Namen slowenischer bzw. slawischer Herkunft

in Kals am Großglockner (Osttirol)

Ein Überblick

 

© Heinz-Dieter Pohl

 

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Man kann annehmen, dass vor 2000 Jahren das von Kelten bzw. ihren Vorgängern besiedelte Kalser Tal nach und nach romanisiert wurde. Frühestens im 7. und 8. Jahrhundert begann dann das Eindringen der Slawen bzw. deren Ansiedlung neben und mit den bereits ansässigen Romanen. Die große Namenkontinuität lässt vermuten, dass es zu keiner Verdrängung oder Überlagerung des romanischen Elements gekommen ist, sondern im Gegenteil, das (romanische) Ladinische muss wohl noch bis ins 15/16. Jahrhundert gesprochen worden sein [Dr. Lois Craffonara, ehemals Direktor des Institut Ladin in St. Martin de Tor, Südtirol, meint, dass in Kals wahrscheinlich noch bis ins 16. Jahrhundert Ladinisch gesprochen wurde (Juni 1999 in Kals); vgl. auch Videsott 2004: 63f.], d.h., dass das Slowenische früher ausgestorben und im Romanischen aufgegangen ist. Das kann auf Grund von bestimmtem Lautentwicklungen in den Namen slawischer Herkunft festgestellt werden: sie sind durch einen „romanischen Filter“ gegangen, wie dies Peter Anreiter anschaulich gezeigt hat [Anreiter 2004a: 59f. (Anm. 11) und 2004b: 81ff. (dort mehrere Beispiele, → Romanisch)]. Auch die nebeneinander bestehenden Übersetzungsnamen Ködnitz (→ *kǫtьnica) neben Glor, *Fig neben Zöttl (→ se(d)lo) und (Groß-) Dorf sprechen dafür sowie die Tatsache, dass slowenische Benennungen vorwiegend in den semantischen Bereichen „Bodenbeschaffenheit“ und „Pflanzen“ vorkommen, hingegen (u.a.) „Topo­graphie“, „Verkehr und Wege“ und „Klima und Witterung“ meist romanische Etyma aufweisen, also die typischen Benennungsfelder von bereits Ansässigen [Genaueres bei Anreiter 2004b: 111].

Die während der letzten 25 Jahre gesammelten Flur-, Orts-, Vulgo- und Schreibnamen – inzwischen sind es fast 1500 geworden – ermöglichen es, eine Besiedlungsgeschichte des Tales auf Grund der drei Sprachgruppen zu skizzieren (→ Romanisch):

o  bis ca. 700 Romanisierung;

o  nach 700 Einwanderung der Slawen;

o  1000 Romanisierung der Slawen (im oberen Bereich, Abschnitt I u. II);

o  1197 erster urkundlicher Beleg: Rainardus plebanus de Calce;

o  spätestens ab 1200 schrittweise Ausbreitung der deutschen (bairischen) Verkehrssprache;

o  bis ca. 1500 Aussterben des Ladinischen (und auch des Slowenischen im südlichen Abschnitt III).

 

*avorьnikъ ‘Ahorngegend’: Arnig (SiedlN), urkundlich 1299 Awernichk, ursprünglich wohl HofN, etwa ‘Ahorner’ zu slawisch (j)avorъ, slowenisch javor ‘Ahorn’ + -nik.

bor ‘Föhre’: Vorlachen (setzt slowenisch borovje voraus, aber Wortbildung unklar).

*brusьnica ‘Steinbach’: Fruschnitz-bach (GewN), Fruschnitz-eben (zu slawisch brusъ ‘Wetzstein’, vgl. slowenische Gewässernamen wie Brusnica).

*děvina ‘Jungfrauengegend bzw. -ort’: Debant-grat (BergN), zum Debant-tal hin gelegen (der Name Debant ist urkundlich 1274 Dewin bezeugt und deutet auf ins Christentum übernommene alte Frauenkulte hin).

domač ‘häuslich, (ein)heimisch’: Tomast (fraglich, eventuell zum Personennamen Thomas).

draga ‘Schlucht, Wasserfurche’: Drage (Droge); Hoch-droge; Törlen-droge.

drič(a), auch drč(a) ʻGlitschbahn, (die) Riese; Erdabrutschungʼ: Tritsch, Tritschnitz.

