Eine neue Broschüre zum österreichischen Deutsch für Schulen

Im Internet abrufbar unter https://www.bmbwf.gv.at/schulen/unterricht/oed.pdf?4endq2 oder hier

© H.D. Pohl (war vorgesehen für tribüne 1/2014, s. http://members.chello.at/heinz.pohl/Tribuene_2014.pdf)

 

Anmerkungen blau (…)   zurück

Unter dem Titel „(Österreichisches) Deutsch als Unterrichts- und Bildungssprache“ versucht eine vom BMUKK herausgegebene Broschüre den österreichischen Schülerinnen und Schülern die Eigentümlichkeiten und Verschiedenheiten der deutschen Standardsprache in den deutschsprachigen Ländern näherzubringen. Nach dem Vorwort (von G. Heinisch-Hosek, Bundesministerin für Bildung und Frauen) und einer Erläuterung zum Konzept und den Zielen der Broschüre folgen einige Hinweise zur Benützung. Dann folgt eine Einführung ins „Österreichische Deutsch aus der Sicht von Kultur und Sprache“ (von Gerti Zhao-Heissenberger), worauf drei Beiträge als „Teil 1: Basistexte“ folgen. Der Basistext 1 ist dem Thema „Österreichisches Deutsch – ein Klärungsversuch“ gewidmet, worin der durch seine zahlreichen Publikationen zum österreichischen Deutsch in Fachkreisen allgemein bekannte Jakob Ebner dieses als gleichberechtigte Varietät beschreibt (S. 7-9). Der Basistext 2 stellt das Forschungsprojekt „Österreichisches Deutsch als Unterrichts- und Bildungssprache“ vor (1), das u.a. die Einstellungen der Lehrer und Schüler zu den verschiedenen Varietäten der deutschen Sprache untersucht (S. 10-12). Es wird also der Frage nachgegangen, ob österreichische Ausdrucksweisen genau so „korrekt“ betrachtet werden wie die entsprechenden deutschländischen, wobei von den Verfassern Rudolf de Cillia, Jutta Ransmayr und Ilona Elisabeth Fink interessante Ergebnisse geboten werden. Den Basistext 3 „Österreichisches Deutsch und Plurizentrik“ verfasste Alexander Burka; er stellt darin die Plurizentrik unter verschiedenen Gesichtspunkten vor (S. 13-15). Der „Teil 2: Lehr- und Lernmaterialien“ bietet mannigfache Beispiele, Übungen für Schüler (mit Quiz), Wörterbücher im Vergleich, Arbeit mit Wortfeldern u.dgl. sowie ergänzende Darstellungen. Der „Teil 3“ enthält Kommentare zu den Aufgaben und die Lösungen dazu. Die Broschüre ist ansprechend gestaltet und erweckt bei Jugendlichen das Interesse an sprachlichen Zusammenhängen. Einige Anmerkungen folgen weiter unten, zunächst einige Hintergründe, warum diese Broschüre sehr notwendig ist – zumal das Echo in der Presse nicht nur positiv war (2). Vielfach wurde das österreichische Deutsch als „Dialekt“ bezeichnet sowie als „Hochdeutsch“ nur das deutschländische Deutsch betrachtet (3), obwohl in der Broschüre der Begriff „Hochdeutsch“ thematisiert wird (4).  

Es ist eine bekannte Tatsache, dass sich das typisch „österreichische“ Deutsch – zusammen mit dem südlich bzw. bairisch gefärbten Deutsch – bei der jüngeren Generation auf dem Rückzug befindet. Das Vordringen des nördlich gefärbten deutschländischen Deutschen („Bundesdeutschen“) ist die Folge von Sprachkontakt; ich habe dies an anderer Stelle einmal „Varietätenkontakt“ bezeichnet (5). Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten – ebenso wenig wie die weltweite Dominanz des Englischen und das Aussterben vieler kleinerer Sprachen (meist „Minderheiten“). Es ist eben so, die Wissenschaft kann und soll dies beschreiben, aber nicht beurteilen und schon gar nicht verurteilen. Manche werden es bedauern, anderen wiederum ist es gleichgültig – wie viel anderes auch. Doch im Bildungswesen (also im Deutsch­unterricht) sollte dies thematisiert werden, was man jetzt offensichtlich tut; schließlich ist dies ja die Aufgabe dieser Broschüre.

