5.1 Politische Entwicklung

Die vom Politikwissenschaftler Arnopoulos und vom Wirtschaftswissenschaftler Valaskakis angeführte Forschungseinheit Gamma Group publizierte 1982 im Auftrag der UNESCO eine Studie über eine kommunitäre elektronische Demokratieform (Telecommunitary Democracy). Die Gamma Group evaluierte über 20 internationale Teledemokratie-Projekte hinsichtlich der Möglichkeiten des Abbaus der Entfremdung und der Erhöhung der politischen Partizipation in der repräsentativen Demokratie. Die Theorie hinter dem Design der Studie beruht auf der Prämisse, daß die Zunahme von Größe und Macht politischer und ökonomischer Institutionen Unpersönlichkeitsempfindungen fördert. Der Bürger empfinde ein Gefühl der Ohnmacht und Nutzlosigkeit. Dies verursache eine massive Frustration und Entfremdungseffekte. Der Durchschnittsbürger entwickle Minderwertigkeitskomplexe, die starke Abnahme des gemeinwohl-orientierten Engagements und der Rückzug in die Privatsphäre seien mithin die logische Konsequenz. Ein autoritatives Regierungssystem verstärke seinen Eingriff bei sozialen Angelegenheiten und multipliziere seine Macht im alltäglichen Leben des Bürgers. Das Produkt der Faktoren (a) politische Beteiligungslosigkeit, (b) lückenlose Überwachungsmöglichkeiten der Bevölkerung durch den Einsatz von IKT und (c) staatliche Eingriffe in die Privatsphäre des Bürgers drohe langfristig in eine totalitäre Elitenherrschaft (Oligarchisierung) überzugehen. Entwicklungen der IKT erleichtern die Zentralisierung der Kontrolle und die Massenüberwachung der Bürger westlicher Demokratien, ohne daß diese sich der Observation bewußt wären. Arnopoulos und Valaskakis warnen vor einem autoritär gestärkten Staat, vor dem der "gläserne Bürger" zunehmend machtloser wird. Die Tatsache, daß eine Oligarchisierung eine Effizienzsteigerung mit sich bringt, fördert die Entdemokratisierung zusätzlich in dem Sinne, daß eine erhöhte Machtkonzentration auch eine Erhöhung der Fähigkeit der Elite zur Manipulation ihrer Gefolgschaft bedeutet. Die Tabelle 5.1 zeigt einige Eigenschaften politischer Unterentwicklung, die teilweise von allen demokratischen Systemen aufgewiesen werden können (Slaton, 1992; Arnopoulos/Valaskakis, 1982): Vor allem die Vertreter der Frankfurter Schule haben darauf hingewiesen, in welchem Ausmaß das Entstehen organisierter Parteien und mächtiger Verbände sowie die Zentralisierungsprozesse der konventionellen Massenmedien (Presse, Radio und Fernsehen) dazu führen, daß die politischen Beteiligungschancen immer ungleicher verteilt sind. An die Stelle des offenen Raisonnements tritt zunehmend die in propagandistischer Absicht „veröffentlichte Meinung“, die den Durchschnittsbürger nur noch als passiven Rezipienten ins Kalkül zieht. Politische Öffentlichkeit ist nach dieser Vermachtungsthese (Habermas, 1990) nicht mehr repräsentativ organisiert (vgl. z.B. Meyer, 1998).

„Mit der Kommerzialisierung und der Verdichtung des Kommunikationsnetzes, mit dem wachsenden Kapitalaufwand für und dem steigenden Organisationsgrad von publizistischen Einrichtungen wurden die Kommunikationswege stärker kanalisiert und die Zugangschancen zur öffentlichen Kommunikation immer stärkerem Selektionsdruck ausgesetzt. Damit entstand eine neue Kategorie von Einfluss, nämlich eine Medienmacht, die, manipulativ eingesetzt, dem Prinzip der Publizität seine Unschuld raubte. Die durch Massenmedien zugleich vorstrukturierte und beherrschte Öffentlichkeit wuchs sich zu einer vermachteten Armee aus, in der mit Themen und Beiträgen nicht nur um Einfluss, sondern um eine in ihren strategischen Intentionen möglichst verborgene Steuerung verhaltenswirksamer Kommunikationsflüsse gerungen wird" (Habermas 1990, S. 28).

