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1.11.2003: Ich bin mit meiner Praxis umgezogen. Neue Adresse ist 1070 Wien, Kandlgasse 32/4. Fotos von der neuen Praxis gibt es so bald wie möglich. 

 

Dieser Artikel über Integrative Gestalttherapie wurde von mir schon 1992 (siehe Cover links) veröffentlicht. Er war gedacht als kompakte, wenn auch nicht ganz kurze Erstinformation für interessierte Laien und StudentInnen, die sich einen Überblick über verschiedene Therapieformen verschaffen wollen. Aus: G. Stumm, B. Wirth: Psychotherapie Schulen und Methoden, Wien 1994, 2.Auflage

Hier soll er als Entscheidungshilfe für Ratsuchende dienen und Ihnen einen kurzen Einblick in die theoretischen Hintergründe geben.

            

GESTALTTHERAPIE

Gestalttherapie und ihre aktuelle Ausformung im europäischen Raum als Integrative Gestalttherapie verbindet phänomenologische, psychoanalytische, gestalt-psychologische und feldtheoretische Konzepte sowie östliche Meditationsformen zu einem Ansatz dialogischer und ganzheitlicher Behandlung. Durch Aktivieren und Freilegen der selbstregulierenden Kräfte des Organismus, durch Zentrierung auf leibliches Erleben, emotionalen Ausdruck, kognitive Einsichtsprozesse und Neuorientierung bzw. Erprobung im Handeln soll eine integrierte Persönlichkeit erhalten, entwickelt oder wiederhergestellt werden. 

                 GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK

Die Begründer

Die Gestalttherapie wurde von dem Berliner Psychiater und Psychoanalytiker Friedrich Salomon Perls (1893-1970), seiner Frau Lore Perls (1906-1990), Gestaltpsychologin und Psychoanalytikerin und dem Sozialphilosophen, Literaturwissenschafter und Alternativpädagogen Paul Goodman (1911-1972) begründet.

Nach einem Medizinstudium und dem Beginn seiner analytischen Ausbildung bei Karen Horney wechselte F.Perls von Berlin nach Frankfurt, wo er bei dem gestaltpsychologisch orientierten Neurophysiologen Kurt Goldstein als Assistent arbeitete. Dort lernte er Lore Posner, seine spätere Frau, kennen, eine Gestaltpsychologin, die an experimentellen Untersuchungen über Hirnverletzungen mitarbeitete. Ihre psychoanalytische Ausbildung erhielt sie bei Karl Landauer und Frieda Fromm-Reichmann. Fritz Perls setzte seine psychoanalytische Ausbildung bei Klara Happel, Eugen Harnick und später bei Wilhelm Reich fort (vgl. Perls 1981).

1933 verließen Lore und Fritz Perls mit ihrer eben geborenen Tochter Deutschland und ließen sich in Südafrika nieder, wo sie mit Unterstützung von Ernest Jones ein psychoanalytisches Institut gründeten.

Die Ablehnung seines Konzeptes über "Orale Widerstände" auf dem Psychoanalytischen Kongreß in der Tschechoslowakei 1936 führte, verbunden mit immer deutlicher werdenden theoretischen Divergenzen zur Freud'schen Position zu einer Abgrenzung und polemischen Distanzierung von der orthodoxen Psychoanalyse, was auch in seinen späteren Werken immer wieder zum Ausdruck kommt.1946 verließ Perls Südafrika aus politischen Gründen und ging nach Ney York. Nach Kontakten mit Horney, Fromm und Sullivan (Querverweis), die als Neo-Analytiker eine direktere und offenere Beziehung zwischen Patient und Therapeut forderten, lernte er Paul Goodman kennen.

Goodman, promovierter Literaturwissenschafter, fand durch seine Auseinandersetzung mit der Phänomenologie und anarchistischen Gesellschaftstheorien, durch seine Kenntnisse der psychoanalytischen Theorie und die eigene Analyse bei W. Reich zahlreiche Parallelen zu Fritz und Lore Perls. Seine Ablehnung von Konsumzwang und Wehrdienst sowie sein offenes Eintreten für die gesellschaftliche Anerkennung der Homosexualität ließen ihn zu einem bekannten Sozialkritiker werden. Goodmans Beitrag zur Gestalttherapie bestand vorwiegend in seinem persönlichen und politischen Engagement sowie in der Formulierung von anthropologischen und weltanschaulichen Konzepten.

In den Jahren 1952 und 1953 wurden das New York- und das Cleveland-Institute for Gestalt Therapy gegründet, an denen Psychotherapien, Workshops und Fortbildungskurse nach dem neuen Ansatz durchgeführt wurden.

Nach Jahren persönlicher Krise gewann Fritz Perls durch die Auseinandersetzung mit dem Zen in Japan und durch Erfahrungen in einem israelischen Kibbuz (Elat) eine neue, stärker auf die Betonung der Gemeinschaft hinzielende Orientierung in seinem Handeln. Diese Erfahrungen veranlaßten ihn später zur Gründung des Gestalt-Kibbuz am Lake Cowichan/Vancouver (1969), wo er knapp vor seinem Tod versuchte, seine Vorstellungen von selbstbestimmten und gemeinschaftlichen Zusammenleben umzusetzen. Perls überwindet hier die individualistische Selbstbezogenheit, die in der Zeit seiner Tätigkeit am Esalen Institute (Big Sur, Hot Springs/California, 1964-1969) kulminierte. Dem Geist der Human-Potential-Movement (Querverweis), blieb er bis zu seinem Tod 1970 verbunden.

Strömungen innerhalb der Gestalttherapie

In Amerika bildeten sich bereits zu Lebzeiten von Fritz Perls unterschiedliche gestalttherapeutische Schulen heraus: die Gestalttherapie der Westküste und die der Ostküste.

Der "Westküstenstil" ist geprägt durch möglichst große Offenheit, totale Authentizität des Therapeuten, einem strengen Arbeiten im "Hier-und Jetzt" und eine Zentrierung auf Einzelarbeit in der Gruppe. Ziel ist eine therapeutisch induzierte Persönlichkeitserweiterung, Zielgruppe ist der "Normalneurotiker".Wichtige Vertreter sind zB. J.S. Simkin und C. Naranjo.

Der "Ostküstenstil" ist in seinem therapeutischen Vorgehen stärker analytisch orientiert und ist gekennzeichnet durch eine selektive Offenheit bzw. Authentizität. Neben dem "Hier-und-Jetzt" wird auch das "Dort-und-Damals" und das Zukünftige in den therapeutischen Prozeß miteinbezogen. Die Einzelanalyse wird als "Gestaltanalyse" bezeichnet, die Arbeit in der Gruppe ist person- und gruppenbezogen. Der "Ostküstenstil" ist klinisch orientiert, Ziele und Methoden orientieren sich am jeweiligen Klienten oder Patienten. Wichtige Vertreter sind zB. Lore Perls, Paul Goodman und Isadore From.