Eine der Ursachen, warum die österreichische Varietät des Standarddeutschen immer weiter zurückgedrängt wird, ist die „globalisierte Umwelt“: Der jungen Generation ist der Unterschied zwischen „Norddeutsch“ und „Süddeutsch“ – zu letzterem zählt ja auch das österreichische Deutsch – immer weniger bewusst. In den Massenmedien (v.a. im Fernsehen und in der Werbung) überwiegt bekanntlich der binnendeutsche, eher nördlich geprägte Sprachgebrauch. Dazu kommt der fortschreitende Abbau der Mundarten. Dadurch entstand eine gewisse sprachliche Unsicherheit, der die nun vorliegende Broschüre entgegenwirken kann. Viele Menschen sind sprachlich unsicher geworden und wählen zur Vorsicht die bundesdeutsche Variante und blicken lieber in den DUDEN als ins Österreichische Wörterbuch (6). Ein „österreichisches Sprachbewusstsein“ scheint es derzeit (zumindest bei der jüngeren Generation) nicht (mehr) zu geben – im Gegensatz zum „österreichischen Nationalbewusstsein“. Dies zeigt sich auch an der Übernahme vieler im amtlichen Bereich üblicher Bezeichnungen wie z.B. die Gesundheitsakte (statt der -akt (7)) oder beim Telefonieren „drücken Sie die eins“ (statt kurz und bündig „drücken Sie eins“). Und vielfach fehlt auch das sprach(wissenschaft)liche Wissen, was u.a. die EU-Liste der österreichischen Bezeichnungen unterstreicht: 23 Begriffe wie Erdäpfel, Eierschwammerl, Ribisel oder Powidl wurden beim EU-Beitritt Österreichs im Protokoll Nr. 10 festgehalten, die parallel zu den bundes- oder binnen­deutschen Bezeichnungen (gleichrangig) zu verwenden sind. Insgesamt gibt es aber eine weit größere Anzahl von Austriazismen, nicht nur unter den Bezeichnungen für Lebensmittel, sondern v.a. in der Rechts- und Verwaltungssprache, die wohl den Vorrang gegenüber der typisch österreichischen Küchensprache hat. Übrigens sind nur 12 von den 23 Bezeichnungen in diesem Protokoll „Austriazismen“ im engeren Sinn des Wortes, denn 9 davon sind auch bayerisch bzw. süddeutsch und zwei passen gar nicht in diese Liste; einige dieser Austriazismen sind darüber hinaus nicht in ganz Österreich üblich (wie u.a. der Paradeiser (8)). Als Austriazismen bezeichnet man bekanntlich den Wortschatz, der im außerösterreichischen deutschen Sprachgebiet als „typisch österreichisch“ wahrgenommen wird. Dazu kommen auch einige Aussprachegewohnheiten (wie Chemie, China als [k-], nicht [ç-] bzw. [ch-] oder -ig als [-ik], nicht [-iç], Betonung Kaffée, Mathemátik usw.). Es betreffen zwar die für Österreich typischen Ausdrücke alle Lebensbereiche, sie häufen sich bekanntlich auf dem Gebiet der Verwaltung und Gastronomie.

