5.5 Plebiszitäre E-Demokratie

Werden plebiszitäre Entscheidungssysteme in einer repräsentativen Konkurrenzdemokratie institutionalisiert, dann verändert sich der politische Prozeß prozedural und materiell. Nach dem plebiszitären Lehrsatz stärken die IKT weder Politiker, Regierung noch Bürokratie, sondern primär die Bevölkerung. Das vorherrschende Paradigma ist die Demokratie der Mehrheitsentscheide. Die Machtausübung durch den souveränen Bürger gilt aus der Sicht plebiszitärer Theoretiker (z.B. Fuller)  als höchste Legitimationsquelle des Politischen. Allgemein fördern solche Verfahren ein höheres Transparenzniveau.

Der signifikante Unterschied zur pluralistischen und kompetitiven Demokratie ist die markante direkte Machtverlagerung von politischen Eliten und Verwaltung auf die Bürgergesellschaft. Plebiszitäre E-Demokratie ist ein Gegenprinzip zur "Zuschauerdemokratie" und zum repräsentativen Absolutismus. Außerdem kann plebiszitäre Demokratie politische Sozialisation fördern und Entfremdungsphänomene gegenüber dem politischen System abbauen. Triebkräfte gegen die Überheblichkeit der politischen Elite gelangen in produktive Bahnen.

Aus der Sicht der Vertreter dieser Variante stimulieren neue IKT und interaktive Medien eine Renaissance dieser Demokratieform. Durch ein E-Wahlsystem lassen sich gegenwärtige Praktikabilitätsbarrieren auf dem Weg zur plebiszitären E-Demokratie in großen, komplexen Sozialsystemen überwinden. Die Vorrangstellung, Dominanz und Gestalt der in die Krise geratenen repräsentativen Demokratie muß nicht mehr aufrechterhalten werden. Entscheidungen im politischen System werden von einer minimalen Anzahl von Repräsentanten und einer maximalen Anzahl von Bürgern getroffen (Van Dijk, 1996).

"Schemes for electronic voting from home, via telephone or cable television, are touted; computers are to be hooked to television or telephone to tabulate results instantly. Compared to the mass democratic possibilities of such electronic voting, modern elections and representative government are dismissed as parodies of democratic participation" (Abramson/ Arterton/Orren, 1988, S. 21).

Im Informationszeitalter ist die steigende Bedeutung der Verknüpfung zwischen Medien und Politik zu erwarten, wobei der Bürger zum Bezugspunkt für Strategien politischer Handlungsträger werden. Dabei sind

untrennbar mit den E-Medien verbunden (diese Punkte gelten z.T. auch für andere E-Demokratiemodelle).

Aus dem plebiszitären Modell folgt, daß E-Wahl- und E-Abstimmungssysteme, eine hohe Priorität genießen, während die Anwendung von komplexen Interaktions- und Diskussionssystemen geringe Priorität haben (Abramson/Arterton/Orren, 1988, S. 21).

"Following the plebiscitarian model the logical preferences in ICT are registration systems of the votes and opinions of the citizens. Telepolls, telereferenda and televotes by means of telephone and computer networks, two-way cable television or future information highways are the favorite instruments... Of course, instruments of consultation by citizens themselves, mass and advanced public information systems, cannot be discarded either. However, all instruments filled with information by institutional politics are distrusted" (Van Djik, 1996, S. 49).

5.5.1 plebiszitäre E-Demokratie und Beteiligung

Ein plebiszitäres Entscheidungssystem verfolgt das Ziel, den Bürger in einer frühen Phase des Entscheidungsprozesses zu integrieren. Bei einer radikalen plebiszitären E-Demokratie existiert keine legislative Macht neben der Bürgersouveränität. Eine repräsentative Regierung würde hier nur administrative Aufgaben zu erfüllen haben. Sie muß jene Gesetze, welche die Initiatoren der E-Initiative formuliert haben und das Volk durch E-Abstimmung legitimiert hat, durchsetzen. Sie trifft keine Entscheidungen, die für Spezialinteressen wichtig sind. Dadurch wird das Parteieninteresse an der Finanzierung von Wahlkämpfen minimiert. An dessen Stelle tritt die Finanzierung der plebiszitären Entscheidungsprozesse.

Die folgende Darstellung präsentiert die vielfältigen Möglichkeiten des Plebiszitären und wurde größtenteils von Möckli übernommen (Möckli, 1994). Als plebiszitäre Institutionen definieren wir im engeren Sinne E-Entscheide und Bürgerrechte, die Sachfragen betreffen. Das sind E-Referenden, E-Initiativen und spontane E-Feedbacks. Des weiteren zählen die Wahl politischer Führer, die Wahl der Regierung bzw. des Staatsoberhauptes, die E-Abberufung der Repräsentanten durch das Volk ebenfalls zu den plebiszitären Elementen. Bei der Direktwahl des Parlaments stehen dem Wähler im allgemeinen eine Reihe von Kandidaten zur Auswahl, die von politischen Parteien nominiert werden können. Die direkte Wahl der Regierung ist allerdings wenig kompatibel mit einem parlamentarischen System, in dem die Regierung vom Vertrauen durch das Parlament abhängig ist. Die Abbildungen 5.1 und 5.2 verdeutlichen die erwähnten Zusammenhänge. Eine Feedback-Entscheidung wird optional und ad hoc von oben oder unten ausgelöst. Dies kann z.B. eine Vertrauensfrage eines Abgeordneten oder die Abfrage unterschiedlicher Handlungsmaßnahmen sowie -richtlinien betreffen. Gleichfalls ist es durchführbar, daß die Bürger durch eine elektronische Wahl die Rangfolge der Themen (der Tagesordnung), welche die Repräsentanten zu behandeln haben, vorgeben. Ein E-Referendum wird in diesem Modell von oben/unten nach definierten Regeln ausgelöst. Nach der rechtlichen Wirkung läßt sich weiterhin unterscheiden, ob das Ergebnis der Entscheidung als bindend (dezisiv) oder unbindend (konsultativ) deklariert wird.


