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75–77: HALTBARKEIT UND (GEGEN-)KULTUR
Bei den Jahren 75 bis 77 weiß man gar nicht, womit man beginnen soll oder
was man weglassen kann: Soziale Errungenschaften, ORF-Skandale (Mundl, Kottan,
etc.), kritische Kunst oder terroristische Aktionen? Oder den Reichsbrücken-Einsturz?
1975
Das neue Strafrecht sieht vor: Ausweitung der Bewährungshilfe, Beseitigung
von Strafverschärfungen, Milderungen für Zufalls- und Konfliktstäter
und mehr Schutz vor geistig abnormen Rechtsbrechern.
Mit dem Lebensmittelgesetz werden neben strengeren Bestimmungen und Kontrollen
auch die Angaben zur Haltbarkeitsdauer von Produkten eingeführt.
Mit der Universitätsreform wird der Begriff Hochschule abgeschafft, es
gibt mehr Universitäten sowie Mitbestimmungsgremien und eine „beschränkte
autonome“ Zuständigkeit für Budgetierung.
Gemäß der Familienrechtsreform ist der Mann nicht mehr das Haupt
der Familie und die Frau ist ihm nicht mehr „untertan“, sondern
Ehepartner haben gleiche Rechte und Pflichten.
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1976
Unterhaltsvorschussgesetz: Unterhalt für Kinder, deren Väter sich
den Zahlungen entziehen, wird aus den Mitteln des Familienlastenausgleichsfonds
bevorschusst.
Sechstägige Pflegefreistellung: Eltern können sich um ihre kranken
Kinder kümmern, ohne Urlaubszeit opfern zu müssen.
Die Anhebung der Mindestrenten kommt besonders den Frauen zugute.
1977
Volksanwaltsgesetz: Ombudsmänner prüfen behauptete oder vermutete
Missstände. Die Volksanwaltschaft ist nach der Verfassung unabhängig
und „urteilt ausschließlich nach Grundsätzen des Rechts und
den Geboten einer fairen, bürgerfreundlichen und wirksamen Verwaltung des
Staates“.
Mehrere staatliche Preis- und Tariferhöhungen, u.a. für Zigaretten,
Bahntickets, Telefon- und Stempelgebühren. Außerdem werden mit dem
Abgabenänderungsgesetz höhere Beiträge in der Sozalversicherung,
die 30%ige Luxussteuer sowie eine Straßenbenützungsabgabe für
LKWs eingeführt. Dafür werden verstärkte Sparmaßnahmen
in der Verwaltung vorgenommen.
Der Mindesturlaub wird auf vier Wochen verlängert.
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ORF: Ein Skandal nach dem anderen
Der „Mundl“ aus der TV-Serie „Ein echter Wiener geht nicht
unter“ von Schwabenitzky/Hinterberger polarisiert ab Oktober 75 das Publikum.
Im August 76 wird die erste Folge von „Kottan ermittelt“ von Patzak/Zenker
ausgestrahlt, zu Beginn mit Peter Vogel in der Titelrolle. – Es hagelt
Proteste wegen angeblicher „Diskreditierung der Exekutive“.
Im Oktober folgt der erste Teil der „Alpensaga“ (Berner/Turrini/Pevny)
– die realistische Darstellung löst teilweise heftige Reaktionen
aus.
Ebenfalls im Oktober startet der „Club 2“: Die TV-Diskussionssendung
erlangt vor allem durch die Einladungspolitik und die Länge vieler Sendungen
(open end) im gesamten deutschsprachigen Raum Bedeutung und sorgt immer wieder
für Aufregungen.
Im November 77 schließlich gibt es eine innenpolitische Kontroverse um
die ORF-Produktion „Staatsoperette“ (von Novotny/Zykan) –
der satirische Film über die erste Republik wird von konservativer Seite
heftig kritisiert.
Rund um die Arena-Besetzung
1975 erscheint die Schmetterlinge-LP „Lieder fürs Leben“ mit
Texten von Heinz R. Unger: „Was ändert man mit einem Lied? Das stelln
wir zur Debatte / Das ganze Leben ist ein Kampf, und so auch diese Platte /
Doch muss man wissen, wo man steht und auf wessen Seiten / Da stelln wir uns,
was uns angeht, zu den gemeinen Leuten“.
Nach der Vollstreckung von Todesurteilen in Spanien kommt es im Oktober 75 zu
einer Anti-Franco-Demonstration in Wien mit mehreren tausend TeilnehmerInnen.
Sie endet mit einer Straßenschlacht, bei der 66 Polizeibeamte verletzt
werden. Die Zahl der verletzten DemonstratInnen ist nicht bekannt.