Das Verhältnis zwischen dem Deutschen in Österreich und in Deutschland (einschließlich des Freistaates Bayern und der Schweiz) ist allerdings ein sehr verwickeltes. Die innerstaatlich verlaufende Kommunikation, bedingt durch die Eigenstaatlichkeit (spätestens seit 1866/71, aber schon seit der zweiten Hälfte des 18. Jhdts.) ließ einerseits die „staatsräumlichen Austriazismen“ der Amts- und Verwaltungs- bzw. Küchen- und Mediensprache entstehen und lieferte andererseits den Rahmen dazu, dass süddeutsche und bairische Besonderheiten in unserem Lande ihre Position gegenüber binnen- und bundesdeutschen Varianten besser behaupten konnten als etwa im Freistaat Bayern (diesen schreibt man mit y, bairisch mit i meint aber den Dialekt). Entscheidend war aber für Österreich die Einbindung in die einheitliche gesamtdeutsche Standardsprache seit dem 18. Jhdt., die einerseits die räumliche Gliederung des pluriarealen deutschen Sprachgebietes nach den dialektalen Großräumen reflektiert (in Österreich im Kleinen, in Deutschland im Großen), andererseits die deutschen Großdialekte überdacht und damit die Kommunikation sicherstellt. Die plurizentrische Gliederung des deutschen Sprachgebietes nach den drei Staaten Deutschland, Österreich und der Schweiz ist sekundär, historisch jünger und reflektiert die neuzeitliche politische Entwicklung, hat aber bisher keine geschlossenen Sprachräume nach den Staatsgrenzen schaffen können, zumindest nicht auf Ebene der allgemeinen Verkehrssprache. Die grammatikalischen Abweichungen sind marginal, es gibt auch nicht sehr viele österreichische Wörter, die in Deutschland nicht verstanden werden, sondern bestenfalls ein paar Dutzend, das meiste findet sich auch in den anderen süddeutschen Regionen, v.a. in Bayern. Die österreichische Staatsgrenze zu den anderen deutschsprachigen Regionen ist keine Sprach- oder Mundartgrenze, sondern bloß eine politische, die sich nur auf sprachliche Erscheinungen des öffentlichen Lebens beschränkt, also österreichisch und schweizerisch Nationalrat gegenüber „deutsch“ Bundestag, österreichisch Matura, schweizerisch Matur gegenüber deutsch Abitur, deutsch und österreichisch Führerschein gegenüber schweizerisch Führerausweis usw. Sonst trinkt man seine Maß Bier in München wie in Salzburg und sammelt Schwammerln in Bayern wie in Österreich (usw.).

Weder das „österreichische“ noch das „deutschländische“ (noch das schweizerische) Deutsch bildet eine Einheit. Das österreichische Deutsch ist eine historisch durch die Eigen­staatlichkeit erwachsene nationale Varietät, wobei weder dieses noch das bundesdeutsche homogen sind, vielmehr setzt sich die areale Gliederung, wie sie in der BR Deutschland im Großen besteht, sich im Kleinen in Österreich fort, wobei unbestritten bleibt, dass manche Erscheinungen nur auf österreichischem Boden vorkommen, diese aber nicht immer im ganzen Bundesgebiet. Denn eine einheitliche „österreichische Sprache“ (analog zu der seit 1945 entstandenen und heute gefestigten „(Staats-) Nation“) gibt es nicht; der Umkehrschluss „weil es eine österreichische Nation gibt, muss es auch eine österreichische Nationalsprache geben ist nicht zulässig. Es gibt also sehr wohl eine österreichische „nationale Varietät“ des Deutschen, sie ist aber gleichzeitig eine durch die Eigenstaatlichkeit Österreichs bedingte süddeutsche Varietät, „national“ in der Hinsicht, dass die staatlich-kulturellen Rahmen­bedingungen das Festhalten am süddeutschen Sprachgut fördern, aber „nicht national“ hinsichtlich des Sprachverhaltens weiter Teile der österreichischen Gesellschaft, denn in österreichischen Zeitungen, in Rundfunk und Fernsehen sind Wörter wie Junge für Knabe bzw. Bub und Bursche, Treppe für Stiege, Kartoffel für Erdäpfel usw., Plurale wie Jungs, Mädels usw., Wendungen wie er ist gut drauf, das macht keinen Sinn (9), guck mal, tschüss usw. heute gang und gäbe; auch er/sie/es hat gestanden/gelegen/gesessen (statt süddeutsch ist) kann man heute in Österreich (wie auch in Bayern) oft hören. Ferner ist in der gehobenen Gastronomie eine Zunahme binnen- und bundesdeutscher Termini zu beobachten.

