DIE KLEINE STADT


Sie sitzt am Bett. Wie eine Kröte. Seht Ihr das nicht? Mit angezogenen Beinen und leerem Blick. In der Hand eine Zigarette, den Kopf an die Wand gelehnt.
Sie träumt ohne träumerische Augen. Sie weint ohne Tränen. Musik, die sie nicht mag - moderne Musik - klingt leise aus dem Radio. Die Freude ihres Lebens spiegelt sich in ihren Augen.
Wenn man jung ist, muss man sich am Leben freuen, man muss lachen und fröhlich sein. Aber was ist, wenn sie das nicht kann? Sie dämpft die Zigarette aus - die wievielte ist das heute schon? Sie trinkt einen Schluck Kaffee - der wievielte ist das heute schon? Vielleicht sitzt sie noch stundenlang auf ihrem Bett. Wie eine Kröte. Oder sie streckt ein Bein aus. Anders als eine Kröte. Sie sitzt auf einem Bett, in einem Zimmer.
Sie sitzt in einem Zimmer, in einem Haus. Sie sitzt in einem Haus, in einer Stadt.
Zwischen grauen Mauerblöcken, die rund um sie in die Höhe ragen. Verschiedene Abstufungen von Grau. Auch der Himmel ist eintönig. Angeglichen an die Mauern, die Straßen. Siehst Du das?
Das Leben ist bunt! Du hast nur deine rosa Brille vergessen! Sie hat sie verloren. Irgendwann. Es ist schon lange her. In ihre Augen treten Bilder. Bunt, hell, leuchtend. Eine kleine Stadt, ganz in strahlenden Sonnenschein getaucht. Die niedrigen, einstöckigen Häuser sind aus dunklem, warmen Holz gebaut. Von der Veranda, aus dem bequemen Schaukelstuhl sieht sie einen kleinen Garten, Obstbäume, saftiges Gras mit blauen, roten, gelben Tupfen - Blumen.
Eine schmale Sandstraße schlängelt sich vorbei, zu einem kleinen See. Im nahen Wald spielt der Wind mit den Blättern, manchmal bläst er eines bis zur Mitte der dunkelblauen, glatten Fläche, läßt es fallen und treibt es dann wie ein winziges Boot über den See. Leise Ringe entstehen, breiten sich aus und verschwinden wieder. Das Rauschen des Windes dringt bis zu ihr.
"Kind, es ist Zeit, Du musst gehen!"
Sie sitzt am Bett. Wie eine Kröte? Oder? Ihre Augen sind wieder leer.
Leb wohl, kleine, bunte Traumwelt