1.5 Schlüsseleigenschaften von E-Wahlen u. E-Medien

Die Politikwissenschaftler Abramson, Arterton und Orren definierten sechs Schlüsseleigenschaften neuer Medien bzw. der computervermittelten Kommunikation in der Havard-Studie "Electronic Commonwealth", die nach ihrer Lehrmeinung Veränderungen im politischen System freisetzen (Abramson/Arterton/Orren, 1988, S. 34-60). Digitalisierung erlaubt Text-, Bild-, Video-, Sprach- und Datenkommunikation, die bisher aufwendig auf verschiedenen Medien verteilt war, effizient und raum- und zeitunabhängig in einem singulären Medium zu vereinigen. Dadurch vergrößern sich die individuellen politischen Handlungsspielräume. Die nachfolgenden Schlüsseleigenschaften der computervermittelten Kommunikation werden im speziellen Kontext elektronischer Wahlen interpretiert.

1.5.1 Volumen

Durch neue IKT kann die Bevölkerung mit einer erhöhten Daten- und Informationsmenge (z.B. Entscheidungsinformationen) versorgt werden. Eine leichte Zugänglichkeit zu lokal verfügbarer Datenverarbeitung und dezentralisierten Datenbeständen senkt die Zugangsschwellen für Informationen, wodurch das Volumen der verfügbaren politischen Information stark zunimmt.

Auf elektronische Wahlen angewendet und unabhängig von der Qualität des Outputs ermöglicht ein permanenter elektronischer Wahlprozeß in kürzeren Zeitabständen quantitativ mehr Entscheidungen hervorzubringen.

1.5.2 Geschwindigkeit

Riesige Informationsmengen können in minimalen Zeitschranken bereitgestellt, verteilt und aufgenommen werden. Politische Informationen lassen sich universell und zeitunabhängig publizieren. Diese erhöhte Geschwindigkeit bewirkt, daß sich das Zeitintervall zwischen dem Eintreten eines politischen Ereignisses und der Informationen darüber verringert. Daraus resultieren eine Reihe von möglichen Folgen:

Die Folgen der Geschwindigkeit können z.T. auch negative Aspekte haben. Beispielsweise: „Fewer opportunities for deliberation, bargaining, compromise, and secrecy in electoral institutions; The risk and consequences of candidate mistakes on the media are magnified;“ (Abramson/Arterton/Orren, 1988, S. 108).

Im Vergleich zu traditionellen Wahlen erhöht sich die Auswertungsgeschwindigkeit dramatisch. Dadurch werden Hochrechnungen, die auf statistischen Ermittlungsverfahren zur schnellen - zumeist präzisen - Ergebnisprognose beruhen, praktisch überflüssig. Zeitliche Verzögerungen (z.B. eine Woche Wartezeit), die aufgrund der Auszählung eingereichter Wahlkarten entstehen, entfallen.

Bestimmte Wahlmethoden erfordern äußerst komplexe Auswertungsalgorithmen, wodurch die händische Evaluation zeitaufwendig und mit der Zunahme der Optionen fehlerhaft sein kann. Dazu gehört beispielsweise die Condorcet-Methode, bei der ein paarweiser Vergleich der Wahlmöglichkeiten durchgeführt wird. Sobald eine Option bei jedem Vergleich mehrere Stimmen als alle anderen erhält, geht diese als Condorcet-Gewinner hervor. Bei einer hohen Optionenanzahl ist die Suche nach dem Sieger eine zeitaufwendige Aufgabe. Falls ein solcher Gewinner gefunden wird, tritt die Situation ein, daß die Debatte mit einer eindeutigen mehrheitsfähigen Entscheidung beendet werden kann. Unglücklicherweise muß ein solcher Sieger nicht unbedingt existieren. In diesem Fall kann eine klevere (ggf. manipulative) Auswahl von Mehrheitsentscheidungen jedes Resultat möglich machen.

In Versammlungen wird manchmal lediglich über zwei Optionen zu einem bestimmten Zeitpunkt abgestimmt, was die Ermittlung des Siegers erheblich verzögert. Mit einem E-Wahlsystem ist aber die simultane Eingabe der Präferenzrangfolge durchführbar, so daß ein möglicher Condorcet-Gewinner unmittelbar gefunden oder die Unmöglichkeit eines Siegers sofort festgestellt wird. Wenn eine händische Ermittlungsprozedur trotz der Existenz des Condorcet-Gewinners diesen nicht identifiziert, dann gibt es eine Option, die gegenüber einer erfolgreichen Alternative siegt. Die Stimmen der Minderheit (welche durch diese erfolgreiche Entscheidung gegenüber dem unentdeckten Condorcet-Gewinner dominierte) zählten hier mehr als diejenige Mehrheit, welche das Gegenteil präferierte.