In Europa wurde die Gestalttherapie durch H.Petzold, Ruth Cohn (Querverweis), J.Sieper und H.Heindl Anfang der siebziger Jahre als Integrative Gestalttherapie bzw. Integrative Therapie bekannt. Die neuere europäische Entwicklung in der Gestalttherapie versucht stärker die Psychoanalyse in der Tradition der Ungarischen Schule (Ferenczi, Balint) (Querverweis) vermittelt über Iljines Therapeutisches Theater und das Psychodrama Morenos (Querverweis) sowie sozialpsychologische Ansätze (G.H.Mead, Berger, Luckmann) zu berücksichtigen. In Anlehnung und Weiterentwicklung des "Ostküstenstils" wird unter Beibehaltung der "Gestaltanalyse" die Gruppentherapie stark betont und es werden auch Regressionsprozesse induziert. Der soziale und ökologische Kontext sowie die Zeitperspektive werden stärker berücksichtigt.

Einflüsse und Anregungen

Naturgemäß bezieht sich der Psychoanalytiker Perls immer wieder auf die Psychoanalyse. Allerdings bringt er zumeist zum Ausdruck, daß Freud in vielen Punkten seiner Theorie und Praxis eine Richtung verfolgte, die er nicht mitgehen wollte.

Friedländers Auffassung, daß alles Existierende von Polaritäten bestimmt wird, die einander definieren sowie Jungs Ansicht, daß der Traum eher kreativer Ausdruck denn Verschleierung sei, antizipierten wichtige Elemente der Gestalttherapie. 

Auf Wilhelm Reich geht die Einbeziehung des Körperausdrucks (der Körperhaltung, der Muskelspannung, Gestik, Mimik etc.) zurück.

Auf den Einfluß Jacob Morenos und des von ihm entwickelten Psychodramas wird noch bei der Beschreibung der einzelnen Techniken genauer Bezug genommen. 

Bei Perls finden sich auch fernöstliche Konzepte aus Meditation und Zen-Buddhismus. Vor allem das Konzept der Bewußtheit ("awareness") ist daraus abgeleitet. 

Deutlich sichtbar ist der Einfluß des Existenzialismus, der die teilnehmende Erfahrung und die lebendige Aktion von Seiten des Therapeuten betont. Hervorzuheben ist hier die Orientierung an Bubers interaktioneller "Ich-Du-Beziehung" als persönliche Begegnung. 

Zum geistigen Vorfeld, aus dem Fritz Perls seine Theorien ableitete und wertvolle Impulse erhielt, zählt weiters auch die Gestaltpsychologie. (siehe auch Kapitel "Grundannahmen") 

In der europäischen Richtung der Gestalttherapie verbreiterte und systematisierte H.Petzold die philosophischen Grundlagen (z. B. Marcel, Merleau Ponty, Ricoeur) und ergänzte, wie bereits erwähnt, die theoretischen Konzepte durch eine Aufarbeitung und Neuintegration psychoanalytischer und sozialpsychologischer Auffassungen (vgl. Bünte- Ludwig 1984).

                    

THEORETISCHE GRUNDLAGEN

Das von Fritz und Lore Perls sowie Paul Goodman entwickelte psychotherapeutische Verfahren sollte zuerst "concentration therapy", dann "Theorie und Technik der Persönlichkeitsintegration" genannt werden, immer war es als eine "existential therapy" gedacht. Die Bedeutung der Selbstverantwortung kommt hier zum Ausdruck: Es geht um das unmittelbare Erfassen des Seienden. Dieses Prinzip ist Grundlage der Gestalttherapie. Die Arbeit beginnt am Offensichtlichen und führt in einem hermeneutischen Prozeß zu einem Verstehen der Phänomene, der Person und des Kontextes.

Gefördert werden soll Response-ability, d.h. die Fähigkeit zu antworten, sich im Kontakt mit dem Gegenwärtigen selbst zu entwerfen. Der Therapeut ist dabei Katalysator, der dem Klienten/Patienten als Subjekt begegnet, ihn auf seinem Weg begleitet, ihm hilft, kontakt- und damit erlebnisfähiger zu werden und die Verantwortung für sein Handeln und Entscheiden selbst zu übernehmen. (siehe auch Kapitel "Therapeutenrolle")

Aus der Gestaltpsychologie stammt die Annahme, daß Einzelelemente nicht atomisiert wahrgenommen werden, sondern daß ihnen im Wahrnehmungsprozeß eine Struktur und Organisation zugrundegelegt wird. Das heißt, daß der Betrachter nicht primär Einzelelemente wahrnimmt, sondern sinnvoll gegliederte Ganzheiten, die sich als Figuren vor ihrem Hintergrund abheben. Wenn diese Figuren als unvollständig erfahren werden, hat der Betrachter das Bestreben, sie tatsächlich oder in seiner Vorstellung zu ergänzen.

Diese Theorie wurde in der Gestalttherapie auch auf den Handelnden, den Denkenden, Empfindenden sowie auf Motivationsprozesse ausgedehnt. Unvollendete Erfahrungen, frustrierte Strebungen und Wünsche, etc. - oft als unerledigte Geschäfte bezeichnet - haben die Tendenz den fortlaufenden Prozeß der aktuellen Figurbildung zu stören und müssen deshalb zum Abschluß gebracht werden. Das setzt allerdings voraus, daß der (gesunde) Organismus weiß, welche Konfigurationen er aus seinem Umfeld auszuwählen hat, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. So wird neben der Prämisse, die besagt, daß die Organismus- Umwelt-Beziehung ein strukturiertes, dynamisches Ganzes ist, vom Prinzip der "organismischen Selbstregulation" ausgegangen. Darunter wird eine dem Organismus innewohnende Kraft verstanden, seine Bedürfnisse zu befriedigen und zu wachsen. Nach Perls wird alles Leben und Verhalten nach dem Prinzip der Homöostase reguliert. Der homöostatische Prozeß läuft ununterbrochen ab, es ist ein fließender Übergang von der Bedürfnisspannung zur Bedürfnisbefriedigung, von figuraler Aufmerksamkeit zu allgemeinem Desinteresse. Integraler Teil der organismischen Selbstregulation ist die "awareness", ein Zustand aufmerksamer Wachheit, mittels derer es dem Organismus gelingt,seine Bedürfnisse wahrzunehmen und mit der Welt in Kontakt zu treten.

Ein zentrales Konzept: Kontakt

Goodman und Perls unterscheiden vier Stadien der Kontaktaufnahme:

Vorkontakt: Der Kontaktzyklus beginnt damit, daß sich auf dem Hintergrund des Körpers das Bedürfnis oder der Umweltreiz als Figur abzuheben beginnt.

Kontaktnehmen: Die Erregung des Verlangens wird jetzt Hintergrund, während ein Objekt oder eine passende Phantasievorstellung die Figur wird. Der Körper verblaßt (oder umgekehrt, wie beim Schmerz, wo der Körper Figur wird) Dieses Stadium ist gekennzeichnet durch Auswählen und Verwerfen von Möglichkeiten, von aggressivem Herangehen und Überwinden von Hindernissen, von absichtlichem Orientieren und Zugreifen, ein Gefühl ist vorhanden. 