Vielfach wird österreichisches Deutsch von Entertainern und Kabarettisten als eine Art „Gaudi-Dialekt“ verkauft, womit man auch in Deutschland Lacherfolge erzielen kann (10). Dadurch wird das Vorurteil vieler Nichtösterreicher, das österreichische Deutsch sei ein Dialekt, bestärkt. Dies geht auf Kosten der Glaubwürdigkeit nicht nur des österreichischen Standarddeutsch, sondern auch Österreichs in Wissenschaft, Bildung und Wirtschaft. Diese Entwicklung hat schon 1995 eingesetzt, als anlässlich des Österreich-Schwerpunkts auf der Frankfurter Buchmesse Astrid Wintersbergers „Wörterbuch Österreichisch-Deutsch“ (11) mit hauptsächlich dialektalen, vielfach derben und vulgären Ausdrücken verbreitet wurde, wodurch der Eindruck entstehen konnte, dass dies „repräsentativ österreichisch“ sei (12). So interessant und „kreativ“ die unterschiedlichen Sprachschichten sein mögen, „darf nicht übersehen werden, dass auch für eine sachliche Ausein­andersetzung und einen öffentlichen Diskurs in der Demokratie eine entsprechende Sprachform gepflegt werden muss“ (13) – und dies ist der österreichische Standard und nicht der Dialekt oder die Sprache des Stamm­tisches. Vielfach hat sich aber auch nördlicher Substandard (oder zumindest ein solcher, der keine bairisch-österreichischen mundartlichen Vorbilder hat) festgesetzt. So nimmt der Gebrauch von mal zu (statt einmal, z.B. ruf mal an oder das ist mal so (14)), insbesondere aber rein, raus und rauf usw. für ʽherein/heraus/herauf’ bzw. ʽhinein/hinaus/hinauf’ usw. Diese gelten als umgangs­sprachlich, sowohl nach Duden als auch nach ÖWB und haben darüber hinaus in Österreich keine mundartliche Deckung. Im größten Teil des bairischen Mundartgebietes kommen die auf abhin/abher, aushin/ausher und aufhin/aufher beruhenden Formen åbi/åber, außi/außer und aufi/aufer vor. Die deutliche Unterscheidung zwischen ʽwoher’ und ʽwohin’ ist also durch „fremdregionale Gepflogenheiten“ in der Umgangsssprache (fast) verloren gegangen (15).

Die meisten Unsicherheiten zur korrekten deutschen Standardprache in Öster­reich beruhen auf Uninformiertheit. Das österreichische Deutsch ist samt seinen speziellen Ausdrücken und grammatikalischen Eigenheiten bereits seit mehreren Jahrzehnten als korrekte Form anerkannt. Dennoch ist nach wie vor sehr oft die Vorstellung verbreitet, dass jene Sprachform, die in Deutschland verwendet wird, die eigentlich richtige sei. Auch Lehrer sind sich da häufig nicht so sicher, wie die Ergebnisse einer Studie der Universität Wien zeigen (16). Rund die Hälfte der für eine Studie befragten Lehrer hält das deutschländische Deutsch für korrekter. Zwar geben zunächst rund 86 % der Befragten an, das österreichische (Standard- bzw. „Hoch-“) Deutsch für genauso richtig zu halten wie das deutsche, aber mehr als die Hälfte der befragten Lehrer ist dennoch der Meinung, dass die deutsche Form mehr (ca. 15 %) oder weniger (40 %) korrekter sei als die österreichische – wohl eine Folge, dass dem österreichischen Deutsch in der Lehrerausbildung bisher nicht allzu große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. 84,5 % der Befragten ist auch das Konzept der plurizentrischen Sprachen als solches nicht bekannt. Die vorliegende Broschüre wird in dieser Hinsicht sicher gute Dienste leisten, immerhin halten fast zwei Drittel der befragten Lehrer dieses Thema im Deutschunterricht für wichtig (52,1 %) bzw. sehr wichtig (13,5 %).  

Diese Broschüre will nun vermitteln, dass das  Österreichische Deutsch eine nationale Varietät der gemeinsamen „hochdeutschen“ Schrift­sprache ist, die sich von dieser durch einige sprachliche Besonderheiten abhebt und in Österreich als Standardsprache zu betrachten ist, wie sie im „Österreichischen Wörterbuch“ festgehalten sind – dieses ist also eine Art DUDEN für Österreich. Daher ist die Kritik an der Broschüre, wie sie im „Standard“ (17) von Rudolf Muhr und Leo Heinz Kretzenbacher geübt wurde, überzogen. Wenn auch behauptet wird, der Begriff „Österreichisches Deutsch“ sei ein Eigenname und daher mit großen Anfangsbuchstaben zu schreiben, ändert dies nichts an der Tatsache, dass Deutsch eine plurizentrische Sprache ist, deren standardsprachliche Varietäten prinzipiell gleichwertig sind. Die Standardsprache, die in Österreich verwendet wird, heißt richtig „österreichisches Deutsch“, wobei es in der Diskussion um das österreichische Deutsch von zentraler Bedeutung ist, zwischen Standardsprache und Umgangssprache bzw. Dialekt zu unterscheiden. Vor allem aber sollte man den nördlich gefärbten Substandard nicht durch unseren südlichen ersetzen, indem man der „Normalsprache/Alltagssprache“ (also dem Substandard bzw. der Umgangssprache) zu viel Gewicht beimisst. Ganz abgesehen davon, dass diese in Österreich recht verschieden ist. Ich kann auch keine „Fehler“ (18) in der Broschüre finden, nur einige Ungenauigkeiten. Hier nun einige Bemerkungen.

