„BKS“ – Zur „serbokroatischen“ Sprachsituation

(Kurzfassung, siehe auch  Karte)

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1. Vorbemerkungen

Bekanntlich sind Sprache und Nationalität zwei voneinander unabhängige Begriffe. Sprachen, ob nun standardisierte Formen oder bloß gesprochene Idiome, sind im all­gemeinen der größte gemeinsame Nenner eines bestehenden Dialekt­kon­tinuums, das sich im Zuge der Entwicklung ergeben hat. Dialekte sind im Gegen­teil dazu der kleinste gemeinsame Nenner eines bestimmten teils geogra­phisch, teils soziologisch zu definie­renden Ausschnitts des betreffenden Dialekt­kon­tinuums. Da es in der Linguistik bis heute keine eindeutige Definition von Spra­che und Dialekt bzw. deren Abgrenzung voneinander gibt (vgl. dazu u.a. Kloss 1969:74 bzw. Haarmann 1975:188), seien hier meine Vor­stellun­gen dazu den weiteren Überlegungen vor­ausgeschickt. Dieser „gemein­same Nenner“ ist unabhängig von Schreibtradition, Nationalität und Staat, er ist eine rein lingui­stische Größe. Er kann von einem Zentrum ausgehen, er kann aber auch mehrere Zentren haben, im letzteren Falle spricht man von „plurizen­trischen Sprachen“ (dieser Begriff,  auch „polyzentrisch“ geht letzten Endes auf Kloss 1978 zurück). Er kann auch hinter zwei (seltener drei und mehr) standar­disierten Ausprägungen einer Sprache gleichsam „ver­borgen“ sein. Be­trachten wir zunächst einige Beispiele.

Sprachen wie das Englische und Deutsche sind plurizentrische Sprachen mit einer standardisierten Schrift- und Verkehrssprache mit zahlreichen Varianten, die sich aus der Tatsache ergeben haben, dass sie in mehreren Staaten bzw. Ländern gesprochen werden. Dementsprechend gibt es etwa die Varietäten British English vs. American English (usw.) oder Norddeutscher Standard vs. Süddeutscher Standard auf der einen Seite oder österreichisches Standarddeutsch auf der anderen. Deutsch und Englisch sind aber nur bis zu einem gewissen Grad vergleichbar, zumal das deutsche Sprachgebiet ein historisch gewachsenes zusammenhängendes ist, das englische hingegen ein „exportiertes“ (außer in England selbst); dementsprechend beschreibt Glauninger (2013, 126f.) das Deutsche als „genetisch inhärent plurizentrisch“, das Englische als „sekundär plurizentrisch“: „Wir haben es dabei, grob gesagt, mit folgendem Szenario zu tun: Auf der einen Seite existieren Sprachen, die nach dem diachronen Durchlaufen einer „klassisch monozentrischen“ Entwicklung schließlich im Zuge des Kolonialismus bzw. Imperialismus nach Übersee „exportiert“ wurden. Dort bildeten sich eigene Sprachnormen heraus, wodurch diese ursprünglich „monozentrischen“ Sprachen „sekundär plurizentrisch“ geworden sind. Als Beispiel lassen sich u. a. folgende Sprachen anführen: Englisch, Französisch, Portugiesisch und Spanisch.Damit komme dem Deutschen eine Sonderstellung unter den plurizentrischen Sprachen zu (Glauninger 2013, Anm. 7 mit Lit.). Sonderfälle innerhalb des Deutschen sind das Letzeburgische (in Luxemburg, auch geschrieben, wobei die luxemburgische Sprache bzw. Luxemburgisch, Eigenbezeichnung Lëtzebuergesch, geschriebener moselfränkischer Dialekt ist – ein Teil des Westmitteldeutschen) und das Schwy­zerdütsche (in der Schweiz, nur gesprochen [wird zwar privat oft geschrieben, doch ohne einheitliche Norm – ganz abgesehen davon, dass zwischen den einzelnen Kantonen beträchtliche Unterschiede bestehen]), regiona­le, auf dialektalem Sprachmaterial begründete Sonder­formen des Deutschen auf Grund des Prinzips des „kleinsten gemeinsamen Nenners“. Das Jiddische hingegen hat eine selbständige Norm entwickelt. Es entstand im Mittelalter im Zuge der meist durch christliche Verfolgungen bedingten Migrationen der Juden vom deutschsprachigen Gebiet nach Osteuropa; es hat eine mittelhochdeutsche Grundlage und wird mit hebräischen Buchstaben geschrieben. Ähnlich wie beim Deutschen und Englischen liegen die Dinge im Arabi­schen: neben der auf dem Koran begründeten Sprachform des „größten gemeinsamen Nenners“ gibt es die einzel­nen staatsnationalen Varietäten der arabischen Staaten, die durchaus (jede für sich) einem Letzeburgischen oder Schwyzerdütschen vergleichbar sind.

