum, v.a. politisch nicht. Die Mundarten dieser beiden Gruppen unterscheiden sich nicht voneinander; Unterschiede zwischen beiden Gruppen ergeben sich nur durch die Kenntnis der slowenischen Schriftsprache, die jenen Personen fehlt, die Schulunterricht nur auf deutsch erhalten haben. Doch die Möglichkeit, slowenischen Schulunterricht zu erhalten, ist gesetzlich gewährleistet (und war es – zumindest grundsätzlich – auch immer, von der Nazizeit freilich abgesehen).

Das bisher Gesagte kann man also wie folgt zusammenfassen:

1.  Kärnten hat seine Landeseinheit – wie in der Monarchie – in der Ersten Republik bis in die Zweite Republik bewahren können;

2.  in Kärnten leben zwei ethnische Gruppen, aus historisch-ethnographischer Sicht Deutsche und Slowenen, und nur diese beiden (wobei die Zahl der Sprachslowenen wesentlich höher ist als die der Bekenntnisslowenen [ob man die Differenz zwischen beiden „Windische“, „Assimilanten“, „deutschfreundliche Slowenen“ nennt, ändert nichts an den Tatsachen]; es gibt also eine Art Zwischengruppe, diese stellt aber kein eigenes (drittes) Volkstum dar, s.u. [Kloss 1969, 65 spricht von „Nationalslowenen“ (= nationale Minderheit) und „Windischen“ (= sprachliche Minderheit), vgl. auch ebda. 223f. – Statt „Zwischengruppe“ ist es vielleicht richtiger von einer „Übergangsgruppe“ zu sprechen; die ethnische Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe ist ein (von der Muttersprache unabhängiges) subjektives Bekenntnis einer Einzelperson (und kann nicht „objektive“ Entscheidung von Behörden, Experten u.dgl. sein)]);

3.  das slowenische Element ist (nicht ablösbarer) Teil der Kärntner Identität;

4.  Kärnten ist heute noch immer, trotz des relativ geringen Prozentsatzes von slowenischen Mitbürgern, zweisprachig, denn das slowenische Element ist konstitutiv für Sprachlandschaft, Dialektologie und Namengebung.