Die Konzeption der telekommunitären Demokratie ist eine Reaktion auf die sozialwissenschaftliche Erkenntnis, daß in den heutigen westlichen  Demokratien die wichtigsten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen von elitären Minoritäten getroffen werden. Das Scheitern der Umsetzung der klassischen partizipatorischen Demokratievorstellung im Rahmen einer Informationsgesellschaft (insbesondere des implizierten Machtgleichheitsprinzips) wird nicht darauf zurückgeführt, daß diese auf realitätsfremden und fehlerhaften Annahmen beruht, sondern lediglich darauf, daß diese ihre begründeten normativen Annahmen wegen dem Konflikt mit der sozialen Wirklichkeit (d.h. besonderes der Macht existierender Eliten) bis heute noch nicht durchsetzen konnte. Die telekommunitäre Demokratie weigert sich daher die allgegenwärtige Eliten-Massenstruktur als unüberwindlich oder als notwendig für das Funktionieren einer Demokratie zu sehen, sondern sie sieht in ihrer Existenz gerade den Grund dafür, daß es bis heute nicht zu einer erfolgreichen gesamtgesellschaftlichen elektronischen Demokratisierung gekommen ist.
 

Dagegen definieren Arnopoulos und Valaskakis politische Entwicklung:

"The first step in this task is to make quite explicit what we mean by "political development" which we can define as: the process of improving the capability of a social system to attain its goals by increasing collective decision-making" (Arnopoulos/Valaskakis, 1982, S. 4).

Ein hochentwickeltes politisches System würde daher die Kriterien der rechten Spalte der Tabelle 5.1 erfüllen.

                                                                                                  Tabelle 5.1: Indikatoren politischer Unterentwicklung und Gegenstrategien.
 

Politische Unterentwicklung Politische Entwicklung
Elitismus Machtgleichheit
Verantwortungslosigkeit Verantwortung
Vermachtung Repräsentative Öffentlichkeit 
Anomie Spielregelsystem-Modifikation
Entfremdung Legitimität
Apathie Beteiligung
Atomismus Aktive Bürgergesellschaft
Geheimhaltung Wissen

"At the core of these traits are the rights and duties of all citizens to be concerned and become involved in the public affairs of their community. This notion of citizenship as active role playing in the political arena is the essence of classical politics which has unfortunately been downgraded in modern times" (Arnopoulos/ Valaskakis, 1982, S. 5).

Die vorgeschlagene Lösung der Gamma Group basiert auf der Förderung der Verantwortungsgesellschaft. Eine zentrale Prämisse der Gamma Group besagt, daß eine erhöhte Politisierung der Bevölkerung Entfremdungseffekte reduziert und dem verantwortungsvollen wie legitimen Regieren dient. Anstelle der Kontrolle und Lenkung der Bevölkerung durch IKT Vorschub zu leisten, wird IKT eingesetzt, um die Bürger mit substantiellen Einflußmöglichkeiten im politischen Prozeß auszustatten, d.h. telekommunitäre Demokratie = politische Entwicklung + IKT. Die Frage, ob die telekommunitäre Demokratie eine utopische Vision oder eine wahrscheinliche Zukunftsentwicklung darstellt, beantwortet die Gamma-Group mit der Schlußfolgerung, daß diese sowohl möglich als auch wünschenswert ist.

„Das Internet wird nicht automatisch zu einer Politisierung seiner Bewohner führen. Die Möglichkeiten, die bestehenden Kommunikationsverhältnisse auszuweiten und einen großen Informationsfluß zu gewähren, stellen aber Chancen dar, die nicht ungenutzt bleiben dürfen. Eine weite Vernetzung, eine aktive Einbindung der Möglichkeiten in das institutionalisierte und nicht-institutionalisierte politische System und so die Aufhebung zwischen realer Politik und virtuellem Übungsplatz können das Potential des Internet weiter fördern und ausbauen“ (Neymanns, 1996, S. 83).