Kontaktvollzug: Vor dem uninteressanten Hintergrund von Umwelt und Körper tritt die Figur lebhaft hervor und wird in Berührung genommen. Alles Absichtliche ist gelockert, Wahrnehmung, Bewegung und Gefühl wirken spontan und einheitlich zusammen.

Nachkontakt: Die Organismus- Umwelt- Interaktion ist wieder im Fluß; die Figur- Grund- Bildung ist aufgehoben. Der Prozeß ist abgeschlossen und beginnt im selben Augenblick von Neuem. (vgl.Perls, Hefferline & Goodman 1979, 193)

Identitätskonzept

In der Integrativen Gestalttherapie wird der Mensch als "Leib-Seele-Geist-Subjekt in einem sozialen und ökologischen Umfeld" betrachtet, in dem er "durch Wahrnehmen, Erleben, Handeln, durch Kontakt mit seiner Leiblichkeit, den Dingen und anderen Menschen seine Identität erhält, entwickelt und entfaltet." (Petzold & Schneewind 1986, 155)

Das Selbst ist als Leib- und Rollenselbst (Querverweis: siehe auch die Rollentheorie im Beitrag: "Psychodrama") gedacht. Der Leib als Grundlage menschlichen Existierens bildet damit die Basis des Selbst, er ist der Ort an dem alles Erlebte gespeichert ist. Das Leib-Selbst ist eingebettet in der kollektiven Leiblichkeit und somit immer auf andere bezogen. Es schließt die Dimensionen des individuellen und kollektiven Unbewußten ein. Im Sozialisationsprozeß bilden sich im Zusammenwirken bewußten Wahrnehmens und Handelns auf dem Boden des Leib-Selbst das Rollen-Selbst bzw. das Ich heraus. Das Ich ist nach Petzold die bewußt wahrnehmende Instanz, das Gesamt der Ich-Funktionen (Wahrnehmen, Denken, Gedächtnis, etc.) und entsteht durch Kontaktprozesse. Entsprechend dem jeweiligen Entwicklungsstand des Menschen bildet sich das Ich als Zusammenwirken seiner Funktionen: die Wahrnehmungs-, Erlebens- und Erkenntnisfähigkeit als Perzeption, Emotion, Kognition. Im Zusammenwirken aller Ich-Funktionen in der Zeit konstituiert das Ich-Identität. "Identität wird gewonnen, indem sich ein Mensch in leibhaftigem Wahrnehmen und Handeln auf dem Hintergrund seiner Geschichte als der erkennt, der er ist (Identifikation), und indem er von den Menschen seines relevanten Kontextes auf dem Hintergrund gemeinsamer Geschichte als der erkannt wird, als den sie ihn sehen (Identifizierung)" (Petzold 1985, 362). Dieser Begriff der Identität soll den interaktionalen Aspekt: die ständige Auseinandersetzung des Ich mit dem Du betonen, und die individuelle und kollektive Geschichtlichkeit berücksichtigen. Identitätsbildung geschieht, indem sich zwei Menschen als Subjekte in ihrer Gemeinsamkeit und Verschiedenheit begegnen, indem alle wichtigen Bereiche der Identität Gegenstand von Korrespondenzprozessen, von Begegnung und Auseinandersetzung werden. 

Als solche Identitätsbereiche können unterschieden werden:

- der Bereich der Leiblichkeit, 

- der Bereich des sozialen Kontextes, des sozialen Netzes

- der Bereich von Arbeit und Leistung

- der Bereich der materiellen Sicherheit

- der Bereich der Werte, und weltanschaulichen Orientierungen  

Diese fünf "Säulen des Supports" (Petzold), die die Identität tragen, sind Gegenstand der Prozesse in der therapeutischen Beziehung im Sinne der Integrativen Therapie.

Theorie der Gestalt-Gruppentherapie

Die klassische Gestalttherapie in ihrer Ausprägung als "Westküstenstil" (siehe Kapitel "Strömungen in der Gestalttherapie") arbeitet mit dem Modell der "Einzelarbeit in der Gruppe" (siehe auch "Praxis der Gruppentherapie). Perls gelangte zu der Auffassung, daß Einzeltherapie überholt sei und durch Workshops ersetzt werden sollte. 

Die weiterentwickelte Gruppentheorie der Integrativen Gestalttherapie (siehe auch Kapitel "Identitätskonzept und Praxis") bezieht sich im wesentlichen auf die Feldtheorie von Kurt Lewin (vgl. Lewin 1963; Graumann 1982) und wurde zu einem "Bühnenmodell der Gruppe" (Petzold & Schneewind 1986, 137) ausgearbeitet.

Beachtet wird nicht nur das Individuum als Teil der Gruppe, sondern auch das Netz von Beziehungen zwischen den Teilen (Mitgliedern, Dyaden, Triaden, Subgruppen) der Gruppe in ihrem Kontext. Der Prozeß der Gruppe und in der Gruppe wird als Problemlösungsprozeß verstanden, der sich szenisch vollzieht. 

Der Therapeut ist deshalb dazu angehalten, aus "exzentrischer Position" in "partieller Teilnahme" gleichzeitig auf die Gruppe als Ganzes, auf die einzelnen Mitglieder, auf sich selbst und auf den umgebenden Kontext zu achten. Dabei berücksichtigt er auch die Geschichtlichkeit und die Zukunftsentwürfe der einzelnen und des Systems. Durch Zusammenschau der einzelnen Perspektiven auf der Ebene des Offensichtlichen, Phänomenalen und der Ebene des nicht unmittelbar ersichtlichen, Impliziten, der Strukturen kann der Sinn der jeweiligen Situation erfaßt werden. Die Art und Weise des Erfassens, die diesem Erkenntnisprozeß zugrundeliegt, wird als "szenisches Verstehen und Erfassen" (Petzold & Schneewind 1986) bezeichnet.

Szenisches Erfassen geht davon aus, daß das Ganze im Teil sichtbar ist und der Teil im Ganzen (vgl. Holographie). Es geschieht mit dem ganzen Leib als Sinnesorgan. Szenen können gesehen, gehört, geschmeckt, gefühlt und gerochen werden. Weil sie im Gedächtnis ganzheitlich gespeichert ist, kann die ganze Szene über die Aktualisierung eines Teiles von ihr (z.B.der Geruchserinnerung) abgerufen werden. Durch Registrieren der "inneren Resonanzen" im Emotionalen, im Bereich der Phantasie (z.B. Bilder und Symbole) und von erinnerten Szenen kann der Sinnzusammenhang des aktuellen Geschehens in der Gruppe erfaßt werden.

R.Frühmann (1986, 255ff) entwirft ein mehrperspektivisches Gruppenmodell und unterscheidet folgende, vom Therapeuten zu fokussierende Bereiche:

- Perspektive Gruppe

- Perspektive Individuum

- Perspektive Szene bzw. Kontext

- Perspektive Zeit (Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft)

- Perspektive Beobachter (Exzentrische Position)

Aus einer Synthese dieser Perspektiven können letztlich Interventionen abgeleitet werden, die der Komplexität der Situation auch entsprechen.

