5.9 E-Instrumentarium

5.9.1 Einteilung

Die zur Verfügung stehenden Anwendungen der IKT (E-Instrumentarium, Institutionen) sollen grob nach ihren primären Fokus in die fünf Dimensionen der politischen Beteiligung eingeordnet werden.

                  Tabelle 5.3: E-Instrumentarium.

Diskussion

[D1] Bulletin-Board-Systeme (BBS)
[D2] Diskussionslisten
[D3] Computer-Konferenz
[D4] Telekonferenz und Videokonferenz
[D5] Chat 
[D6] Community Networks
[D7] E-Bürgerforen
[D8] E-Versammlung (EV) 
[D9] E-Bürgerversammlung (EBV) und E-Stadtversammlungen (ESV) 
[D10] E-Nachbarschaftsversammlung (ENV)
[D11] E-Kommunikationsbaum
[D12] E-Parlament

 


Information

[I1] Öffentliche Informationssysteme (Fernsehen, etc.)
[I2] Neue öffentliche Informationssysteme (Internet, etc.)
[I3] E-Wahlkampagnen
[I4] E-Informationskampagnen
[I5] E-Kommunikationsgenossenschaften

 


Wahlen

[W1] E-Wahl
[W2] E-Losentscheid zur Repräsentantenwahl

 


Abstimmen

[A1] E-Referendum
[A2] E-Abstimmung
[A3] E-Umfragen und E-Meinungsumfragen

 


Politische Aktivität
 
 

 


[PA1] direkte E-Initiative    [verbindlich]
[PA2] indirekte E-Initiative [unverbindlich]
[PA3] E-Petitionen

5.9.2 Nutzungsmöglichkeiten

Tabelle 5.4: Primäre Nutzungsmöglichkeiten der Anwendungen der IKT aus der Sicht unterschiedlicher Demokratiemodelle.
 
Konzept Kompetitiv  Plebiszitär Republikanisch Partizipatorisch Pluralistisch
Diskussion D12 D1-D12 D1-D12 D1-D8, D12 
Information I1-I4 I1-I4 I1-I5 I1-I5 I1-I4 
Wahlen W1  W1 W1  W1-W2  W1 
Abstimmen A1-A3 A1-A3  -
Politische Aktivität - PA1-PA3 PA2, PA3 PA1-PA3 PA2, PA3

Tabelle 5.5: Sekundäre Nutzungsmöglichkeiten der Anwendungen der IKT aus der Perspektive unter-schiedlicher Demokratiemodelle.
 
Konzept Kompetitiv  Plebiszitär Republikanisch Partizipatorisch Pluralistisch
Diskussion D1-D5, D7-D8  D12  - -
Information - - -
Wahlen -
Abstimmen A3, (A2*)  - A3, (A2*)  - A3, (A2*)
Politische Aktivität - - - - -

  Bemerkung:
  E-Abstimmungen werden im kompetitiven Modell nur von Politikern eingesetzt.
  E-Abstimmungen werden im republikanischen Modell nur von Politikern eingesetzt.
  E-Abstimmungen werden im pluralistischen Modell nur von Politikern und in den jeweiligen Interessengruppen eingesetzt.
 

5.9.3 Implementierung

Im folgenden werden eine Reihe von Institutionen (bzw. Instrumente) dargestellt, die von den jeweiligen Theorien implementiert werden können. Existieren unterschiedliche Praktiken bei ihrer Anwendung (in einem bestimmten Modell), dann werden diese Unterschiede explizit (in Form einer Tabelle) angeführt.

5.9.3.1 E-Parlament

Das Potential des E-Wahlsystems kann gleichfalls von Politikern zur Etablierung eines elektronischen Parlamentes genützt werden (Grossman, 1995), das den Abgeordneten erlaubt, Parlamentsabstimmungen und Debatten von zu Hause aus durchzuführen.

„For example, some legislatures (e.g. the Parliament of Sweden and Shetland Island Council) already make extensive use of video conferencing to reduce the burden of travel between remote constituencies” (Hirst/Norton, 1998, S. 46).