"A condorcet winner is unquestionably the majority choice. To reject a Condorcet winner is to choose somebody who would lose a majority vote to the Condorcet winner. It is therefore to favour the minority against the majority... Only a computer-based procedure can find Condorcet winners without enormous trouble: a strong argument in favor of new technology in democracy" (McLean, 1989, S. 55, S .111).

Bemerkung:
Condorcet, Antoine Marquis de, Ribemont bei Saint Quentin 17. 9. 1743, französischer Mathematiker, Philosoph, Politiker, einer der Enzyklopädisten; verfaßte als Mathematiker Arbeiten über Wahrscheinlichkeitsrechnung, Integralrechnung und zur Theorie der Kometen. Schloß sich 1789 der Französischen Revolution an; forderte die Beseitigung der Klassenunterschiede im Bildungswesen, Autonomie gegenüber Kirche und Staat sowie eine Erwachsenenfortbildung. Ab 1792 Präsident der gesetzgebenden Nationalversammlung; als Girondist am 27. 3. 1794 verhaftet, Clamart (Dép. Hauts-de-Seine) † 29.3.1794 gestorben.
 

Beispiel: Berechnung eines Condorcet-Gewinners
Wir nehmen beispielsweise zur Illustration der Berechnung eines Condorcet-Gewinners an, daß drei Kandidaten A,B,C zur Auswahl stehen und 100 Wähler partizipieren. Jeder Wähler bewertet seine Rangordnung der Kandidaten in absteigender Reihenfolge. Ebenso ist es erlaubt, zwei oder mehrere Kandidaten gleichrangig zu bewerten. Das Auswertungssystem sortiert und zählt alle möglichen Kombinationen der gewählten Rangordnungen (siehe Tabelle 1.1): Die höchsten Präferenzen der Rangordnungswahl stehen an der Spitze, die niedrigsten ganz unten. Gleiche Präferenzen erscheinen an der selben Stufe (z.B. AB). In diesem Szenario bleibt eine Spalte ohne Stimme. Mit der Zunahme der Kandidaten bzw. Optionen eskaliert die Anzahl notwendiger Spalten und mithin stößt die manuelle Ergebnisermittlung schnell an ihre Grenzen.

Die notwendigen Vergleiche stellt anschließend die Tabelle 1.2 dar. Der Algorithmus zur Ergebnisermittlung prüft schrittweise alle Zeilen: Sobald eine Option (in einer Zeile) bei jedem Vergleich mehr Stimmen als alle anderen Optionen hat, dann ist ein Condorcet-Gewinner gefunden worden. In unserem Beispiel gewinnt die Option A (54>35 und 61>26) (Bemerkung: 54 = 21 + 19 + 5 + 8 + 1).

Diese Ermittlungsmatrix wurde von Dodgson erfunden (vgl. McLean, 1989, S. 183). Bei fünf oder mehreren Optionen und/oder einer sehr großen Wählerzahl gewinnt ein E-Wahlsystem wegen der hohen Evaluationsgeschwindigkeit an Bedeutung.

             Tabelle 1.1: Ein Array von geordneten Präferenzen (gewählte Rangordnungen).

Tabelle 1.2: Berechnung des Condorcet-Siegers (Dodgson Matrix).
 
      Dagegen  
 Dafür   A B C
         A   54 > 35 61 > 26
         B 35 < 54   48 > 39
       C 26 < 61 39 < 48  

1.5.3 Nutzersouveränität

Der Bürger trifft die selektive Auswahl der Daten und Informationen. Für die normative Demokratietheorie fördern sachliche Informationen den gut informierten Bürger. Allerdings würde die Informationsüberlastung (Information-Overload) kontraproduktive Auswirkungen haben (Irritationen des Bürgers). Deswegen können Agentensysteme Informationsbeschaffung und -vermittlung erleichtern und auch alternative Quellen berücksichtigen, was aber die Souveränität wieder einschränken kann (Repräsentation des Bürgers durch Agenten). Schließlich hängt die Effizienz der Informationssuche immer noch von dem Wissen der Anwender um ihre eigenen Bedürfnisse ab - und von ihrer Fähigkeit, ihre Interessensgebiete mit den passenden Stichworten zu beschreiben. Vor allem dann, wenn Benutzer die Fachsprache eines neuen Themengebietes nicht genau kennen, sind Fehlschläge und falsche Auswahlen des Agents vorprogrammiert.

