Wir zerschneiden die Schwerkraft

Klem schickt Sehnsuchtsbotschaften per Silvesterrakete zu den Sternen. Ein alter Mann flüchtet in seinen Koffer und treibt mit diesem durchs All. P. Gruber zerpflückt im Zuge mehrerer Bewerbungsschreiben sein Leben und am Ende bleibt nur eine Insel. Es ist die Frage nach der eigenen Daseinsberechtigung, die in den Erzählungen von Irmgard Fuchs immer wieder auftaucht. Die Figuren zweifeln an sich selbst, an der Wirklichkeit und an der Welt im Allgemeinen. Sie haben ihre Schwerkraft verloren, gewinnen dadurch allerdings eine Freiheit, die es ihnen erlaubt, anders zu sein. Irmgard Fuchs beeindruckt durch ihren genauen Blick und ihren eigenwilligen Ton, der poetisch und leicht, verträumt und ironisch zugleich ist. In ihren Erzählungen versetzt sie die Welt in eine Schieflage: Alltägliches kippt ins Groteske, das Groteske wirkt plötzlich ganz normal. www.kremayr-scheriau.at

„Langsam, dem unsympathisch schnaubenden Kamel ausweichend, gehe ich um das Gehege herum und schlüpfe zwischen zwei eng aneinander geparkten Wohnwägen hindurch. Die Vorderseiten der Wägen, die in einem Kreis angeordnet stehen, bestätigen nicht mein vorgefertigtes Bild von Zirkusidylle. Statt schmuddeliger, kleiner Wohn-Caravans stehen modernste Campingmobile mit einladenden Panorama-Fensterfronten nebeneinander. Aus einem dieser Reisewunder dringt dramatische Musik, wie sie sonst nur in Telenovelas zu hören ist, und ich schaue vorsichtig durch das Fenster in das Innere des Wagens. Dort, auf einer ledernen Wohnlandschaft, sitzt die Seiltänzerin in einem violetten Bademantel und schaut aufmerksam auf einen enormen Flachbildfernseher. Für mich selbst halte ich fest: In Pausen sind Artisten gewöhnliche Menschen. Ich wiederhole die Erkenntnis ein paar Mal in meinem Kopf und bin ziemlich enttäuscht, so als wäre eine Sicherheit, die ich über lange Zeit in mir getragen habe, zerbrochen. Eine Gewissheit über das Vorhandensein einer Hoffnung, so kompliziert das scheinen mag, dass es irgendwo eine Welt gibt, die nicht so gewöhnlich ist wie meine eigene. In der man man selbst ist und dabei trotzdem mehr als einfach nur ein Mensch.“

(aus: Kleine Lastentiere)