*dьbrъ/dъbrъ (> slowenisch deber/daber ‘Klamm, Schlucht’): Daba-, Daber-klamm. –  Dies ist das aus dem Slawischen entlehnte Reliktwort (die) Daber ‘Klamm’ [dā´wa],  das auch in anderen Osttiroler Gegenden vorkommt, aber in Kärnten aus dem appellativischen Wortschatz verschwunden ist.

*dъždьnica etwa ‘Regenbach’ (zu slawisch *dъždь ‘Regen’, slowenisch dež): Teischnitz (-bach, GewN), Erstbeleg 1563 Deitschnitz (wie auch die Tüschnitz in Bayern).

črnica ‘Heidel-, Schwarzbeere’: Tscha(r)nitzen-alm/-wald usw.

gaber ‘Weißbuche’: Gebroinig (< gabrovnik).

*glodišće oder *glodež ‘Ort, der vom Wasser zernagt ist’: Glödis (BergN, zu slowenisch glodati ‘nagen’; Ansatz -išće lautlich schwierig, wahrscheinlicher und wortbildungmäßig möglich ist auch der Ansatz -, allerdings bezeichnet das Wort glodež auch mythologische Wesen).

golъ ‘kahl’: Gol; Goll-spitz (BergN) [enthält eventuell auch romanisch collis ‘Berg, Hügel’].

gorica ʻBichl, Hügelʼ: Sagritz (zu slawisch za goricǫ ʻhinter dem Bichl, Hügelʼ).

gošča(va) ‘Dickicht, dichtes Gestrüpp’: Gost [köš] [wegen der Aussprache kaum zu romanisch costa ‘Seite, Rippe; Bergvorsprung’].

govne ‘Schafweide’: Gowen.

grbavina ‘Unebenheit, Erhöhungʼ: Graunitz (+ -ica, etwa ʻhöckerige, buckelige Flur’).

grič ‘Hügel, Steile, Anhöhe’ (alte, nur im Südslawischen begegnende Ableitung von gora ‘Berg’): Gritschitz (+ -ica, etwa ‘steile Flur’).

grmulja ‘Haufen, Klumpen’: Gramúl (BergN), Gremúl (auch Gramúl-kopf, BergN [möglicherweise romanisches Lehnwort, → krmol]). – Oder zu →  krmol.

*ilovišće ‘Ort mit Ton, Lehm’: Iwilschg.

jelša ʻErleʼ: Olschniz (→ ołša).

*(j)ěsa ʻLichtungʼ (> slowenisch jasa): Jessen.

kaluža ‘Lache, Pfütze, Sumpf’: Kalúse.

kalъ ‘Kot, Schlamm; Lache, Pfütze; Viehtränke’: Kals (SiedlN < kalьcь), davon auch Name Kalser Tal; urkundlich 1197 Rainardus plebanus de Calce, um 1244 erstmals Kals, später auch Chalts, Chalse, Chalz, Kalls usw.

kamenica ‘Steinberg, -bach; steinige Flur’: Ganímitz (-kopf, BergN).

*kokavišće (zu slowenisch kokava / kukava ‘stei­­nige, unfruchtbare Gegend; Schlucht, Gestrüpp’): Gogewischwald.

*kǫtъ ‘Winkel’: Got [kot].

*kǫtьnica ‘Gegend im Winkel bzw. Winkelbach’: Ködnitz (SiedlN, zu slawisch *kǫtъ ‘Winkel’ + -ьnica; vgl. den bedeutungsgleichen Nachbarort Glor (urkundlich 1299 Anglar, 1428 Angular < romanisch  angulare ‘im Winkel gelegen’). Das Grundwort slawisch *kǫtъ liegt wohl in Got vor.

*kozьnica ‘Ziegenbach’: Gössnitz-felder (wohl nach einem abgekommenen Hydronym).

krajь ‘Rand, Gegend, Ende’: Grei-bichl/-wiesen; Groje [statt Groje heute meist March ‘Grenzgebiet, -zeichen’ (semantisch ähnlich ist ja auch slawisch krajь)].

krmol, krmulja ‘Felsvorsprung, Anhöhe’: Gramúl (BergN), Gremúl (auch Gramúl-kopf, BergN). – Die Etymologie des Wortes ist umstritten (es gibt sowohl slawische als auch romanische Deutungen, möglicherweise zu oder identisch mit →  grmulja).