Seit der Etablierung der parlamentarischen Demokratie mußten die Abgeordneten in regelmäßigen Abständen zu einer zentralen Örtlichkeit reisen, um ihre Funktion ausüben zu können. Diese neue Form der elektronischen Wahl wird auch als "Remote E-Voting" bezeichnet, bei der es um Veränderungen der Geschäftsordnungen der Parlamente geht. Der Einsatz der IKT bietet neue Nutzungsmöglichkeiten für die Parlamentarier. Wir unterscheiden grundlegend zwischen drei Realisierungsvarianten des E-Parlaments:

Solche Entwicklungen können aber mit der Geschäftsordnung in Konflikt geraten. So ist der Einsatz von Handys, Funkrufempfänger oder anderer Kommunikationsmittel zur Einbeziehung von Außenstehenden (in laufende parlamentarische Verhandlungen) un-zulässig (vgl. Hirst/Norton, 1998, S. 47).

"...the extent to which ´face-to-face´ contact can be replaced by telecommunications and whether this is desirable are questioned by many observers, who point to important ´spin-offs´ of the current system in keeping Ministers in touch with their backbenchers" (Hirst/Norton, 1998, S. 47).

Benützt ein Abgeordneter das virtuelle System, so ergibt dies eine Reduktion seiner jährlichen Fahrtkosten und einen Zeitgewinn für die Beschäftigung mit lokalen Problemen im eigenen Wahlkreis. Das E-Parlament bietet Abgeordneten neue Chancen, bürgernahe Kontakte aufzubauen, ihre Zugänglichkeit und Sensibilität für bürgerbewegende Themen zu erhöhen. Vor Ort haben lokale Medien und Bürger somit mehr Gelegenheiten zur Kontrolle der politischen Handlungen. Auch der nationale Lobbyisteneinfluß (z.B. bei der Gesetzgebung) würde zurückgehen, wenn der jeweilige Abgeordnete unter dem Druck der lokalen Öffentlichkeit steht. Statt nationalem Lobbyisteneinfluß entstünde eine lokale Lobby (typisch bei Senatoren in Amerika).

Informationssysteme verbessern gleichermaßen die Operationen der Legislative. Ein elektronisches Parlament wird effizient - die Repräsentanten können Verwaltungs- und Forschungsdienste zur Unterstützung der gesetzgebenden Gewalt und Verfassungsaufgaben anwenden. Jene Informationssysteme sollten

Das "Backbone" der erforderlichen Informationsinfrastruktur zur Unterstützung jener Dienste wird als parlamentarisches Netzwerk definiert, welches aus den nachstehenden Komponenten besteht: Externe Kommunikationsmöglichkeiten stellen ein besonderes Problem dar, da in der Bevölkerung signifikante Zugangsungleichheiten existieren und einige lokale Örtlichkeiten unerreichbar sind. Diese können aber durch Vernetzung Anschluß an das parlamentarische System finden.

Auch verfügt das elektronische Parlament über Kommunikationskanäle zu lokalen, regionalen und internationalen Parlamenten, supranationalen Organisationen, Bildungseinrichtungen, E-Massenmedien, etc. Damit die Legislative effektiv arbeitet, muß das E-Parlament mit existierenden Organisationen und deren Informationssystemen auf der operationellen und politischen Ebene verbunden werden. In diesem Sinne würde ein parlamentarisches Netzwerk einen zentralen Knoten eines nationalen Netzwerks staatlicher Informationssysteme darstellen, so daß Interaktionen für die gesamte Regierungssphäre der Nation möglich werden. Darauf aufbauend lassen sich funktionelle Schnittstellen und Informationskanäle zu ausländischen Regierungsinstitutionen sowie zu supranationalen Institutionen – z.B. elektronisches EU-Parlament - aufbauen. Die Öffnung des Parlamentes (durch IKT) erweitert den öffentlichen Zugang und die Interaktion auf unterschiedlichen Ebenen:

 Tabelle 5.6: Hauptunterschiede zwischen kompetitiven, republikanischen, plebiszitären, partizipatorischen und pluralistischen E-Demokratie bei Anwendung des E-Parlaments.
 
Kompetitiv  Republikanisch Plebiszitär Partizipatorisch Pluralistisch
Diskussion zwischen Politikern und Vertretern von
Interessengruppen

Nein

Zweitrangig 

Nein

Zweitrangig

Erstrangig 
Diskussion zwischen
Politikern und 
Bevölkerung
Vereinzelt
(unverbindlich)
Regelmäßig
(bindend/
unverbindlich)
Nein Regelmäßig
(bindend/unverbindlich) 
Vereinzelt
(unverbindlich) 
Teilnahme des Bürgers an parlamentarischen
Entscheidungsprozessen
Nein Ja  Ja Ja  Nein 
Vorgabe einer Agenda f. Parlamentarier durch Bevölkerung
mittels
Mehrheitsentscheid
Nein Nein Ja Ja Nein

Vorgabe einer Agenda f. Parlamentarier durch Bevölkerung
mittels Konsensbildung

Nein Ja Nein Ja Nein
Methode(n) zur Bestimmung der Volksvertreter Wahlen Wahlen Wahlen Zufallsverfahren,
Wahlen
Wahlen

Bemerkung: Es stellt sich die Frage, ob ein E-Parlament in der plebiszitären Variante überhaupt einen Sinn macht, da keine Diskussion zwischen Politikern und Bevölkerung stattfindet.