Abschließend sei hier die von Hans Jürgen Walter entwickelte "Gestalttheoretisch begründete Psychotherapie" erwähnt (vgl. Walter 1985).

Krankheitsverständnis

Das Hauptproblem für ein Individuum besteht nach Perls darin, sich als Teil der Gemeinschaft selbst zu verwirklichen und dennoch von ihr akzeptiert und eingebunden zu werden. Erst entfremdete gesellschaftliche Bedingungen, die die von Grund auf soziale, d.h.auf den anderen und die Gemeinschaft bezogene Natur des Menschen einschränken und unterdrücken, führen - über das "existentielle Leiden" hinaus - zu individuellem Leiden im psychopathologischen Sinn.

Krankheit entsteht, wenn die organismische Selbstregulation unterbrochen und die Figur-Grund-Flexibilität in chronischer Weise beeinträchtigt ist, als kompromißhaft mißlungene Anpassungsleistung. Der Neurotiker hat ein von seinem Selbst abweichendes Selbstbild, sodaß er nicht seine ureigene, authentische Individualität lebt, sondern einem Klischee und Verzerrungen erliegt. Er kommt mit seinen Anforderungen an sich selbst und mit den Anforderungen der Umwelt nicht zurecht, seien diese nun real, verinnerlicht oder eingebildet. Er verfügt nicht ausreichend über die Selbstregulierung, um seine existentiellen Bedürfnisse zu befriedigen bzw. sich seine Umwelt entsprechend zu gestalten.

Krankheitsfördernd können überlastende Einflüsse aus dem Umfeld, Defizite bei der Entwicklung und Reifung des Individuums sowie ein Andauern blockierter Kontaktzyklen wirken. Das Vollenden von Kontaktzyklen gehört zur gesunden Fähigkeit des Ich bzw. Selbst. Können nun Bedürfnisse oder Emotionen nicht bewußt erlebt oder adäquat ausgedrückt werden, führt das zur Einschränkung der "awareness" und damit verbunden des Kontaktes mit sich selbst und der Umwelt. Es entsteht eine neurotische Selbstregulation mit dysfunktionalen Verhaltensweisen. Gemäß seinem fixierten Selbstkonzept vermeidet der Neurotiker durch Ausblenden und Blockierungen etc. mit unerwünschten inneren und äußeren Impulsen in Kontakt zu treten. Chronifizierte dysfunktionale Kontaktmuster können damit zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen sowie dissozialen Verhalten führen.

Typische Grundmuster des (Kontakt-)Vermeidungsverhaltens sind nach Perls Introjektion, Projektion, Retroflexion und Konfluenz. Polster & Polster (1975, 93) fügten dem noch die Deflektion hinzu.

Introjektion: Sie ist eine Einschränkung der Fähigkeit zu assimilieren. Assimilieren meint den Prozeß des "etwas-Fremdes-sich-zu- eigen-machen", indem dieses Fremde erst zerstört wird, seine ursprüngliche Struktur verliert, anschließend zerlegt, zerkaut und damit Bestandteil des Organismus bzw. des Subjekts wird und dieses zu einer neuen, kohärenten Gestalt werden läßt.

Der Introjektor ist nicht oder nur schlecht imstande, die von der Umwelt angebotenen, auferlegten Gebote, Regeln, Handlungsnormen und dergleichen zurückzuweisen. Es werden Introjekte einverleibt und nicht wirklich assimiliert; damit bleiben sie dem Selbst fremd und verändern es auch nicht wirklich in seiner Struktur.

Als klinisches Bild können Depressionen, Zwänge und Masochismus die Folge von negativen Introjektionen sein. Bei der positiven Introjektion kann das Individuum entsprechend seinen Bedürfnissen adäquat auswählen und assimilieren, d.h. das Fremde unter Aufrechterhalten der Ich-Grenzen probehalber in den Organismus hineinnehmen.

Projektion: Sie wird ähnlich wie in der Psychoanalyse als Zuschreibung abgelehnter Selbstaspekte an die Umwelt verstanden. Die aus dem Selbst ausgelagerten Anteile sind oft aggressive oder libidinöse Impulse, die im Widerspruch zu introjizierten Normen stehen. Auch Introjekte, deren Herkunft nicht identifizierbar ist, können zu Projektionen werden. Das, was als eigener Konflikt zu werten wäre, wird hinausverlagert und erscheint nun als äußerer Konflikt.

Das klinische Bild kann eine phobische oder hysterische Symptomatik sein. Die positive Seite der Projektion ist der "awareness" zugänglich und entstammt einem Überschuß der Persönlichkeit, der z.B. in Form von kreativer und künstlerischer Tätigkeit in der Außenwelt vergegenständlicht wird.

Retroflexion: Anstelle einer Ich- Außenwelt- Beziehung wird eine Ich-Ich-Interaktion aufgebaut. Die Aktivität, die eigentlich der Beeinflussung der Umwelt dienen sollte, wird gegen das eigene Selbst gewendet. Der Betreffende fügt sich das selbst zu, was er gerne einem anderen zufügen würde oder er gibt sich selbst das, was er eigentlich von außen wünscht. 

Eine pathologische Retroflexion, die in der Folge zu Depression, Suizidalität oder psychosomatischen Erkrankungen führen kann, besteht z.B., wenn aggressive Impulse chronisch nicht nach außen, sondern gegen das Selbst gerichtet werden. Das Einfügen in und das Übernehmen von sozialen Normen und Werten erfordert hingegen die Fähigkeit zur Retroflexion.

Konfluenz: Hier negiert das Individuum seine "Ich-Grenzen". In der pathologischen Konfluenz fehlt eine ausreichend klare Abgrenzung nach innen (Gefahr der Überflutung durch archaisches Material) und nach außen (mangelnde Fähigkeit, Ansprüchen aus der Umwelt zu widerstehen). Es ist nicht mehr unterscheidbar, was die eigenen Bedürfnisse sind, bzw. wer deren Befriedigung verhindert.

Klinisch kann sich pathologische Konfluenz in Suchtverhalten, Psychosen und Borderline- Erkrankungen äußern. Zur positiven Konfluenz gehört die Mutter-Kind-Symbiose bzw. die Fähigkeit, sich identifikatorisch einzufühlen sowie Ekstase, Orgasmus und Meditation.

Deflektion: Sie stellt das Kontaktverhalten des "Small- talk" dar. Die Direktheit des Kontaktes zum anderen wird abgeschwächt, das Essentielle des Kontaktes wird abgebogen, verwässert oder verdeckt. Die Kontakt-Energie wird nicht zielgerichtet aktiviert und eingesetzt, sodaß sie das Gegenüber nicht erreicht. 

Pathologische Deflektion ist der bevorzugte Kontaktmodus des Schizoiden. Im Positiven hilft uns die Fähigkeit zur Deflexion eine Reihe realer Bedrohungen, die nicht abwendbar sind (z.B. atomare Bedrohung) und traumatischer Überstimulierungen (z.B. unheilbare Krankheiten) auszuhalten.