Bei den Bildbeispielen auf S. 20 wird Karotte, Gelse und Sessel als österreichisches Normalwort dargestellt, was so nicht stimmt. Neben Karotte ist auch gelbe Rübe (v.a. im Westen) und Möhre (v.a. im Süden) üblich, neben Gelse auch Mücke (Aussprache meist Mucke), und Sessel wird in Österreich nur für den Stuhl (nicht Fauteuil wie v.a. in Deutschland) verwendet, wobei auch Stuhl durchaus üblich ist. Bei der Uhrzeit (z.B. 16.45) hätte man sich nicht auf „drei viertel“ beschränken sollen, was tatsächlich (mit Ausnahmen im Westen) gemeinösterreichisch (und süddeutsch) ist, auch „viertel“ ist interessant, denn 16.15 Uhr ist nur im Osten und Süden „viertel 5“, im Westen meist „viertel nach 4“ (wie u.a. auch in Bayern), auch „viertel über 4“ (19). Zu den Fragen, welche Wörter man eher verwendet (A 10, S. 19 u. 49): miesepetrig ist nicht das einzige deutschländische Wort für grantig, das eigentlich oberdeutsch ist und ʻübellaunigʼ bedeutet (20); Metzger ist auch im Westen Österreichs üblich; ratschen ist genau so österreichisches Deutsch wie tratschen (21). Doch diese Ungenauigkeiten haben auch etwas Gutes: sie zeigen, dass das österreichische Deutsch keine absolut abgrenzbare Einheit darstellt. Dies wird auch mit dem Text auf S. 40 32 (A 32/33) deutlich, in dem es um schauen und gucken geht. Der Text ist gut getroffen, die vorgeschlagene Lösung korrekt, aber doch ist die Realität eine etwas andere, denn gucken ist dem Südosten des deutschen Sprachgebietes zwar fremd, aber schauen hat eine weitere Verbreitung und bedeutet eigentlich ʽhinsehen’, steht also oft in Konkurrenz zu sehen. Eindeutig ist es aber bei der Frage (z.B.) nach dem Wetter: guck/kuck mal, ob es regnet (Westen und Norden)  gegenüber schau (ein)mal, ob es regnet (Südosten und Süden); bloß der Südwesten (Schweiz) hat lug bzw. lueg(22) Die Redewendung Du hast keinen Tau (S. 26) ist zwar österreichisch („Grenzfall des Standards“ (23)), aber Das macht das Kraut nicht fett! ist süd- und ostmitteldeutsch und keineswegs auf Österreich beschränkt (wo man Kohl statt Kraut sagt heißt es Das macht den Kohl nicht fett! (24)). Auch ich bin gestanden (neben ich habe gestanden) ist eindeutig süddeutsch (25), wenn auch in den bundesdeutschen Fernsehsendungen fast nur haben zu hören ist, selbst in Sendungen aus Bayern, in denen mundartnah gesprochen wird.

Insgesamt ist die Broschüre also gut gelungen und ihr ist zu wünschen, dass sie bei der Jugend das Interesse an der Muttersprache mit ihren vielfältigen Ausprägungen erweckt. Dazu tragen auch die vielen Übungen, Übersichten, Hinweise (auch auf die Nachbar- und Minderheitensprachen) bei; alles ist pädagogisch gut durchdacht und stellt ein zeitgemäßes Lehrmittel dar. Die Broschüre ist im Internet abrufbar unter (Zugriff am 11.7.2014):

https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/oed.pdf?4endq2.

 

Zitierte Literatur:

Ammon, Ulrich et alii: Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin – New York 2004.

Eichhoff, Jürgen: Wortatlas der deutschen Umgangssprachen. 4 Bde., Bern – München 1977-2000.

Muhr, Rudolf: Stirbt das Österreichische Deutsch aus? Gegenwärtige Tendenzen des Sprachwandels in Österreich. In: Academia (Wien) 2:2003. S. 10-13

ÖWB = Österreichisches Wörterbuch. Hg. im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur. Wien 2012 (42. Auflage; 1. Auflage 1951).

