Genießen
Planmäßige Abfahrt um 14.40. Sobald sie Wien verläßt, atmet sie tiefer. Sie fahren nach Süden. Die Schwellen gleiten immer schneller vorbei, wie gut, sich irgendwohin fort bewegen zu können. Ihnen gegenüber sitzt ein bleicher Mann. Er hält einen Plastiksack umklammert, in dem ein Blechgeschirr steckt, aus dem er hastig, fast gierig zitternd, ab und zu erleichtert keuchend, einen milchigen Brei zu löffeln beginnt. Das Schaben des Löffels am Blechboden tut in den Ohren weh. Sie beobachtet verstohlen diese Gier, es klingt, als wollte ihm jemand das Geschirr streitig machen. Dabei ist sein Gesicht ruhig, nichts von der hörbaren Gehetztheit ist darin zu sehen. Er kauert beengt auf dem Sitz, hinter ihm ein dick angefüllter Plastiksack. Es ist etwas Faszinierendes an diesem Menschen, daß sie unentwegt hinstarren muß.
Eine sehr schöne Landschaft, die die Bezeichnung Gegend verdient. Wege, die sie gerne gehen würde, betrachtet sie vom fahrenden Zug aus, etwas Vergangenes steigt hoch. Sie kriecht in ihr Buch, um diesen Gedanken nicht weiter denken zu müssen.
gst.
Sexuelles NocturnoIch fahre fast jedes Jahr nach T. Auf dem Wort "fast" möchte ich bestehen, denn jedes Jahr soll keineswegs heißen, daß es automatisch geschieht, weder unumgänglich noch unabänderlich. Ich komme beinahe immer spontan dorthin. Ich weiß nie genau, ob ich vorbeifahre, oder ganz einfach nur durchfahre. Wenn es wahr ist, daß ich in T. vom zwölften bis zum neunzehnten Lebensjahr studiert habe, fühle ich mich unwohl. Unwohl und zugleich wunderbar.
T. ist mein sagenhaftes Pompeij.
Gewöhnlich komme ich mit dem Autobus. Die Landschaft um T. paßt zum Herbst. Ich betrachte die Stangen auf den Hügelkämmen.
Gleich beim Bahnhof ist eine Bäckerei. Dort haben wir spiritistische Séancen abgehalten. Während des Krieges lebte gegenüber in einem Zimmer im ersten Stock ein Schneider. Als er eingezogen wurde, ergriffen hochmütige österreichische Offiziere Besitz von seiner Frau. Es waren zwei oder drei auf einmal. Sie dachten nicht daran, die Vorhänge zu schließen.
Übersetzung aus dem Französischen: gabriele s.
aus: Vitezslav Nezval, Sexuelles Nocturno. Die Geschichte einer demaskierten Täuschung