*lędo ʻNeuland, Bracheʼ: Lotischgen (+^-isko/-išće, also < *lędišće). – Ladine (+ -ina).

*laporjevica ‘Mergelbach’ (zu slowenisch lapor ‘Mergel’): Laperwitz-bach (GewN).

laz ‘Rodung’, auch ʻlichte Stelle im Waldʼ: Lasse (auch Lassen; Äußere/Innere/Untere Lasse); Lassach, Lassacher (HofN) – lazar ʻReuter, Rodenderʼ (+ -ar): Latschore (urkundlich 1774 Lasaȳre) [viell. auch zu romanisch *laqueariu zu laqueus ‘Schlinge, Schleife’]. – lazina ‘baumlose Stelle, Gereute, Neuland’ (+ -ina): Leisienas (urkundlich 1770 Lasines) [viell. auch < romanisch *lacines ‘(bei den) Schlingen’ (Fallen für den Wildfang, zu laqueus ‘Schlinge, Schleife’)].

*lěsъʻWaldʼ  in *leš(an)e ‘Waldbewohner’: Lesach (Ober-/Unter-lesach) (SiedlN).

mělь ‘mergelhaltige Erde; Kreide, Staub’: Mellitz-scharte.

*mǫtьnica ‘Trübenbach’: Muntanitz (BergN), Namengebung ausgehend vom Muntanitz­-bach [denkbar ist auch entweder ein romanisch-slawischer Mischname, romanisch montanus ‘Berg-’ + slawisch -(ьn)ica oder (ziemlich unwahrscheinlich, da Parallelen fehlen) rein romanische Herkunft, etwa *montanities bzw. -itia; dagegen spricht, dass alle Namen mit romanisch mont- im Kalser Tal mit der Lautung mat- fortgesetzt werden].

murava / murova ‘Au, Rasen; für Milchkühe geeignetes Gras’: Mörbetz-spitze (BergN, + -ica).

mulj  ʻfeiner Sand; Flusssand, Lettenʼ, davon muljica ‘Geröll usw.’: Mul-ofen, -wald; Mullitz-boden.

muža ‘Sumpf, Morast’: Nussing-kogel (BergN, früher Mussi(n)g; Mus (HofN, auch Muß, wahrscheinlich Lagename) [bei beiden Namen ist es wahrscheinlicher, dass sie von romanisch *mužina ‘Steinhaufen’ herzuleiten sind].

ob + plazъ ‘längs der Lawine, am Lahner’: Oblasser (HofN, Lagename); Oblasser-alm.

*obrinje ʻentlang des Wacholder­bestandesʼ (< ob + brinъ ‘Wacholder’ + -je): Obring.

ołša (neben) jelša ʽErle’: Holzsch(n)itzbach, -brücke, -graben (ein volksetymologisch umgeformtes slawisches *olšьnica ʽErlenbach’ (zu slawisch *elьcha oder *elьcha).

oster ‘spitz, scharf’ in *ostrьcь ‘Spitzberg’: Losteres [-ets], Lostras-bödlan, Lostretz-kluft (vielleicht eine slawisch-romanische Mischform: romanischer Artikel + slawisches Appellativ) [eine andere Deutung könnte romanisch *lustera ‘Heidel-, Schwarzbeere’ sein]. – Vielleicht Ostadan (im Detail unklar).

plazъ ‘Lawine, Lahn’ (slowenisch plaz): Blas (2x), Blos, Plos, Ploss; (Kuenzer-, Joch-) Blas; Blossen (Plural); Plasischg(e-graben) (< altslowenisch*plazišće ‘Lawinengang’).

podpolje ‘Unterfeld’: Popbichelen (wohl umgeformt wie der SiedlN Poppichl in Kärnten).

polica ‘Gelände-, Bergstufe, Terrasse’: Plitzen, Poletz-trog (+ deutsch Trog).

pozen ‘spät’, wovon u.a. slowenisch poznik ‘Spätling, Spätkartoffel usw.ʼ (vgl. auch poznica ʻSpätfruchtʼ, poznjak ʻSpätflachsʼ), woraus sich die Bedeutung ʻWiese, die nur einmal [also spät] abgemäht wird’ entwickelt haben könnte: Bossenig.

prod ‘Geröll, Schotter’: Prad (Brod) [wegen der Aussprache [-ō-] ist die slawische Deutung wahrscheinlicher als romanisch pratum ‘Wiese’]; Paraditze, Boroditze (+ -ica); Vale-brod (Vor­derglied möglicherweise zu romanisch vallis ‘Tal’).

prědъ žlěbomь ʻvorm Grabenʼ: Bresla, Preslab [aus lautlichen Gründen unwahrscheinlich romanisch *pratu stabulu ʻStallwieseʼ oder *pratu supra ʻobere Wieseʼ].

prelog ‘Brachland’: Perloger (HofN, Lagename).