Diese sogenannten „Windischen“ sind sind also – rein sprachlich gesehen – Slowenen, bekennen sich aber nicht ausdrücklich zum slowenischen Volkstum (wie ja auch die Österreicher nach 1945 – sprachlich gesehen – noch immer Deutsche sind, sich aber politisch nicht mehr als Deutsche betrachten). Diese Gruppe, also die zur Mehrheitsbevölkerung tendierenden Slowenen, dürfte bei der Volksabstimmung 1920 den Ausschlag gegeben haben, sodass diese für Österreich günstig ausgegangen ist. In der Folge wurden sie vom damaligen Kärnten als „Heimattreue Slowenen“ bezeichnet, von der slowenischen Presse aber „traurige, in jeder Hinsicht demoralisierte Renegatenfiguren“ genannt [Vgl. Wutte 1927, 1. Von den nationalbewussten Deutschen wie Slowenen wurden die „Windischen“ im wahrsten Sinne des Wortes misshandelt, indem die „Deutschen“ sie vereinnahmten, die „Slowenen“ sie verstießen. Zu sehr vermengte man Muttersprache und ethnisches Bekenntnis]. Dies muss man wissen, um die Hintergründe richtig verstehen zu können, wenn es um die sogenannte „Windischen-Theorie“ geht [Im Grunde genommen ist die „Windischen-Theorie“ eine „nationale Hilfsideologie“ – so der Historiker A. Moritsch (vgl. Naš Tednik 21.1.1994)]. Diese wurde (spätestens) in der nationalpolitischen Auseinandersetzung der 20er Jahre geboren, indem man bei der Erklärung des Verhaltens von rund 40% der abstimmungsberechtigten Kärntner Slowenen am 10. Oktober 1920 ethnische, sprachliche, bewusstseinsbildende und soziologische Kriterien miteinander vermengte – vor allem in der Tagespolitik. In der Wissenschaft sah man die Dinge anders und suchte sie in den Griff zu bekommen. Die wissenschaftliche Interpretation hat M. Wutte geliefert, sie ist nur aus jener Zeit heraus zu verstehen [auch wenn in einer Fußnote im „Bericht der Arbeitsgruppe Lage und Perspektiven der Volksgruppen in Österreich“ (Österreichische Rektorenkonferenz 137) bemerkt wird: Die ‘Windischentheorie’ wurde vom deutschnationalen Historiker WUTTE formuliert. Er nahm die alte Fremdbezeichnung für die Slowenen als Etikett, das er allen Assimilationswilligen überstülpte. Um ihren Legitimationsbedarf gegenüber ihrer Herkunftsgruppe zu unterstützen, lieferte er ihnen Argumente, die alle darauf zielten, dem Kärntner slowenischen Regionalismus (in der Sprache und in der Kultur) deutsche Wurzeln nachzuweisen (WUTTE 1930 [bereits 1927 verfasst, H.D.Pohl]). Es gibt heute keinen Linguisten und keinen Sozialwissenschaftler, der diese Theorie noch ernst nimmt „. Dazu vgl. Pohl 1995, 14ff., 2000, 10ff.], allerdings sind seine Diktion und auch Interpretation aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbar, seine Schrift ist aber als zeitgeschichtliches Dokument, als Aussage eines Zeitzeugen im Zusammenhang mit der damaligen Diskussion um die von den Kärntner Slowenen angestrebte Kulturautonomie zu werten und nicht als „deutschnational“ abzuwerten, denn er widerspiegelt die damals vorherrschende Meinung wie es auch die heutigen Historiker tun, die ihn aber nach heutigen Maßstäben beurteilen [Bei Kärnten und seiner Wissenschaft gegenüber kritisch eingestellten Historikern wird M. Wutte zur „Zentralfigur für die deutschnationale bis nationalsozialistische Kärntner Landesgeschichte“ hochstilisiert und zum „Wegbereiter des Nationalsozialismus“ erklärt (so E. Weinzierl im Vorwort zu Fritzl 1992, 9). Man wird wohl Wutte kaum dafür verantwortlich machen können, dass seine im Jahre 1927 (als die NSDAP im „Reich“ noch eine relativ unbedeutende Partei war!) verfasste Schrift später von den Nazis missbraucht wurde. Welche Rolle sie gespielt hat, versucht Fritzl 1992, 60 ff. zu umreißen. Die einzig wirklich greifbare Auswirkung ist die Tatsache, dass das NS-Regime die „Windischen“ institutionalisiert hat (S. 74f.), indem 1939 bei der Volkszählung die Kategorie „Windisch“ eingeführt wurde (was übrigens bis in die Zweite Republik nachwirkte!); in Ferenc’ Quellenwerk wird Wutte nur in einem einzigen Dokument (marginal) erwähnt (Nr. 234 in Ferenc 1980, 451). Der Missbrauch des Begriffes „Windisch“, der bis in die jüngste Vergangenheit anhält, ist freilich zu verurteilen. Unter Missbrauch verstehe ich, wenn man ihn argumentativ gegen die slowenische Volksgruppe verwendet oder ihn zur Bezeichnung einer von der slowenischen Sprache verschiedenen Sprachform gebraucht. Da „Windisch“ für nationalbewusste Slowenen ein Reizwort darstellt, sollte es auch als Synonym von „Slowenisch“, das es historisch gesehen ja ist, tunlichst vermieden werden (vgl. auch Menz-Lalouschek-Dressler 1989, 56, Goebl 1988, 858f.). Auch nach dem ehemaligen Kärntner Landesamtsdirektor Dr. R. Unkart sei die „die Theorie von den Windischen tot“. Der Begriff „Windisch“ ist heute also obsolet geworden. Daran ändert sich nichts, wenn er von Funktionären sogenannter heimattreuer Verbände unverdrossen weiterverwendet wird]. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht hat er objektiv die slowenischen Kerngebiete sowie die gemischten Landesteile beschrieben [Wutte 1906, insbes. 158f.].

Durch die aufgezeigte Entwicklung wird die ganze  Tragik  der Geschichte der slowenischen Volksgruppe in Kärnten offenbar: gab es 1910 im Abstimmungsgebiet (Zone I) 68,6% Personen mit slowenischer Umgangssprache, haben 10 Jahre später nur 41% für den Anschluss an das neugegründete SHS-Königreich (Jugoslawien) gestimmt, d.h., rund 40% der Slowenischsprachigen hat mit seiner Stimme ein Bekenntnis zu Österreich und somit auch zum ungeteilten Kärnten abgegeben. Oder anders ausgedrückt: die Mutter- oder Umgangssprache allein reichte nicht aus, sich von Österreich ab- und dem serbisch dominierten SHS-Staat zuzuwenden. Dass sie damit auch ein Bekenntnis zum Deutschtum abgegeben haben, kann man daraus nicht schließen; sicher ist nur, dass sie am Abstimmungstag kaum daran gedacht haben, dass sie manche Politiker später zu „Windischen“ machen werden. Dieses Abstimmungsverhalten reflektiert das eigentliche Dilemma der Volksgruppe: sprachliche Zugehörigkeit ist nicht gleich ethnisches Bekenntnis – offensichtlich ein Begleitphänomen polyethnischer Staaten und polyglotter Gesellschaften (und somit Erbe aus der Monarchie).