Pohl, Heinz-Dieter: Zur Diskussion um das österreichische Deutsch. Einige Bemerkungen aus Sicht der allgemeinen Sprachwissenschaft. In: Tribüne 4/2013, 11-31.

Pohl, Heinz-Dieter: Österreichisches Deutsch. Überlegungen zur Diskussion um die deutsche Sprache in Österreich. In: Klagenfurter Beiträge zur Sprachwissenschaft 37-38 (2011-2012 [2014]) 63-123.

Wiesinger, Peter: Das österreichische Deutsch in Gegenwart und Geschichte. 3., aktuali­sierte und neuerlich erweiterte Auflage. Wien-Berlin 2014. [Rezension in diesem Heft].

Wintersberger Astrid, Wörterbuch Österreichisch-Deutsch. Salzburg-Wien 1995, 19. Auflage 2013.

Zehetner, Ludwig: Bairisches Deutsch. Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern. Regensburg 2005.

 

Anmerkungen:

 

Anm. 1:    Universität Wien. Institut für Sprachwissenschaft. Ziel des Projektes ist es, die Rolle des österreichischen Standarddeutsch in seiner Funktion als Bildungs- und Unterrichtssprache an Schulen unter Berücksichtigung des für Österreich kennzeichnenden Standard-Dialekt-Kontinuums zu untersuchen. Neben Datenerhebungen an Schulen, Analysen von Lehrplänen, von Lehrbüchern und Unterrichtsmaterialien für den Deutsch-als-Muttersprache-Unterricht sowie für den Deutsch-als-Zweitsprache-Unterricht und von Lehr- und Studienplänen an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen. Projekt­leitung: Rudolf de Cillia, Projektmitarbeiterinnen: Jutta Ransmayr, Elisabeth Fink.

Anm. 2:    z.B. „Kleine Zeitung“ 1.6.2014, „Die Welt“ 5.6.2014, „Der Spiegel“ 5.6.2014 (s. Anm. 3), „Tages Anzeiger Zürich“ 10.6.2014, „Die Zeit“, 5.6.2014, zuletzt „Der Standard“, 1.7.2014 (von L.H. Kretzenbacher und R. Muhr unter dem Titel „Deutsch für Inländer. Zwischen Österreichisch und Ösisch: Die unlängst aufgelegte Broschüre über Österreichisches Deutsch ist kein Lehrstück. Dafür enthält sie zu viele Fehler und Fehleinschätzungen“). – Eine weitere sehr kritische Beurteilung der Broschüre findet man auf der Homepage der Gesellschaft für Österreichisches Deutsch (http://www.gsoed.at/), s.u. Anm. 16. – Positive Berichte u.a. „Kleine Zeitung“ 31.5.2014, „Die Presse“  31.5.2014 und 4.6.2014 sowie „Wiener Zeitung“ 4.6.2014 und 9.7.2014 (beide von Robert Sedlaczek, am 9.7. kritisch zu L.H. Kretzenbachers und R. Muhrs Beitrag im „Standard“, s.o.).

Anm. 3:    So heißt es im „Spiegel“ (s.o. Anm. 2), dass „…insbesondere Kinder und Jugendliche sich vermehrt vom hochdeutschen  Sprachgebrauch in den Medien beeinflussen lassen“, als ob der österreichische Standard nicht auch „Hochdeutsch“ wäre. Außerdem: nicht alles, was aus den Medien kommt, ist hochdeutscher Standard, sondern vielfach nördlich gefärbter Substandard (dazu im Haupttext bei Anm. 12, 13 u. 14).

Anm. 4:    u.a. S. 33.

Anm. 5:    zuletzt Pohl 2014, S. 78ff.

Anm. 6:    Viel diskutiert waren immer schon die bundesdeutschen Einflüsse auf den Sprach­gebrauch in Österreich, worauf auch der österreichische Germanist P. Wiesinger im Sammelband „Das österreichische Deutsch in Geschichte und Gegenwart“ Bezug nimmt: „Zur Frage aktueller bundesdeutscher Spracheinflüsse in Österreich“ (Wiesinger 2014, S. 197ff.). Die Frage, wie lange noch das österreichische Deutsch sein Eigengepräge bewahren wird, sah der Verfasser bereits 1988 sehr realistisch: sie hänge vom „Sprachwollen der österreichischen Bevölkerung“ ab, wobei den Journalisten und Moderatoren von Hörfunk- und Fernseh­sendungen, den Schriftstellern und den Lehrern „eine besondere Verantwortung“ zukomme (S. 215). Heute, 26 Jahre später, hat sich in dieser Hinsicht einiges geändert, doch als einigermaßen beständig erweisen sich vor allem die österreichischen Lebensmittel­bezeichnungen.