Auch das Serbokroatische war bis zum Zerfall Jugoslawiens eine plurizentrische Sprache mit zwei Schriftsy­stemen, Lateinisch im Westen, Kyrillisch im Osten. Vergleichbar ist das Hindu­sta­ni mit seiner arabisch geschriebenen, stark mit persisch-arabischen Elementen durchsetzten Varietät Urdu der Moslems und der in Devanagari geschriebenen, weniger persisch-arabisches Lehngut enthaltenden, ihren Wortschatz aus dem Sanskrit bereichernden Varietät Hindi der Hindus. Zwischen 1924 und 1991 wurde das Moldawische in der Sowjetunion (von 1924-1940 nur in Transnistrien [Moldawische ASSR], ab 1940/45 in der um Bessarabien erweiterten Moldawischen SSR) im Gegensatz zum Rumänischen, dessen Teil es ja ist, mit kyrillischen Buchstaben ge­schrieben und hat Neubildun­gen (Neologismen) nach russischem Muster übernommen, während man sich in Rumänien nach Westeuropa (v.a. Frankreich) orientierte. Diese Teilung des Rumänischen in zwei standardisierte Schriftsprachen hatte politische Gründe und ist im Rahmen der ehemaligen sowjetischen Nationalitätenpolitik zu sehen. Vergleich­bar ist auch der Fall des Tadžikischen, das nach einer kurzen Periode der Lateinschrift seit den dreißiger Jahren mit russischen Buchstaben geschrieben wird, obwohl es – zusammen mit dem Darī in Afghanistan – eine neupersische Varietät ist. Ein weiterer Fall sind Bulgarisch und Make­do­nisch. Beide Sprachformen sind standardisierte Varianten ein- und derselben Sprache, des bulgarisch-makedonischen Dialektkontinuums. Während die Basis der bulgarischen Standardsprache die Dialekte des Nordostens sind, hat die makedonische Standard­sprache eine südwestliche Dialektbasis. Daher erscheint der Unterschied zwischen beiden größer, als er tatsächlich ist; er wird vergrößert durch unterschiedliche Recht­schreibungen (serbischer Typ der Kyrillica bei den Makedoniern, russischer bei den Bulgaren) und verschiedenen Vorbildern bei der Schaffung des modernen Wortschatzes (analog zur Schrift). Was für die beiden Standardsprachen typisch ist, findet sich auch in den Mundarten der jeweils anderen Sprache und bisweilen auch in der Schriftsprache.