Im Sommer 1976 wird der Auslandsschlachthof in St. Marx nach der Alternativen
Festwochenveranstaltung „Arena“ – bis zur polizeilichen Räumung
nach drei Monaten - besetzt. Wer will, nimmt sich ein Gebäude, adaptiert
es und macht sich an die Arbeit: Auf dem sieben Hektar großen Grundstück
entsteht ein bis dahin nicht gekannter Mix von künstlerischen, politischen,
sozialarbeiterischen und medialen Unternehmungen.
Die „Arena" bereitet den Boden für Zwentendorf, Hainburg und
autonome Projekte wie Amerlinghaus, WUK, Gassergasse und EKH.
In der Veranstaltungshalle treten u.a. auf: Ambros, Leonard Cohen, Danzer, Jelinek,
Kabarett Keif, Franz Kogelmann, Mira Lobe, Sigi Maron, McLaughlin, Nöstlinger,
Fritz Pauer, Michael Scharang, Schmetterlinge, Turrini, Unger, Zykan.
Einen Eklat verursacht 1977 die Veröffentlichung des Liedes „Trara
Trara die Hochkultur“ von Fritz Herrmann, einem Mitarbeiter des Unterrichtsministeriums.
Eine Strofe lautet: „Es scheißt der Herr von Karajan / bei jedem
falschen Ton sich an / und wascht sein Arsch im Goldlawur - / anal sein g’hört
zur Hochkultur!“. Herrmann wird in zahlreichen Artikeln und Briefen attackiert,
erhält aber auch viele Solidaritätsadressen, v.a. von KünstlerInnen.
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Terror auch in Wien
Auch Wien bleibt nicht von Terror-Anschlägen verschont: Im Dezember 75
bringen fünf Terroristen elf OPEC-Minister in ihre Gewalt. Ein Wiener Kriminalbeamter
und zwei OPEC-Mitglieder werden getötet. Die Terroristen erfüllen
die Forderung der Bundesregierung und lassen die österreichischen Geiseln
frei, im Gegenzug werden die Terroristen zum Flughafen Schwechat gebracht und
können Österreich mit 33 Geiseln verlassen.
Im November 77 wird Walter Michael Palmers, der Seniorchef des Textilkonzerns,
entführt und gegen ein Lösegeld von 31 Mio. Schilling wieder freigelassen.
Wie sich später herausstellte, stehen Sympathisanten der Baader-Meinhof-Szene
hinter der Entführung. – Im Dezember wird Lotte Böhm, Gattin
des Textilunternehmers, entführt und fünf Tage später gegen ein
Lösegeld von 25 Mio. Schilling freigelassen. Die Entführer werden
im Jänner 78 festgenommen.
Im Jänner 77 tötet eine selbstgefertigte Donaritbombe Hans Georg Wagner
in seinem Auto. Die Polizei erklärt dadurch die Bombendrohungen und –anschläge
der letzten Zeit (etwa eine rechtzeitig gefundene Bombe unter den Westbahnschienen
bei Purkersdorf). - Wagner war auch der Verfasser mehrerer Briefe, in denen
er Bombenanschläge auf den Ringturm, die Börse und die Polizeidirektion
ankündigte.
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Was sonst noch geschah
1975
In Wien treten gebührenpflichtige Parkscheine in Kraft.
1976
Erstmals verkehren die umweltfreundlichen Citybusse.
Nach erheblichen Verlusten bei zwei Bauprojekten im Nahen Osten beginnen die
Ermittlungen um den mit 1,4 Mrd. Schilling verschuldeten „Bauring“,
an dem die Stadt Wien beteiligt ist.
Am 1.8. stürzt die Reichsbrücke ein. Ursache: schlechter Beton in
einem Brückenpfeiler. Untersuchungen ergeben mangelhafte Kontrollen. (Am
selben Tag verunglückt Niki Lauda auf dem Nürnburgring.)
Die U4 nimmt den Betrieb zwischen Heiligenstadt und Friedensbrücke auf.
1977
Im Juli gibt es bei 2.771.461 ArbeitnehmerInnen eine Arbeitslosenrate von 1%
(!); das Budgetdefizit beträgt 41,5 Mrd., die Staatsschulden 164,6 Mrd.
Schilling.
Das Bonus-Malus-System bei der Automobilhaftpflichtversicherung tritt in Kraft.
Und in Wien wird die erste Moschee errichtet.
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Quellen:
Kleindel Österreich, Ueberreuter, Wien, 1995
Kunst & Kultur in Österreich: Das 20. Jahrhundert, Verlag Christian
Brandstätter, 1999
Augustin, 2001
http://www.renner-institut.at/frauenakademie
http://www.tvmatrix.at
http://mediaresearch.orf.at
© Augustin 2005
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