Mit der „Windischen-Theorie“ ist automatisch auch die Frage verknüpft, ob das „Windische“ etwa eine vom Slowenischen verschiedene Sprache sei. Weit verbreitet ist die Ansicht, die Sprache der „Windischen“, „Windisch“, sei eine deutsch-slowenische Mischsprache, die mit der „landfremden“ slowenischen Schriftsprache nichts zu tun habe – eine kühne Behauptung, ist es doch in zweisprachigen Regionen und Gesellschaften die Regel, dass die bodenständige Volkssprache von der überregionalen Staats- und/oder Verkehrssprache massenhaft Lehnwörter und Einflüsse bezieht. Entscheidend ist aber die Grammatik: die Grammatik des „Windischen“ ist die slowenische, identisch sind auch Hilfswörter und Grundwortschatz. Ein Pendant zum „Windischen“ ist die alte Sprache des Zaierfeldes (Sorško polje) in Krain (westlich von Bischoflack [Škofja Loka]), wo es in Huben (Spodnje Danje) 1941 noch zwei Sprachformen, das „Hubner Deutsch“ und die „Hubner Mischsprache“ gegeben hat. Diejenigen, die diese Mischsprache gebrauchten, befanden sich im status assimilationis, deren Sprache im status fusionis [Vgl. die Textproben in Lessiak 1944, 218f. In früheren Arbeiten (vgl. Pohl 1995, 3718) habe ich diesen Zustand status creolisationis genannt, doch dieser Terminus erscheint unpassend, da „Kreolisierung“ in Europa – im Gegensatz zu Kommunikationssituationen in Übersee, sei es in sklavenhalterischen Plantagen, sei es im Handel (mit der Zwischenstufe „Pidginisierung“) – nie stattgefunden hat. „Fusion“ ist der zutreffende Ausdruck, zwei Sprachgemeinschaften wachsen zusammen in der Weise, dass aus beiden Sprachen ein neues Sprachsystem entsteht, so z.B. Neuenglisch aus der Fusion Altenglisch/Mittelenglisch + Altfranzösisch und eben auch „Südkärntnerisch“ aus „Südbairisch“ + „Kärntner Slowenisch“. Entscheidend für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprache ist letzten Endes das grammatische System. So, wie der Satz Der clevere Boss flirtete mit dem Call-Girl (den mein verehrter Lehrer A.V. Issatschenko konstruiert hat) deutsch ist (wegen der Grammatik!), ist auch der Satz motor je haslaufał „der Motor ist heißgelaufen“ (Andrej 1980, 31) slowenisch, wie auch der aus Krain („Hubener Mischsprache“) stammende Satz je for fir pa žekš bochn šterbou „er ist vor vier oder sechs Wochen gestorben“ (Lessiak 1944, 219)]. Damit unmittelbar vergleichbare Sprachformen sind mir in Kärnten nicht bekannt, sehr wohl aber ist auch in den Kärntner slowenischen Mundarten der Anteil deutscher Lehnwörter sehr hoch [Dies gilt mutatis mutandis bis zu einem gewissen Grade auch für das Kärntner Deutsche, vgl. Pohl 1995, 3819 mit Lit., zuletzt Pohl 1997.] Solche Sprachformen machen es überhaupt erst möglich, dass nicht nur Einzelwörter, sondern auch strukturelle und suprasegmentale Merkmale von einer Sprache in die andere übergehen. Ohne „Windisch“, den bäuerlich slowenischen Basisdialekt, wäre es kaum möglich, dass das Unterkärntner Deutsch einen slowenischen Touch erhalten hätte, und ohne Krainer Deutsch gäbe es kaum die Elemente deutscher Herkunft in der slowenischen Umgangssprache und auch Schriftsprache. Aus sprachplanerischen und -ästhetischen Gründen mag man Fremdeinflüsse als etwas Negatives betrachten – linguistisch gesehen sind sie normal und natürlich. Eine zweisprachige Gesellschaft wäre arm, wenn es keine sprachgrenzüberschreitende Kommunikation gäbe, die mal zu Lasten der einen (dem Slowenischen in Kärnten bis heute), mal zu Lasten der anderen (dem Deutschen in Krain bis 1945) gehen  kann . Eine solche linguistische Feststellung darf aber nicht dazu verleiten, die eine Sprache, weil größer und mächtiger, als „wichtig“ einzuschätzen, die andere Sprache, weil kleiner und weniger durchschlagkräftig, als „unbedeutend, regional“ zu betrachten, denn jede Sprache, egal ob „klein“, ob „groß“, ist ein Stück Menschheitsgeschichte und Teil des kulturellen Erbes, das zu bewahren lohnt. Aber einmal eingetretener Sprachwechsel ist (leider) unumkehrbar, er ist mit einem Verlust an kultureller Identität verbunden und führt nicht sofort zum Aufgehen in einer neuen Identität: dies dauert meist eine Generation. Personen im status assimilationis wären noch in der Lage, unter entsprechenden Bedingungen ihrer Muttersprache treu zu bleiben. Wenn in zweisprachigen Gebieten Verschiebungen von der einen zur anderen Sprache zu beobachten sind, zeigt dies ganz besonders deutlich, wie verbunden die beiden Sprachen sind, gehören sie doch beide zum historischen Erbe der Region. Hier ist im Falle Kärnten für „Windisch“ als eigene Sprache, auch als „Mischsprache“, kein Platz: das Erbe kann nur „deutsch“ oder „slowenisch“ sein, beide sind konstitutiv und historisch gewachsen. „Windisch“ erscheint als ein soziologisch und linguistisch nur schwer fassbarer vorübergehender Zustand, der an Einzelpersonen oder einzelne Familien (die sich im status assimilationis befinden) gebunden ist, nicht aber an gefühlsmäßig zusammengehörige Gruppen.