Wie sind nun standardisierte Schriftsprachen wie Hindi und Urdu, Molda­wisch und Rumänisch, Makedonisch und Bulgarisch zu bezeichnen? Da sie in ihrem Geltungs­bereich alle Funktionen einer Amts-, Schrift- und Literatursprache erfüllen, sind sie als Kultursprachen zu betrachten. H. Kloss (1969, 74f.) hat den Begriff Abstand- und Ausbausprachen eingeführt; „Abstandsprachen“ sind „Spra­chen“ in dem Sinne, dass sie sich soweit von anderen (verwandten) Idiomen unterscheiden, dass sie aufgrund ihres „sprachkörperlichen Abstandes“ als ge­trennte Sprachen – unbeschadet ihrer schriftlichen Fixierung – betrachtet werden können. „Ausbau­sprachen“ sind solche Idiome, die als literarisches Ausdrucks­mittel (im weitesten Sinne) „ausgebaut“ sind. Die meisten Sprachen sind demnach sowohl Abstand- als auch Ausbausprachen, manche „Sprachen“ sind nur das eine oder andere. Da sie zu ihrem „Partner“ in einem Verhältnis stehen, das Dialek­ten einer Sprache zueinander entspricht, bietet sich auch die Bezeich­nung Kulturdialekt an (Haarmann 1975:187ff.). Von „Kul­tur­dialekt“ bzw. „Ausbau­sprache“ sollte man m.E. nur dann spre­chen, wenn sich auf einem Spracha­real zwei oder mehrere standardisier­te Sprachformen oder Normen entwickelt haben, die sich mindestens durch folgende Kriterien unter­scheiden:

(1)          Orthographie und/oder Schrift;         

(2)          unterschiedliche Dialektbasis (mit Auswirkungen auf die kodifizierte Gram­ma­tik);

(3)          Unterschiede  im  Lexikon (die  über  Einzelwörter  und/oder  Sachgruppen hin­ausgehen).

Die Varietäten des Englischen und Deutschen erfüllen diese Bedingungen nicht, daher sind sie regionale und/oder nationale Varietäten ein und derselben Sprache. Bei folgen­den Sprachen (die Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständig­keit!) kann aber mit voller Berechtigung von zwei oder mehreren Kulturdialekten gesprochen werden:  

(ABSTAND)SPRACHE

KULTURDIALEKT/AUSBAUSPRACHE

Bulgarisch

Rumänisch

„Serbokroatisch“ / BKS

Portugiesisch

„Rätoromanisch“

Sorbisch

Deutsch

Türkisch

Hindustani

Neupersisch

B., Makedonisch

R., Moldawisch (Moldauisch)*

Serbisch, Kroatisch, Bosnisch, Montenegrinisch

P., Galicisch

Bündnerromanisch und Ladinisch**; Furla­nisch

Nieder-, Obersorbisch

Letzeburgisch/Luxemburgisch***, Jiddisch

T., Gagausisch

Hindi, Urdu

Fārsī, Darī, Tadžikisch

* in Moldawien bis 1991/2013, in Transnistrien (ca. 32 % der Einwohner spricht moldawisch) bis heute offizielle Bezeichnung (kyrillisch geschrieben).

** Bündnerromanisch (Schweiz) und Ladinisch (Südtirol) in mehreren Varianten (die von ihren Angehörigen meist als „eigene“, „selbständige“ Sprachen empfunden werden).

*** Es ist zusammen mit dem Französischen und (Standard-) Deutschen Amtssprache in Luxemburg, aber keine Amtssprache der EU.

Literatur: Glauninger, Manfred Michael: Deutsch im 21. Jahrhundert: „pluri“-, „supra“- oder „postnational“? In: Sava, Doris/ Scheuringer, Hermann (Hg.): Im Dienste des Wortes. Lexikologische und lexikografische Streifzüge – Festschrift für Ioan Lăzărescu (= Forschungen zur deutschen Sprache in Mittel-, Ost- und Südosteuropa 3), Regensburg 2013. S. 123-132 (auch im Internet unter der URL  http://homepage.univie.ac.at/manfred.glauninger/Vorlesung/Glauninger%20Olm%fctz.pdf [Zugriff 9.3.2014]). – Haarmann, Harald: Soziologie und Politik der Sprachen Europas. München 1975. – Kloss, Heinz: Grundfragen der Ethnopolitik im 20. Jhdt. Wien-Stuttgart 1969. – Kloss, Heinz: Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen seit 1800. 2., erw. Auflage. Düssel­dorf: Schwann 1978 (= Sprache der Gegenwart 37).