*pyšl’(an)e ‘Ort, wo der Wind weht’: Peischlach (SiedlN, Ober-/Unter-peischlach), urkundlich 1299 Peuschler, 1428 Päuschlarn, erstmals 1521 peischlach) < altslowenisch *pišljah (< slawisch *pyšl’axъ), Lokativ zu einem von slawisch *pyxati ‘blasen, wehen’ abgeleiteten Einwohnernamen, etwa slowenisch  pišlje; der urkundliche Beleg Peuschler zeigt den alten deutschen Einwohnernamen, die Form auf -arn/-ärn den Dativ, der syntaktisch dem slawischen Lokativ entspricht. – Peischlach- oder Peischler-berg, Peischler-tröger. 

ravnje ‘eben Fläche, Ebene; Terrasse’: Rane.

*raz-sěk- ‘Einhieb’: Rasséck (oder Róssegg; Hinweis auf Rodung; oder < romanisch rivus siccus ‘Dürren­bach’).

se(d)lo ‘Dorf, Siedlung’: Zöttl (HofN) [semantisch gut zu romanisch vicus ‘Dorf’ > *Fig (im Hofnamen Figer bezeugt, ebenfalls in Großdorf) und zu deutsch Dorf, heute Großdorf, passend – ein Name, der semantisch durch alle drei Sprachschichten gelaufen ist].

*sǫpovica ‘Geier­horst’ (zu sǫpъ ‘Geier’): Tschumpawitz (Erstbeleg 1679 mit Sch-: Schumppaniz); Tschumpetsch-egg (+ deutsch Egg(e)).

stanъ  ‘Standort, Lagerplatz’ in *stanišće (+ Suffix -isko/-išće): Staniska (SiedlN).

stopica ʻStufe, Auftrittʼ bzw. stopnica ʻStufe, Staffelʼ (slowenisch) in Stoplitz.

*strǫpьnica ‘steile, abschüssige Flur’ (zu slawisch strǫ‘Dachstuhl; zwischen Bächen liegender Teil eines Berges’): Ströbnitz-feld

*tešćica (< *tęžьkъ + -ica) ‘schwierig zu erreichendes Grundstück’: Teschgitz.

*volьja tiščьnica > *voletiščnica ‘Och­sen­pferch’: Foledíschnitz (der Lautwandel -t- > -d- beruht auf romanischem Einfluss).

zelenica ‘grün bewach­sener Platz in einer felsigen Gegend’: (Große, Kleine) Zelense [wenig wahrscheinlich, eher < *zenense zu romanisch cena ‘Abendweide’].

*zelenovišće ʻgrüne Flächeʼ: Zellwischg, Unter-zellwitsch.

zǫbьcь ‘kleiner Zahn’: Sunz-kopf (BergN) [slowenisch zob ‘Zahn’ in der Oronymie für ‘stark zugespitzte Steinform; allein stehender hoher Felsen’].

želězo ʻEisenʼ: Gschlöß [die bisher vertretene Deutung ʻzu einem Landhaus bzw. zu einem Schloss gehörige Flurʼ ist unwahrscheinlich (unterhalb des Muntanitzkeeses wurde tatsächlich Eisen gewonnen und über das Matreier Törl ins Iseltal befördert)].

 

Abkürzungen

(ohne allgemein bekannte sowie Sprachbezeichnungen, bei denen nur …isch fehlt)

 

 

BergN               Bergname

dt.                      deutsch

FlurN                Flurname

GewN               Gewässername

HofN                 Hofname

ma.                    mundartlich

SiedlN               Siedlungsname

urk.                    urkundlich

urspr.                 ursprünglich

vgl.                    vergleiche

<                        entstanden aus

>                        wurde zu

                      siehe

 

Literatur unter Register