 

Literatur

ANDREJ 1980: J.A., Untersuchungen zur Zweisprachigkeit in Griffen und Umgebung (Graz, Diplomarbeit)

Aus dem Wilajet Kärnten. Klagenfurt 1913 (ohne genannten Autor, doch von J. BREJC)

FERENC 1980: T.F., Quellen zur national-sozialistischen Entnationalisierungspolitik in Slowenien 1941-1945. Maribor

FRÄSS-EHRFELD 1994: C.F.-E., Geschichte Kärntens, Bd. 2: Die ständische Epoche. Klagenfurt

FRÄSS-EHRFELD 2000: C.F.-E., Geschichte Kärntens, Bd. 3/2 - Kärnten 1918-1920: Abwehrkampf – Volksabstimmung, Identitätssuche. Klagenfurt

FRITZL 1992: M.F., „...für Volk und Reich und deutsche Kultur“. Die „Kärntner Wissenschaft im Dienste des Nationalismus. Klagenfurt

GOEBL 1988: H.G., Forschungsethische Probleme. (Handbuch) Sociolinguistics / Soziolinguistik II, ed. U. AMMON – N. DITTMAR – K.J. MATTHEIER, Berlin – New York, 855ff.

INZKO 1988: V.I., Die systematische Germanisierung. Leben lassen ist nicht genug. Minderheiten in Österreich (hg. v. R. Henke). Wien, 80ff.

JAHNE 1914: L.J., Völkischer Reiseführer durch die Deutschen Siedlungen Südösterreichs. Klagenfurt

KLOSS 1969: H.K., Grundfragen der Ethnopolitik im 20. Jahrhundert. Wien – Stuttgart

KURZ 1990: M.K., Zur Lage der Slowenen in Kärnten. Der Streit um die Volksschule in Kärnten (1867-1914). Klagenfurt

LESSIAK 1944: P.L., Die deutsche Mundart von Zarz in Oberkrain. Weimar

MENZ – LALOUSCHEK – DRESSLER 1989: F.M. – J.L. – W.U.D., „Der Kampf geht weiter“. Der publizistische Abwehrkampf in Kärntner Zeitungen seit 1918. Klagenfurt

ÖSTERREICHISCHE REKTORENKONFERENZ: Bericht der Arbeitsgruppe „Lage und Perspektiven der Volksgruppen in Österreich“. Wien 1989

POHL 1995: H.D.P., Die Slowenen in Kärnten. Kritische Gedanken zum 75. Jahrestag der Volksabstimmung in Kärnten v. 10. Oktober 1920. Kärntner Jahrbuch für Politik 1995, 11ff.

POHL 1997: H.D.P., Österreich. Deutsch-slowenisch (in Österreich). Internationales Handbuch zur Kontaktlinguistik Bd. 2 (Berlin, Walter de Gruyter) 1997, 1797ff. [Handbuchartikel über Sprachkontakt in Österreich]

SORNIG 1998: K.S., Rezension von Rudolf de Cillia, Burenwurscht bleibt Burenwurscht. Sprachenpolitik und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit in Österreich. Klagenfurt 1998. Grazer Linguistische Studien 49, 169ff.

WUTTE 1906: M.W., Die sprachlichen Verhältnisse in Kärnten auf Grundlage der Volkszählung von 1900 und ihre Veränderungen im 19. Jahrhundert. Carinthia I 96, 153ff.

WUTTE 1927: M.W., Deutsch-Windisch-Slowenisch. Klagenfurt (nachgedruckt 1930 in: Gedenkbuch „Kampf um Kärnten“, hg. v. J.F. PERKONIG, Klagenfurt)

 

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