2. Zur „serbokroatischen“ Sprachsituation

Als aktuelles Beispiel sei das „Serbokroatische“ ange­führt, das bis 1991 eine südslawische „Abstandsprache“ war, die sich in zwei nur geringfügig voneinander unterscheidenden „Ausbau­sprachen“ oder „Kulturdialekte“ gliederte (Varietäten Serbisch und Kroatisch). Seit der kroatischen Unabhängig­keitserklärung haben sich beide Varietäten immer mehr auseinander entwickelt; dazu kam dann noch eine bosnische und monteneginische Norm. Die folgenden Angaben geben die Ausgangsposition Anfang der 1990er Jahre wieder.

Traditionell tritt „Serbokroatisch“ als „Kroatisch“ im Westen (bzw. „Burgen­län­disch-Kroatisch“ in Österreich), „Serbisch“ im Osten und neuerdings auch als „Bosnisch“ in Bosnien-Herzegowina (daher die neue Abkürzung BKS) und „Montenegrinisch“ in Montenegro (Crna Gora) auf. Die Unterschiede zwischen den beiden Hauptva­rietäten könnten kurz so skizziert werden, wie ich dies in mehreren einschlägi­gen Arbeiten dargelegt habe, solche finden sich in jedem größeren Sprachgebiet, vgl. brit. engl. railway, lorry, amerikan. railroad, truck „Eisenbahn bzw. Lastwagen“, nord­deutsch Treppe, Quark, Junge, süddeutsch bzw. österr. Stiege, Topfen, Knabe/Bub, die mitunter bis in die Morphologie (z.B. Plurale wie Jungs, Mädels, Abweichun­gen im grammatischen Geschlecht, z.B. der/das Polster, der Spitz/die Spitze usw.) und Wortbildung (z.B. Zugführer vs. Zugsführer, Schweine-/Rinder­braten vs. Schweins-/Rindsbraten) reichen und auch Randschichten der Grammatik betreffen können (z.B. ich habe/bin gesessen/gestanden usw., die Wagen/­Wä­gen, gehaut/­gehauen usw.), ganz zu schweigen von Unterschieden in der Aus­sprache.

Der Unterschied von plurizentrischen Sprachen des Typs wie Deutsch und Serbokroa­tisch besteht darin, dass Deutsch zwar eine (mehr oder weniger) ein­heitliche standardi­sierte Schriftsprache (mit regionalen Besonderheiten) hat, Serbokroatisch hingegen (mindestens) zwei Normen, eine Zagreber (= „kroatische“, jekavische) und eine Belgrader (= „serbische“, ekavische) Norm mit z.T. in der Dialektologie (jekavisch vs. ekavisch, s.u.), z.T. in der Tradition begründeten Unterschieden; ein drittes normatives Zentrum ist Sarajevo geworden („bosni­sche Norm“). Schon in Jugoslawien I und II nahm Sarajevo eine vermittelnde Position zwischen Kroatisch und Serbisch ein, indem man (v.a. erst in der Nach­kriegszeit) lateinisch und (wie übrigens auch in Montenegro) zwar jekavisch schrieb, sich im Wortschatz aber vielfach nach Serbien hin orientierte. Dazu kommt noch der religionsspezifische Wortschatz der Moslems. Es ist daher realitätsbezogen von einer „serbischen“, „kroatischen“ und „bosnischen“ Norm bzw. von drei „Kulturdialekten“ oder „Ausbausprachen“ zu sprechen und nicht von „(Abstand­­-) Sprachen“ – auch wenn man dies in Zagreb und Belgrad gerne so sieht.