Anm. 7:    "Der Akt" kommt leider in der Broschüre nicht vor, nur Rechtsakt im Zusammenhang mit dem Protokoll Nr. 10 des EU-Beitrittsvertrages (S. 28), doch der Rechtsakt ist auch laut Duden nur maskulin. Die oft angesprochene Verwechslungsgefahr mit Akt als künstlerische Darstellung des nackten menschlichen Körpers scheint mir weit hergeholt.

Anm. 8:    Diese werden auch in der Broschüre auf S. 15 erwähnt. – Meine linguistische Beurteilung u.a. im Internet unter http://members.chello.at/heinz.pohl/EU-Liste.htm).

Anm. 9:    eigentlich ein Anglizismus (that makes no sense).

Anm. 10: so treffend Ebner in seiner Einleitung S. 9 (als eine mit Recht als „verhängnisvolle Entwicklung“ bezeichnet).

Anm. 11: = Wintersberger 2013.

Anm. 12:  worauf auch J. Ebner in seinem einleitenden Beitrag hinweist (S. 9). Noch immer werde dieses Büchlein auch von offiziellen Stellen im Ausland verschenkt.

Anm. 13: So Ebner a.a.O.

Anm. 14: vgl. Zehetner 113, Muhr 2003, 11.

Anm. 15: Ähnlich Zehetner 35.

Anm. 16: so R. De Cillia, J. Ransmayr u. I.E. Fink in ihrem einleitenden Beitrag.

Anm. 17: am 2. Juli 2014 (im Internet unter http://derstandard.at/2000002553151/Deutsch-fuer-Inlaender?seite=1#forumstart); auch auf der Homepage der Gesellschaft für Österreichi­sches Deutsch (http://www.gsoed.at/ unter Die Broschüre des UM).

Anm. 18: Der einzige „echte“ Fehler ist die genannte Anzahl der EU-Mitgliedstaaten mit 27 statt 28 bzw. der Amtssprachen mit 23 statt 24. Dies ist leicht zu erklären: Kroatien ist erst seit 1.7.2013 das 28. Mitglied der EU, die Ausarbeitung der Broschüre hat aber schon davor begonnen, somit hat man dann dies dann bedauerlicherweise übersehen. Die meisten anderen „Mängel“ beruhen auf verschiedenen Sichtweisen des Kritikers R. Muhr und der um Objektivität bemühten Autoren der Broschüre. ­– Wenn schon von „Mängeln“ die Rede ist: ein Wermutstropfen bleibt, denn der Text ist "gegendert" und ziemlich konsequent mit dem sogenannten Binnen-I versehen, das in der derzeit gültigen amtlichen Rechtschrei­bung nicht vorgesehen ist. Dies verwundert, denn Schulbücher sollten sich an Duden und Österreichischem Wörterbuch orientieren (und nicht nach irgendwelchen „grapho­stilistischen“ Vorstellungen, s. "Zur Diskussion um das Binnen-I und zum "feministischen Sprachgebrauch").

Anm. 19:  s. Karten bei Eichhoff 1-39 u. 40.

Anm. 20: Im Duden ist nur das Hauptwort Grant als bayerisch-österreichisch markiert, grantig ist unmarkiert. Laut Variantenwörterbuch (Ammon 2004, 305: „Grenzfall des Standards“, nach ÖWB „umgangssprachlich“) gilt Grant als südostdeutsch-österreichisch, grantig hingegen als süd­deutsch, doch zunehmend auch mittel- und norddeutsch.

Anm. 21: ratschen kommt eher im Westen und Süden vor, tratschen im Osten, Karte bei Eichhoff 3-9 (in Teilen Österreichs bunt gemischt).

Anm. 22: Eichhoff 1-8.

Anm. 23: Laut Variantenwörterbuch (Ammon 2004, 784).

Anm. 24: Laut Variantenwörterbuch (Ammon 2004, 241 u. 423 bzw. 439).

Anm. 25: Karte bei Eichhoff 2-125.

 

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