Weiters soll hier noch auf Petzolds erweitertes Neurosenkonzept hingewiesen werden, das Krankheitsbilder nach ihrer Entstehung aus  Defiziten, Störungen, Traumatisierungen und Konflikten unterscheidet (vgl. Petzold 1977, 262ff).

Diagnostik

Gestalt-Diagnostik ist prozessuale Diagnostik und untersucht den zwischen Klient und Diagnostiker (Therapeut) ablaufenden Prozeß, der selektiv transparent gemacht wird (selektive Offenheit), die intrapsychischen Prozesse beim Diagnostiker (Gegenübertragung des Therapeuten) und beim Klienten (Übertragungen, Abwehrformen).

Ausgehend von der phänomenalen Ebene, von dem, was der Klient im "Hier-und-Jetzt" zeigt, sollen die Strukturen erfaßt werden, als Konfigurationen von Abläufen und Szenen, die in der Zeit eine relative Konstanz zeigen. Der Sinn dieser Strukturen ist jedoch nicht unmittelbar zu erkennen und muß in einem hermeneutischen Prozeß hypothetisch erschlossen werden. Der Leib und das Gedächtnis werden als Reservoir derartiger Strukturen bzw. Szenen aufgefaßt. Es wird davon ausgegangen, daß jede Diagnose eine Konfrontation mit dem IST- Zustand ist und dadurch therapeutische Wirkung hat.                   

                          PRAXIS

Ziele der Therapie, wie Selbstregulierung, Bewußtheit und andere sind bereits mehrmals angeklungen. Grundsätzlich geht es darum, daß der Klient zu seinem Selbst gelangt, das eben nicht ein Bündel von Introjekten, sondern sein eigenständiges, individuelles Wesen

ist. Er soll entdecken wer er selbst ist und was er nicht ist, was ihm erfüllt und was ihm hemmt. Über Symptombeseitigung hinaus geht es um die Wiederherstellung, Erhaltung und Entwicklung von Identität bzw. um die Herausbildung von Begegnungs-Fähigkeit, die möglichst frei ist von Projektionen und Übertragungen, sowie um einen intensiveren Zugang zur eigenen Emotionalität. 

Petzold (1980, 230ff) nennt folgende Ziele therapeutischer Arbeit:

- Erhaltung und Gewinn von Grundvertrauen

- Förderung von Identität

- Konstituierung von Sinn

- Konstituierung von Intersubjektivität

- Förderung von Kompetenzen und Performanz

 

Wesentliche Elemente des therapeutischen Geschehens sind Bewußtheitsförderung, Kontakt, Darstellen, Experimentieren und Durcharbeiten. Alle Ebenen menschlicher Äußerungsformen werden herangezogen: Gedanken, Emotionen, Träume, Phantasien, die Sprache mit ihren Facetten, dem Tonfall und der Ausdrucksweise, Bewegung, Mimik und Gestik, Körperhaltung und Atmung.

Therapeutische Prozesse

Die im folgenden beschriebenen Prozesse können sowohl im Einzel-als auch im Gruppen-Setting beobachtet werden. Sie gelten sowohl für eine einzelne Sequenz (z.B. eine Therapie-Sitzung) als auch für den Bogen, den einzelne Themen über mehrere Sitzungen spannen können.

Die Phasen des therapeutischen Prozesses nach F. Perls (vgl. Perls 1976; 1980; 1981):

Perls hat ein fünfschichtiges Modell der Neurose entwickelt, dessen Durchlaufen im therapeutischen Prozeß er oft als "Zwiebelschälen" bezeichnet hat.

Zu Beginn der Therapie wird sich der Klient klischeehaft, aufgesetzt, unpersönlich, streng rollenkonform verhalten. Die Entfremdung ist in dieser "Klischeephase" am größten.

Die "Rollenspielphase", auch phobische Schicht genannt, ist gekennzeichnet durch geringe Spontaneität, reduzierten interpersonellen Kontakt und eingeschränkten Zugang zur Emotionalität.

In der "Blockierungsphase" (auch als "Impasse" oder "Sackgasse" bezeichnet) und in weiterer Folge in der "Implosionsphase" werden die konflikthaft gebundenen, polarisierten Kräfte und Ambivalenzen verdeutlicht. Das Erleben von Leere, Stagnation, Ausweglosigkeit, existentieller Angst mit phobischen Zuständen und Grenzerfahrungen führt hin zur "Explosionsphase". In dieser Phase kommt die bisher vermiedene energetische Qualität zum Ausdruck (z.B. Freude, Trauer, Wut, Orgasmus).

Staemmler und Bock (1987) beziehen sich auf das Perls`sche Phasenmodell und legten ein Konzept der Gestalttherapie als Prozeß energetischer Transformationen vor. Jeder der Phasen ist eine energetische Qualität zugeordnet, die durch Herausbilden von Katalysatoren transformiert. So führt die Einsicht des Klienten, daß nur er selbst sich verändern kann, von der Phase der Stagnation (Klischeephase bei Perls) in die Phase der Polarisation (Rollenspielphase bei Perls) usw.

Die Phasen des therapeutischen Prozesses bei H. Petzold (vgl. Petzold 1977, 279):

Das Konzept der Integrativen Gestalttherapie geht über die Beschreibung von emotionalen Prozessen hinaus und kann als Struktur eines Korrespondenz- bzw. Problemlösungsprozesses angesehen werden. Durch eine Phase der Neuorientierung soll die  Möglichkeit zur bewußten Veränderung von Situationen betont werden; die Therapie erhält eine handlungstheoretische und damit auch verhaltensmodifizierende Ergänzung.

Initialphase: hier wird versucht Störungen und Probleme aufzufinden, Kontakte werden aufgebaut, unerledigte, offene Gestalten werden registriert, das vom Klienten dargebotene wird auf das Hier-und Jetzt zentriert und prägnant gemacht.

Aktionsphase: jetzt kommen die Betroffenen mit Gefühlen, Bildern und Gedanken in Kontakt, die für sie relevant sind. Traumatische Situationen werden emotional wieder durchlebt, sei es verbal, durch Bewegung, Rollenspiel etc.

Integrationsphase: Konflikthafte Ergeignisse, die krankheitswert haben, müssen mehrmals bearbeitet werden. Das in der Aktionsphase erlebte wird durchbesprochen und in den Lebenskontext eingeordnet.Hier arbeitet die Integrative Gestalttherapie auch mit Deutungen.

Neuorientierung: In dieser Phase werden Transferhilfen angeboten im Sinne von Verhaltenstraining, sodaß daß neu Erfahrene zu einem veränderten Verhalten führen kann.

Ebenen therapeutischer Tiefung nach Petzold 

Jede Therapiesequenz beginnt und endet auf der Ebene der Reflexion. Auf ihr laufen Gedanken, Vorstellungen ab, ohne daß sichtbare emotionale Beteiligung feststellbar wäre. Auf dieser Ebene geht es um rationale Entscheidungen und Begründungen (z.B. Berufsentscheidung, Lebensplanung).