Das „serbokroatische“ Sprachgebiet deckt sich im Norden, Nordosten und Südwesten unge­fähr mit den bestehenden politischen Grenzen von Kroatien, Bosnien-Herzego­wina, Montenegro und Serbien; in Kosovo ­stellt die „serbokroatisch“ sprechende Bevöl­kerung nur einen geringen Prozentsatz (rund 7 %). Eine genaue Abgrenzung im Süden und Südosten gegen das Mazedonische und Bul­garische ist nur schwer möglich. Der in ,dieser Gegend gesprochene Dialekt, das Šopische (auch Torlakische, in Ost- und Südserbien), bildet nämlich eine Übergangsmundart zu die­sen beiden Nachbarsprachen. Durch das Vorhandensein zweier kultureller Zentren (Zagreb und Belgrad; dazu kommt noch das islamische Bosnien) konnte sich nie eine ganz einheitliche Schrift- und Literatur­sprache entwickeln. Traditionell wird in der „serbokroatischen“ Dialektologie zwischen štokavischer, čakavischer und kajkavi­scher Mundart unterschieden, und zwar je nachdem, ob das Fragepronomen für „was“ što (oder šta), ča oder kaj heißt. Das Štoka­vische seinerseits, das unter allen drei Volksgruppen verbreitet ist (s. Karte), zerfällt in den ekavi­schen, jekavischen und ikavischen Dia­lekt, je nachdem, ob der altslawische Laut ě, genannt „jat“, als e (im Osten), je bzw. ije (im Westen und Norden) oder i (in einigen Gegenden, v.a. an der Adria­küste) erscheint (so lautet das Wort für ʽMilch’ je nach Dialektgebiet mleko, mlijeko oder mliko). Eine Sonderform innerhalb des Štokavischen ist das Šćakavische (nach einem lautlichen Merkmal so benannt, was hier nicht näher ausgeführt werden kann). Es ist wohl bei dieser Viel­falt von Mundarten und durch den Um­stand, dass die Träger der „serbokroatischen“ Sprache drei verschiedenen Kulturkreisen (die Kroa­ten dem westlichen, katholischen, die Serben und Montenegriner dem östlichen, orthodoxen, die Bosnier dem islamischen) angehören, verständlich, dass die Bildung einer einheitlichen Schrift­sprache nicht allzu rasch vor sich gehen konnte. Mit dem Erwachen des südslawi­schen Nationalgefühls wurde das Bedürf­nis nach einer einheitlichen Schrift­sprache allerdings immer größer. Die Aufgabe, sie zu schaffen, übernahm der große Sprach­reformator Vuk Stefanović Karadžić. Er brach vollkommen mit der serbisch-kirchenslawischen Tradition und räumte bei der Schaffung der Schrift- und Literatursprache der Volkssprache den Primat ein. In Wien erschien im Jahre 1818 sein Srpski rječnik „Serbisches Wörterbuch“, in dem nur volkssprachliche Wörter vorhan­den sind und die aus der Kirchensprache vollkommen fehlen. Das Wörterbuch zeigt klar den Reichtum der Volkssprache und bewies deren Fähigkeit und Eignung, in der Literatur gebraucht zu werden. Den Wortschatz früherer lokaler Schrift­sprachen nahm er ebenfalls nicht auf. Er wollte nicht nur mit der kirchen­sprachlichen Tradition brechen, sondern überhaupt mit der Ver­gangenheit. Sowohl im Wortschatz als auch in der Grammatik basierte Kara­džić auf dem zentralen Dialektgebiet (er selbst stammt aus Tržić in Westserbien). Nur in Bezug auf das alte ě ließ er freie Wahl. Hand in Hand mit der Sprach­reform ging auch die Reform der Schrei­bung. Zum obersten Prinzip erhob er piši kako govoriš ʽschreibe, wie du sprichst’, auf Grundlage der kyrillischen Schrift.