5.9.3.2 E-Wahl der Repräsentanten

Ein Anwendungsfeld für elektronische Wahlen stellen auch parteiinterne Wahlen, insbesondere die Auswahl der Führungsspitze durch deren Mitglieder (alle Demokratiemodelle) dar. Dies bedeutet für den Bürger eine größere Beteiligung an der Aufstellung der Kandidaten. Die parteiinterne E-Wahl ermöglicht den Mitgliedern, interne Entscheidungsprozesse von beliebigen Örtlichkeiten aus abzuhalten. Steht ein E-Wahlsystem einmal zur Verfügung, dann können die Spitzenkandidaten in einem von den Parteien definieren Rahmen vom Volk mitbestimmt werden. In der partizipatorischen E-Demokratie werden die Repräsentanten nach dem Zufallsprinzip durch Anwendung des E-Zufallswahlsystems bestimmt.

5.9.3.3 E-Versammlungen

E-Bürgerversammlungen (EBV), E-Stadtversammlungen (ESV) und E-Versammlungen (EV) gehören zu den komplexen Interaktionssystemen, da sie meistens unterschiedliche Anwendungen der IKT miteinander kombinieren. Diese verfügen über Qualitäten, welche die politische Kommunikation im Massenmedium Fernsehen nicht hat: Die EV ist ein öffentlicher Raum, der unter Anwendung mehrerer Dienste zur Diskussion, Information und auch zur Entscheidung über politische Themen dient. Dabei übernehmen die Bürger nicht nur ihre Rolle als Empfänger, sondern sie werden auch zu Sendern politischer Informationen und zu Entscheidungsträgern.

Eine physische EV zeichnet sich dadurch aus, daß eine Anzahl von Personen zu einem bestimmten politischen Zweck im Realraum zusammenkommt. Dagegen ist eine virtuelle EV dadurch gekennzeichnet, daß der öffentliche Raum ausschließlich als virtueller Prozeß ohne die physische Präsenz der politischen Subjekte bereitgestellt wird. Virtuelle EVen ermöglichen insbesondere Diskussionen über Probleme, die eine Lösung auf übergeordneten Ebenen erfordern. Organisationsprobleme wie Ortswahl und Terminwahl entfallen. Durch den kommunikativen Zusammenschluß von virtuellen und physischen EVen entstehen hybride EVen.

Komplexere EVen bestehen u.a. aus einer Mischung von Umfragen, Sendungen in E-Massenmedien, Konfliktlösungsstrategien, Konsenstechniken, Abstimmungen und Wahlen. Der Entscheidungsfindungsprozeß kann bei komplexen Formaten bis zur Konsensfindung viele Interaktionsphasen enthalten und mithin einen Zeitrahmen von mehr als 12 Monaten überschreiten. Erst die kommunikative Verschränkung und Verknüpfung computervermittelter Dienste mit Massenmedien (beispielsweise Kabel-TV, öffentliches Fernsehen) erzielt größere Reichweiten.

Im folgenden wird ein Kriterienkatalog zur Evaluation von EVen angegeben. Es ist wichtig zu betonen, daß diese Kriterien einen Idealtyp definieren. Bei einem experimentellen Modell müssen nicht alle Faktoren vorhanden sein, um zu bestimmen, ob eine EV erfolgreich war, und ob die Organisatoren des Projekts ihre Ziele erreicht haben.

Die Kriterien wurden aus den nachfolgenden Projekten gewonnen. Die ersten ESV-Experimente, die in Verbindung mit Entscheidungsprozessen standen, wurden unter Anwendung elektronischer Massenmedien in den frühen 70ern durchgeführt (Etzioni, 1972). Zu den wichtigsten Experimenten der letzten Jahrzehnte, die in den Vereinigten Staaten und Canada stattfanden und z.T. fortgesetzt werden, gehören beispielsweise „Alternatives for Washington“ (1974), „Berks County Community Television“ (1976), „Alaska Legislative Teleconference Network“ (1977), „Alaska Television Town Meeting“ (1980), „Choosing Our Future“ (1984-88), „PEN“ (1989), „Savannah Electronic Town Meeting“ (1990), „Oregon ETM“ (1993), „Houston Electronic Town Meeting“ (1994), „Reform Party of Canada ETM: Physician Assisted Suicide“ (1994), „United We Stand America ETH“ (1994-95), „Community Design Exchange/Sustainable Racine“ (1997-1999), „American Discuss Social Security“ (1998-99).