In einer Beteiligungsdemokratie wird der Bürger mit Entscheidungsmacht ausgestattet, wodurch dieser den politischen Prozeß durch direkte Mitwirkung zu bestimmten Zeitpunkten als Souverän selbst kontrollieren kann.

1.5.4 Targetisierung

Für politische Akteure ist es unproblematisch, Zielgruppen spezifischer anzusprechen. Diese Targetisierung ermöglicht einerseits sachliche Informationsangebote, andererseits entstehen fragmentierte Teilöffentlichkeiten, die sich um singuläre Themengebiete konzentrieren und zu einer Stärkung der Partialinteressen und gleichzeitig zur Schwächung gemeinsamer Konsense führen können.

Durch die Anwendung eines E-Wahlsystems als direktdemokratisches Instrument kehrt die Bevölkerung die Targetisierungsrichtung um: Der Wähler entscheidet z.B. über die Prioritäten der im Parlament zu behandelnden Themen (Agenda-Setting, Agenda-Building). Somit würde die Priorität der Themen, welche Repräsentanten zu verfolgen haben, vom Bürger gesteuert.

1.5.5 Interaktivität

Im Gegensatz zu zentral gesteuerten distributiven Formen politischer Kommunikation eröffnet die interaktive Kommunikation diskursive und direktdemokratische Nutzungspotentiale. Aus der Sicht der Vertreter der E-Demokratie gilt Interaktivität als Haupteigenschaft, Reformimpulse in das politische System zu übertragen und politische Partizipation zu aktivieren.

Interaktivität kann die Akzeptanz und Zustimmung zur E-Wahl steigern. Das Netz-Szenario hebt die physischen Barrieren, die eine Teilnahme verhindern, auf. Für diejenigen Bürger, die während der Wahlzeit ihren Wohnsitz nicht verlassen können (z.B. aufgrund körperlicher Gebrechen) oder zwingend an eine andere Örtlichkeit gebunden sind, erlaubt ein E-Wahlsystem die Möglichkeit zur Teilnahme. Im Netz-Szenario entfällt für die Teilnehmer der Zeitaufwand für das Besuchen des Wahllokals.

Becker zufolge existiert im Gesellschaftssystem ein für politische Zwecke aktivierbarer technologischer Spieltrieb. Diese Antriebsenergie kann durch Stimuli zur Teilnahme an Entscheidungsakten angeregt werden. Für Becker ist die Begeisterung der Kinder für interaktive Computer-Spiele (oder für das Internet und Handy) ein Indiz dafür, daß die Bevölkerung sich nach direktdemokratischen Beteiligungsangeboten sehne (vgl. z.B. Becker, 1981, S. 9, Hagen, 1997, S. 63).

1.5.6 Dezentralisierung

Für neue Medien bestehen Nutzungsmöglichkeiten, sich an den Bedürfnissen der lokalen Gemeinschaft auszurichten. Die Dezentralisierung eröffnet alternativen Medien und einhergehenden sozialen Bewegungen neue Chancen. Gleichzeitig konzentriert, zentralisiert und oligarchisiert sich Medienkontrolle. Private Medienkonglomerate dominieren die Programmangebote und verfolgen weitgehend kommerzielle Interessen. Simultan entstehen aber demokratische Einsatzmöglichkeiten, die Kommunikationshierarchien abbauen. Die Filter und die Gatekeeper-Funktionen der konventionellen Medien, etablierter politischer Institutionen und Organisationen können durch diese Entwicklung umgangen und nach optimistischer Sicht entwertet werden. Dadurch läßt sich das Monopol bei der Themendefinition (Agenda-Setting) demokratisieren, die klassische Abwärtskommunikation (One-To-Many) durch Aufwärtskommunikation (Many-to-One) und horizontale Kommunikation (Many-To-Many) ergänzen.

Die Existenz eines elektronischen Wahlsystems eröffnet die theoretische Möglichkeit für die Demokratisierungsforderung "Bringing Power Back to People" (vgl. Becker, 1981, 1995, Becker/Slaton, 1997, Becker/Scarce, 1986, Slaton, 1992, 1998, 1999, Grossman, 1995, 1999, Becker/Slaton, 2000), um zentralisierte und oligarchisierte Entscheidungsmacht repräsentativer Demokratien neuzuverteilen (Machtdezentralisierung, Machtverteilung). Daraus würde im Kontext einer Beteiligungsdemokratie unter Aufrechterhaltung der repräsentativen Institutionen eine neue Machtteilung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten resultieren (Corrado/Charles/Firestone, 1996, Slaton, 1992, 1999, Becker/Slaton, 2000).