Als am Anfang des 19. Jhdts. von Zagreb die „illyrische Bewe­gung“ ausging, die den engen Zusammen­hang der Serben und Kroaten hervorhob, verzichteten die Kroaten freiwillig auf ihre eigene regionale kajkavische Schrift­sprache und nahmen die Schriftspra­che Karadžićs an, in jekavischer Variante und in lateinischer Schrift, 1850 im “Wiener Abkommen”. Ganz einheitlich konnte sie durch das Vorhandensein zweier Zentren, Zagreb und Belgrad, nicht werden. Die Hauptunterschiede zwischen „Ser­bisch“ und „Kroatisch“ können wie folgt umrissen werden: serbisch ist ekavisch, kroatisch jekavisch; das Serbische vermeidet im Gegensatz zum Kroatischen vielfach den Infinitiv; das Kroatische ersetzt Fremdwörter gerne durch Lehnübersetzungen (z.B. ʽFlughafen’ zračna luka gegenüber aerodrom); gewisse Unter­schiede im Wortschatz (z. B. ʽInsel’ kroat. otok, serb. ostrvo, ʽBrot’ kroat. kruh, serb. hljeb oder hleb). Die anderen Ab­weichungen sind weniger erheblich. Je­denfalls war sich die Slawistik bis in die 1990er Jahre einig, dass Serbisch und Kroatisch eine Sprache in zwei Varietäten darstellen.

Ein Beispiel heutiger kroatischer Sprachplanung: ursprünglich gab es im serbokroatischen Sprachgebiet zwei Worte für „tausend” (hiljada bzw. tisuća) und  „Brot” (hljeb oder hleb bzw. kruh). Fürs „Kroatische” soll in Hinkunft nur tisuća und kruh gelten. Bisher koexistierten beide Wörter über ethnische bzw. nationale Grenzen hinweg; hiljada ist eine alte Entlehnung aus dem Griechischen, tisuća gehört zum gemeinslawischen Erbwortschatz, hiljada gehört(e) auch der kroatischen Umgangssprache an und begegnet schon in der alten Literatur (z.B. bei Marko Marulić, 1450-1524) sowie bei den westlichen Schriftstellern, ist (und war) also nicht auf den Osten des Sprachgebietes beschränkt. Bis zum Zerfall Jugoslawiens war es ganz allgemein das im öffentlichen Leben bei weitem häufigere und jedem stand es frei, auch tisuća zu gebrauchen, das bei den Kroaten in der Schrift- und Literatursprache bevorzugt wurde. Auf den alten 1000-Dinar-Banknoten standen beide Wörter (in Lateinschrift tisuća, in Kyrillica hiljada). kruh gehört zum gemeinsamen westserbokroatisch-slowenischen Wortschatz; es ist um Zagreb und an der Küste bis in die Bucht von Cattaro (Kotor, Montenegro) verbreitet, hljeb ist hingegen ein gemeinslawisches Erbwort. Beide Wörter für „Brot“ sind slawischer Herkunft. Dass jetzt verordnet wird, kruh und tisuća seien “kroatische” Wörter, hiljada und hljeb nicht (mehr), erinnert an patriotische Postulate, in Österreich Paradeiser und Nachtmahl sagen zu sollen und das regional und/oder individuell ebenfalls übliche Tomate und Abendessen tunlichst zu meiden.

„Serbisch“ und „Kroatisch“ sowie „Bosnisch“ sind Modellbeispiele für „natio­nale“ Varietäten und sie zeigen auch, was nationale Sprachplanung bedeuten kann. Und wohin sie führt …

Wenn man das „serbokroatische“ Sprachgebiet mit dem deutschen vergleicht, kann man sagen: Das Štokavische entspricht dem „Hochdeutschen“ (bzw. Ostmitteldeutschen), mit dem „Niederdeutschen“ kann man das Kajkavische vergleichen, das mit dem Slowenischen ein gemeinsames Dialektkontinuum bildet – analog wie das Niederländische mit dem Niederdeutschen. Bezüglich des Čakavischen fehlt ein Vergleich – ein solcher mit dem Friesischen „hinkt“.

Siehe Karte.

Literatur: Pohl, Heinz-Dieter: Die slawischen Sprachen in Jugoslawien. In: Der Donauraum 15, 1970, S. 63-73. – Die serbokroatische Schriftsprache. Ein Rückblick. In: Die slawi­schen Sprachen 33, Salzburg 1993, S. 67-79. – Serbokroatisch – Rückblick und Ausblick. In: Wechselbeziehungen zwischen slawischen Sprachen, Literaturen und Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart (hg. von I. OHNHEISER). Innsbruck 1996, S. 205-22.