Auf der Ebene der Vorstellungen und Affekte bzw. des Bilderlebens ist die kognitive Kontrolle noch recht hoch mit mehr oder weniger starker emotionaler Beteiligung. Auf dieser Ebene laufen Prozesse des emotionalen Durcharbeitens ab.

Die Ebene der Involvierung ist durch stärkere Regression gekennzeichnet. Sie erschließt die biographische Dimension. Die aus der Vergangenheit "gegenwärtig gesetzten" Szenen, Bilder und Gefühle können mit erheblicher Intensität bei starker Involvierung durchlebt werden.

Auf der Ebene der autonomen Körperreaktionen fehlt die kognitive Kontrolle bis auf die Verbindung zum Therapeuten fast völlig. Die im Leib archivierten alten Szenen brechen auf einer präverbalen Stufe mit mehr oder weniger großer Intensität hervor.

Der regressive Zustand kann als therapeutisch induzierte Krise gesehen werden. Die therapeutische Arbeit kann auf jeder Ebene der Tiefung stattfinden- je nach Indikation und Stabilität des Patienten/Klienten- wobei im Laufe einer therapeutischen Sequenz allerdings alle vorhergehenden Ebenen wieder durchlaufen werden müssen, sodaß eine kognitive Einordnung der neuen Erfahrungen gewährleistet wird (vgl. Petzold 1977, 283 ff).

Ebenen der Realität

Das therapeutische Geschehen findet in Verknüpfung verschiedener Realitätsebenen statt (vgl. Petzold 1979, 116f):

  • die Ebene des Realen: die konkrete Situation, Beziehung, Handlung

  • die Ebene des Imaginären: Situationen oder Prozesse aus der Vergangenheit oder Zukunft werden imaginiert.

  • die Ebene der Repräsentation oder Gegenwärtigsetzung: das Imaginierte wird mit so großer emotionaler Beteiligung vollzogen, dass die z.B. gespielte Szene Wirklichkeitscharakter gewinnt

  • die Ebene des Symbolischen: das ist die Ebene der Phantasmen, die verschlüsselte Wirklichkeit, wie sie in Träumen, Märchen vorkommt

 

Die therapeutische Beziehung

Ungeachtet des Settings (Einzeltherapie, Gruppentherapie, Familientherapie) wird das Klient- Therapeut- Verhältnis als ein reales, aktuelles Geschehen betrachtet und nicht als Übertragungsbeziehung gefördert. Vom Therapeuten ist eine lebendige Teilnahme und nicht Neutralität oder Abstinenz gefordert. Er soll nicht nur antworten und Feedback liefern, sondern schöpferisch an der Schaffung neuer Erfahrungen teilnehmen. Im Kontakt mit dem Klienten verändert er sich auch immer selber mit. Dieses wechselseitige Beeinflussungsverhältnis wird auch als mutueller Charakter des Klient-Therapeut-Verhältnisses bezeichnet. Die authentische Persönlichkeit des Therapeuten, seine Fähigkeit zu Kontakt, Begegnung, Beziehung, Einfühlung, Klarheit, Kreativität und sein Engagement sind für den Fortschritt der Therapie wichtig. Er ist weder Spiegel noch Anwender bestimmter Techniken, sondern kreiert gemeinsam mit dem Klienten das Geschehen. Der Gestalttherapeut kann nicht im psychoanalytischen Sinne abstinent sein, da Wachstumsprozesse - um die es in der Therapie geht - das Vollziehen persönlicher Begegnung ohne starres Reglement erfordern. Die Abstinenz des Gestalttherapeuten ist die Eindeutigkeit und Klarheit seiner Kommunikation. Er soll Projektionen nicht annehmen, sondern den Klienten auf die real sich vollziehende Interaktion hinweisen und ihn schrittweise im Sinne einer "skillfull frustration" dazu bewegen, seine vorhandenen Fähigkeiten selbst zu entwickeln, ohne ihn zu überfordern.

Die therapeutische Haltung in der europäischen Linie der Gestalttherapie ist beschreibbar als "partielle Teilnahme" und "partielle Offenheit". Der Therapeut ist gefordert, sich persönlich einzulassen, ohne konfluent zu werden. Die für den Klienten spürbare emotionale Beteiligung soll eine für seinen Entwicklungsstand adäquate Intensität aufweisen, ohne ihn zu verunsichern. Ein "Engagement für" ist zu unterscheiden von einem "Involviertsein mit"; eine partielle innere Distanziertheit ermöglicht Übersicht über das Geschehen.

 

Übertragung, Gegenübertragung, Widerstand

In der Integrativen Gestalttherapie wird unterschieden zwischen notorischen Übertragungen als kontinuierliche, unbewußte, der "awareness" nicht zugängliche Geschehnisse und evozierten, spontanen, flüchtigen Übertragungen, die als Artefakte durch die Eigenart des Therapeuten oder durch Gruppenkonstellationen ausgelöst werden. Im allgemeinen wird versucht als natürliches Korrektiv der Übertragung die "awareness" zu fördern. Die Handhabung der Übertragung berücksichtigt, ob eine neurotische Struktur diagnostiziert ist, oder ob frühdefizitäre bzw. frühgestörte Grundmuster vorliegen. Bei frühgestörten Patienten ist allerdings über längere Zeit positive, stützende und nährende Nachsozialisation angezeigt. Ziel ist, daß am Ende der Therapie Begegnungsfähigkeit ohne Übertragung erreicht ist.

Gegenübertragungen, als Empfindungen und Schwingungen, die eindeutig als vom Patienten übermittelt wahrnehmbar sind, werden als diagnostisch-therapeutisches Instrument genutzt.

Widerstand ist definiert als ein "Sich wehren gegen Veränderung der Identität" und ist in erster Linie eine für das Individuum sinnvolle Verhaltensweise. Auch wenn seine Funktion mit einer Vermeidung bzw. Verminderung von "awareness" verbunden ist, schützt er doch vor Überforderung, vor zu schmerzlichen, intensiven, angstauslösenden und überschwemmenden Gedanken, Gefühlen, Erlebnissen und Ereignissen, und wird dann zum Beistand. Es geht nicht darum, den Widerstand zu überwinden, sondern darum, ihn erlebbar zu machen. Für den Klienten ist es wichtig zu wissen, in welchen Situationen er sich wie schützt oder behindert. Oft wird der Klient aufgefordert, seinen Widerstand zu beschreiben und sich mit ihm zu identifizieren. Dadurch kann er erkennen, welchen Sinn die Blockierung für ihn hat. Wird der Sinn des Widerstandes erfahren, tritt die Veränderung von selbst ein. Wie für die gestalttherapeutische Arbeit im allgemeinen, gilt hier besonders der Perls`sche Ausspruch: "Don't push the river, it flows by itself".