Abbildung 5.1: Plebiszitäre und repräsentative Elemente wirken zusammen (Möckli, 1994).

Abbildung 5.2: Möglichkeiten des Plebiszitären.

Indirekte Initiativen sind politische Begehren, bei denen von einer bestimmten Anzahl von Personen zugestimmt werden muß (oft durch freiwillig geleistete Unterschriften), damit sie im Parlament behandelt werden. Meist ist jedoch nur die Behandlung verpflichtend, und es müssen weder Gesetzesentwürfe ausgearbeitet noch Abstimmungen abgehalten werden.

5.5.2 Kritik

Eine Kritik an der plebiszitären Demokratie wird in der Bundesrepublik Deutschland besonders in bezug auf die Weimarer Republik formuliert. Demnach fördere die plebiszitäre Demokratie die Demagogie und könne sich aufgrund ihrer Sprunghaftigkeit in ein autoritäres System verwandeln. Diese Begründung wurde u.a. aus den Erfahrungen der Weimarer Republik abgeleitet und gegen eine Verankerung plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz angeführt (vgl. Schmidt, 1995, S. 257) (weitere Kritikpunkte siehe: Abschnitt 5.3.1).

"Die Destabilisierung der Ersten Deutschen Republik, sei – so eine weitverbreitete Auffassung – in der plebiszitär-autoritären Weimarer Reichsverfassung angelegt gewesen, insbesondere in der Kombination von Volkswahl des Präsidenten, fast uneingeschränkten präsidialem Parlamentsauflösungsrecht, Volksentscheid und Volksbegehren und der präsidialen Befugnis zur Ernennung und Entlassung des Reichkanzlers. Von solchen plebiszitären Elementen wollten die Verfassungsgeber das Grundgesetz fernhalten" (Schmidt, 1995, S. 257).

Schlecht informierte Menschen, die bei einer E-Abstimmung ihren spontanen Gefühlen folgen, noch bevor sie Möglichkeit hatten, über diese nachzudenken und mit anderen darüber zu diskutieren, können die Demokratie destabilisieren. Daher ist es in der plebiszitären E-Demokratie gefährlich, die Bürger mit neuen Ideen zu konfrontieren und sie unmittelbar danach elektronisch abstimmen zu lassen (=> Einbau von Verzögerungszeiten), wie es bei Meinungsumfragen zur Zeit passiert.


Sprunghaftigkeit und Geschwindigkeit
Elektronische Wahlsysteme begünstigen permanente Abstimmungsprozesse, weil die Reaktionszeit minimal ist. Die plebiszitäre Demokratieform zeichnet sich auch durch eine charakteristische Gefahr der überhöhten Geschwindigkeit aus, die sprunghafte Entscheidungen hervorbringen kann (Abstimmungen werden ununterbrochen innerhalb kurzer Zeitspannen und ohne Beratungszeit abgehalten). Die Beteiligung reduziert sich auf den inaktiven Bürger, der unreflektierte Entscheidungen trifft, die von Einzelinteressen und Vorurteilen bestimmt sind. Dadurch entsteht ein "politisches" Marktmodell: Der atomistische Politikkonsument trifft Wahlentscheidungen wegen egoistischer Präferenzstrukturen. In geheimen E-Abstimmungen würden die privaten Interessen des in der Wohnung isolierten Bürgers überwiegen, was keinen Beitrag zu einer wertvollen Deliberation leistet (Malbin, 1982).

"... plebiscitary forms of participation – especially in the quickened form contemplated by advocates of electronic voting – contain a characteristic danger. In their concern for speed and numbers, so-called feedback schemes can be rigged to communicate public opinion to government without pause for the public meetings and assemblies, the talk and deliberations that focus and individual's attention on questions of the common good and public interest" (Abramson/Arterton/Orren, 1988, S. 21).

Politische Beteiligung wird dadurch auf einen privaten Akt der Registrierung vorgefaßter Meinungen über ein Thema reduziert. Politik verwandelt sich in eine Menge institutioneller Arrangements zur Artikulation und Befriedigung privatistischer, egoistischer Einzelinteressen. Ohne Diskussion wird der Entscheidungsprozeß zum Aggregat individueller Interessen.

"The very speed of electronic voting will shrink the time for deliberation and debate, persuasion and argument" (Abramson/Arterton/Orren, 1988, S. 177).
 

Die Einführung von konventionellen plebiszitären Institutionen (unter Berücksichtigung von entsprechenden Verzögerungszeiten und Schutzmechanismen) wird aber auch in Deutschland von Gruppen und Parteien, die sich auf Rechts-Links-Skalen in der Mitte und links der Mitte des politischen Spektrums einstufen (PDS, GRÜNE), in Programmen gefordert. So sollen beispielsweise den Vorstellungen der PDS folgend, Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide auf allen Ebenen, von den Kommunen, über die Länder- und Bundesebene bis zur Europäischen Union, dazu beitragen, Menschen an wichtigen politischen Entscheidungen zu beteiligen und gesellschaftlichen Druck auf die Repräsentanten auszuüben. Der Wesensgehalt von Grundrechten, die Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland dürfen dabei nicht Gegenstand von Volksentscheiden sein.