Spezielle Techniken

Gestalt-Techniken sind in der "Psycho- Szene" weithin in Gebrauch, oft unreflektiert, spektakulär, mit der Absicht zu beeindrucken. Oft genug wird auch das Wesen von Gestalttherapie mit ihren Techniken verwechselt. Ihren eigentlichen Sinn können sie jedoch nur genügen, wenn sie in ihrer Funktion im therapeutischen Prozeß gesehen werden. Nicht die Technik bestimmt den Prozeß, sondern der Prozeß die Wahl der Interventionsmethoden.

In der Gestalttherapie wird dem unmittelbaren Erleben und Handeln ein größerer Stellenwert beigemessen, als dem "Darüberreden". Experimente oder gezielt vom Therapeuten angeleitete Stimulationen bzw. Übungen sollen unmittelbarere, nachhaltigere Erfahrungen ermöglichen. Im folgenden sollen beispielhaft einige Interventionsmöglichkeiten vorgestellt werden (vgl. Rahm 1979, 203ff):

Aufmerksam machen: Hier soll der Klient auf Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen hingewiesen werden, die er nach Einschätzung des Therapeuten selbst nicht bewußt erlebt. Interventionen können z.B. sein:

- "was nehmen Sie jetzt wahr?" 

- "was wollen/denken/fühlen Sie jetzt gerade?"

- "Sie schimpfen und lächeln dabei!"

Der Therapeut kann den Klienten auch auffordern bei den momentanen Gefühlen und Körperempfindungen zu verweilen oder diese zu übertreiben. 

Eine weitere Möglichkeit zur Steigerung der "awareness" ist die Übung "Bewußtheitskontinuum": Der Klient konzentriert sich auf sich selbst und läßt seine Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Ebenen (Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen, Sinneseindrücke) schweifen ("Schweiftechnik"). Angestrebt ist hier, wie auch bei den anderen Techniken die aus sich selbst heraus heilsame Tiefe der Erfahrung. 

Vergangenheit und Zukunft vergegenwärtigen: Wird mit Vergangenheit und Zukunft gearbeitet, wird der Klient aufgefordert, sich die vergangene oder zukünftige Situation so vorzustellen, als erlebe er sie gerade jetzt. Dabei spricht er in der Gegenwartsform über seine Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen in der vorgestellten Situation. Er kann so die Erfahrung machen, daß seine gegenwärtige Befindlichkeit nicht in so hohem Ausmaß durch vergangene Erfahrungen und Zukunftserwartungen determiniert ist, wie er angenommen hat.

Dialoge: Der Klient identifiziert sich abwechselnd mit zwei verschiedenen Aspekten seines Selbst bzw. mit Teilen von vorgestellten Personen. und läßt diese miteinander sprechen. Ziel ist über den Zwischenschritt der Polarisierung eine Integration der widerstreitenden Teile zu fördern. Im Unterschied zur Psychodrama- Technik Morenos, von der Perls das Arbeiten mit Identifikation und Dramatisierung übernommen hat, spielt der Klient in der Gestalttherapie alle Aspekte seines Selbst, alle Dinge, reale Personen und Phantasiegestalten selbst.

Identifikation: Der Klient wird gebeten, sich mit Objekten, anderen Personen, Gefühlen, Gedanken und Handlungen, Körperteilen, Ideen, Vorstellungen und Träumen zu identifizieren und sich selbst in der Identifikation zu beschreiben.

Eine spezielle Form der Identifikation stellen Phantasiereisen dar. Dabei induziert der Therapeut die Vorstellung. 

Traumarbeit: Ähnlich wie Freud mißt Perls dem Traum eine zentrale Bedeutung bei. Sämtliche Traumgegebenheiten werden als Projektionen, als Repräsentationen des Träumers verstanden. Andere Gestalt-Therapeuten (etwa Erving und Miriam Polster) erweitern die Traum-arbeit um jene Symbole, die nicht projiziert sind, sondern reale Elemente aus dem Leben des Träumers.

Perls unterscheidet vier Stufen der Traumbearbeitung:

  • das Erzählen der Traum-Geschichte als bereits vergangen

  • das Dramatisieren der Abläufe durch Übersetzen in die Gegenwartsform

  • der Träumer wird zum Regisseur, er trifft die Anordnungen für den darzustellenden Traum

  • der Träumer wird zum Schauspieler, zum Darsteller seiner eigenen Kreationen

Wie bereits erwähnt, stellt der Klient nicht nur sich selbst dar (sofern er in seinem Traum überhaupt vorkommt), sondern er identifiziert sich mit allen belebten wie unbelebten Bestandteilen des Traumes. Meist genügt es, einige wesentliche Traumteile aufzuarbeiten, sie können bereits Aufschluss über die verschlüsselte Problematik liefern. Durch die mit Darstellung verbundene Erlebnishaftigkeit können verschiedene projizierte Teile integriert werden. Wiederholungsträume im besonderen symbolisieren ein auf Lösung drängendes Problem. Die Analogie zum "unerledigten Geschäft" ist leicht erkennbar.

Praxis der Gruppentherapie

Bei der auch als "Eins-Zu-Eins-Methode" bezeichneten klassischen Form der Gestalt- Gruppentherapie (vgl. Theorie der Gestaltgruppentherapie) nimmt ein Freiwilliger am sogenannten "heißen Stuhl" Platz - auch als "hot-seat-Technik" bezeichnet. Oft wird zusätzlich ein leerer Stuhl verwendet - symbolisch für einen eventuell auftretenden Gegenpart, der auch vom Akteur gespielt wird. Die anderen Gruppenmitglieder treten als Beobachter oder als Helfer in der Leiter-Akteur-Interaktion auf. Der Freiwillige wird damit Figur vor dem Hintergrund der Gruppe. Er steht im Mittelpunkt der Aktion und erfährt unter Umständen ein gesteigertes Gefühl der Gemeinschaft oder auch verstärkt durch den Gruppen-Hintergrund, daß er auf sich alleine gestellt ist. Die Aufgabe des Gruppen-Hintergrundes, dem griechischen Chor vergleichbar, ist es, das Aufgezeigte zu relativieren oder zu unterstreichen und Rückmeldungen in Form von Feed-back an das Gruppenmitglied in der Mitte zu geben. 

Oft kommt es bei den scheinbar Außenstehenden über Identifikationsprozesse auch zu intensiven, nachhaltigen Erlebnissen, die in der Phase des "sharing" (Mitteilen des bei den anderen Gruppenmitgliedern Ausgelösten) ebenfalls geäußert werden. Der Akteur kann anschließend Neues, eben Erfahrenes in der Gruppe versuchsweise ausprobieren, sich auf Experimente einlassen und die Reaktionen der Gruppenmitglieder darauf erleben.

Die Praxis der Integrativen Gestalttherapie in Gruppen rückt nicht den einzelnen vor dem Hintergrund der Gruppe in den Mittelpunkt sondern geht von der Einbindung der einzelnen Person in die Gruppe aus. Das heißt, es wird mit einzelnen aus ihrer Bezogenheit zur Gruppe heraus und mit der Gruppe als Beziehungsgeflecht gearbeitet (vgl. dazu Theorie der Gestaltgruppen).

Abschließend seien hier noch beispielhaft Medien erwähnt, die in der Gestalttherapie Anwendung finden.

Neben "natürlichen Medien", wie Körperhaltung, Gestik, Kleidung usw. finden noch gezielt eingesetzte Medien wie Farben, Ton, Masken, Kollagen, Bewegung, Tanz, Musik, Märchen, Poesie, Puppenspiel, Theater und die Panorama- Technik Verwendung.

Anwendungsbereiche

Während mit der klassischen Form der Gestalttherapie vorwiegend mit Neurotikern mit relativ reifer Ich- Organisation gearbeitet wurde, ist durch die Weiterentwicklung der Theorien und Methoden auch eine Behandlung von frühgestörten auch stationären Patienten und psychosomatisch Kranken möglich geworden. Besonders Suchtkranke können gestalttherapeutisch mit gutem erfolg behandelt werden.

Klinische Anwendungsgebiete

Die gestalttherapeutische Arbeit orientiert sich im einzelnen am jeweiligen Entwicklungsstand des Klienten. Auch das Setting: Einzel- und Gruppentherapie, Kurzzeit- bzw. Fokaltherapie oder längerfristige Therapie, Kinder-, Familien- oder Paartherapie richtet sich nach der Art des Problems. Auch in der Arbeit mit alten Menschen und Sterbenden kommt die Integrative Gestalttherapie zur Anwendung.

Nicht-klinische Anwendungsgebiete

Dazu zählen vor allem sozialtherapeutische Einrichtungen (z.B. Drogenarbeit, Strafvollzug) und Wohnprojekte (nach dem Vorbild des Perls'schen Getaltkibbuz), die Erwachsenenbildung und die Gestaltpädagogik sowie Gestalt-Supervision. Von der Gestaltpädagogik ist unter anderem auch die "Themenzentrierte Interaktion" (TZI) von Ruth Cohn (siehe Beitrag dieses Buch) beeinflußt. 

Grundgedanken der pädagogischen Arbeit, die auch präventive Funktion hat sind: 

  • Schaffen eines Lernklimas, in dem affektives Lernen möglich ist

  • Vermeiden von Hilfen, die sich die Lernenden selbst erwerben bzw. untereinander geben können

  • Erlebnisbezogenes Lernen durch Verwenden von Imaginations- und   Visualisierungstechniken, Rollenspiel und dergleichen

  • Verbinden von Thema und persönlichen Lebenserfahrungen

  • Aktivierung des kreativen Potentials  

 

Literatur: Stand 1994

Bünte-Ludwig, C.: Gestalttherapie- Integrative Therapie. In: Petzold, H.G. (Hrsg.): Wege zum Menschen. Methoden und Persönlichkeiten moderner Psychotherapie. Bd.1. Paderborn 1984

Frühmann, R.: Das mehrperspektivische Gruppenmodell im "Integrativen Ansatz" der Gestalttherapie. In: Petzold, H.G. & Frühmann, R. (Hrsg.): Modelle der Gruppe in Psychotherapie und psycho-sozialer Arbeit. Bd.1. Paderborn 1986

Lewin, K.: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Bern 1963

Perls, F.S.: Grundlagen der Gestalttherapie - Einführung und Sitzungsprotokolle. München 1976

Perls, F.S.: Gestalt, Wachstum, Integration - Aufsätze, Vorträge, Therapiesitzungen. Paderborn 1980

Perls, F.S.: Gestalt-Wahrnehmung - Verworfenes und Wiedergefundenes aus meiner Mülltonne. Frankfurt 1981

Perls, F.S., Hefferline, R.F. & Goodman, P.: Gestalt-Therapie. Bd.1: Wiederbelebung des Selbst. Bd.2: Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. N.Y. 1951, Stuttgart 1985

Petzold, H.G. (Hrsg.): Die neuen Körpertherapien. Paderborn 1977

Petzold, H.G.:Psychodrama- Therapie. Diss.Univ. Frankfurt. Paderborn 1979

Petzold, H.G. (Hrsg.): Die Rolle des Therapeuten und die therapeutische Beziehung. Paderborn 1980

Petzold, H.G. (Hrsg.): Leiblichkeit. Paderborn 1985

Petzold, H.G. & Schneewind, U.J.: Konzepte zur Gruppe und Formen der Gruppenarbeit in der Integrativen Therapie und Gestalttherapie. In: Petzold, H.G. & Frühmann, R. (Hrsg.): Modelle der Gruppe in Psychotherapie und psycho-sozialer Arbeit. Bd.1. Paderborn 1986

Polster, E. & Polster, M.: Gestalttherapie. München 1975

Rahm, D.: Gestaltberatung, Grundlagen und Praxis integrativer Beratungsarbeit. Paderborn 1979

Staemmler, F.M., Bock, W.: Neuentwurf der Gestalttherapie. München 1987

Walter, H.J.: Gestalttheorie und Psychotherapie. Opladen 1985

Weitere Literatur:

Blankertz, St.: Der kritische Pragmatismus Paul Goodmans. Köln 1988

Blankertz, St. & Goodman P.: Staatlichkeitswahn. Die Büchse der Pandora. Wetzlar 1980

Brown, G. & Petzold H.G. (Hrsg.): Gefühl und Aktion. Gestaltmethoden im Integrativen Unterricht. Frankfurt 1978

Fatzer, G.: Ganzheitliches Lernen. Paderborn 1988

Ginger, S.A.: Gestalttherapie. Köln 1990

Goldner, C.G.: Mit Drachengewalt und Donnerstimme. Zen in der Kunst der Gestalt-Therapie. München 1989

Goodman, P.: Das Verhängnis der Schule. Frankfurt 1975

Kempler, W.: Grundzüge der Gestalt- Familientherapie. Stuttgart 1975

Nevis, E.C.: Organisationsberatung. Ein gestalttherapeutischer Ansatz. Köln 1988

Perls, L: Leben an der Grenze. Köln 1989

Perls, F. S., Baumgardner, P.: Das Vermächtnis der Gestalttherapie. Köln 1990

Petzold, H.G.: Gestalttherapie und Psychodrama. Kassel 1973

Petzold, H.G. (Hrsg.): Psychotherapie, Meditation, Gestalt. Paderborn 1984

Petzold, H.G. & Brown, G. (Hrsg.): Gestaltpädagogik. München 1977

Petzold, H.G. & Heinl, H. (Hrsg.): Psychotherapie und Arbeitswelt. Paderborn 1985

Polster, E.: Jedes Menschen Leben ist einen Roman wert. Köln 1987

Rosenblatt, D.: "Türen öffnen" - was geschieht in der Gestalttherapie. Köln 1986

Ronall, R. & Feder, B.: Gestaltgruppen. Stuttgart 1983  

Stevens, J.O.: Die Kunst der Wahrnehmung. Übungen der Gestalttherapie. München 1975

Schneider, K.: Grenzerlebnisse. Köln 1990

Zinker, J.: Gestalttherapie als kreativer Prozeß. Paderborn 1982

Zeitschriften:

Gestalt und Integration. Zeitschrift für ganzheitliche und kreative Therapie. Gestalt- Bulletin. Düsseldorf

Integrative Therapie