Damit eine ESV die erwünschten demokratischen Effekte aufweist, sollten nach Ansicht von Christa Slaton die nachstehenden Komponenten im Design integriert werden:

"Components – What are the elements of the ETM that are necessary to make them work as intended?

Kompetitive EVen
Es ist davon auszugehen, daß auch Politiker elektronische Konferenzen und Versammlungen über Rechnernetzwerke zur Deliberation (Meinungs- und Faktenaustausch) einsetzen werden. Bereits jetzt bedienen sich transnationale Unternehmungen EVen (vgl. z.B. Ruland, 1993). Videokonferenzen werden vereinzelt in einigen europäischen Regierungsorganisationen eingesetzt (vgl. Hirst/Norton, 1998). EVen werden in der kompetitiven E-Demokratie nicht angewendet, um die Bevölkerung in den politischen Prozeß zu integrieren. Das ist ein entscheidender Unterschied zur republikanischen und partizipatorischen E-Demokratie.

Im kompetitiven Demokratiemodell können Politiker die EVen nutzen, um direkte Diskussionen und Verhandlungen zu führen und dabei keine Zeit und Kosten für Reisen und Flüge investieren zu müssen. Zusätzlich können intensivere Kommunikationsbeziehungen mit entfernten Orten eingegangen werden, ohne die physischen Anstrengungen langer Reisen in Kauf zu nehmen. Dadurch würden die Politiker mehr Zeit für familiäre Aktivitäten zur Verfügung haben. Die durch lange Reisen ausgelösten Strapazen entfallen.

Geheime EVen unter Repräsentanten
Dabei muß es möglich sein, Themen in E-Konferenzen vertraulich zu behandeln. Es gibt zahlreiche Fälle, wo im Rahmen von Konferenzen vertrauliche Informationen ausgetauscht wurden, die anschließend in der Presse erschienen. Infolgedessen muß wegen der Geheimhaltung auch der Vertraulichkeitsaspekt berücksichtigt werden. Nach Ende der Diskussionen können die einzelnen Positionen durch eine E-Abstimmung abgeklärt werden.

Zur Transmission von E-Konferenzen sind zumeist aus Qualitätsgründen Kanäle mit einer Transmissionsrate von 0.5 bis 2 Mbit/s erforderlich, wobei Audio- und Videosignale digitalisiert werden. Die Ver- und Entschlüsselung erfolgt im Vollduplexverkehr, also in beiden Richtungen gleichzeitig mit einer Rate von mindestens 0.5 bis 2 Mbit/s. Die zukünftigen Transmissionsraten sollen sogar 140 Mbit/s für hochauflösbare Videoübertragungen erreichen (Ruland, 1993) und ggf. mehrere gesicherte Videokanäle garantieren. Auch besteht die Möglichkeit, nicht-kryptographische Mechanismen wie Lichtwellenleiter einzusetzen. Auf die Authentifikation der Kommunikationspartner kann bei visuellen Signalen verzichtet werden. Zur Gewährleistung der vertraulichen Kommunikation sind einerseits eine Blackbox oder andererseits anwendungsorientierte Kryptoprotokolle einsetzbar. Sicherheitsmodule, die einen 0.5 bis 2Mbit/s-Datenstrom synchron und transparent ver- bzw. entschlüsseln, lassen sich in die Leitung zwischen Video/Audio-Multiplexer und Netzabschlußgerät schalten.

EVen in Wahlkampfzeiten
Der Einsatz der EV-Systeme während des Wahlkampfes dient der Abklärung diverser Standpunkte einzelner Kandidaten/Parteien. Damit wird das Ziel verfolgt, politisches Interesse und Wahlbeteiligung zu steigern (Becker, 1993a). Dabei können E-Umfragen eingesetzt werden, um die Akzeptanz hinsichtlich der Problemlösungen, Themen und der getroffenen Entscheidungen zu messen - E-Umfragen haben die Funktion eines Stimmungsbarometers. Auch ist das Ausloten bisher unentdeckter Themenfelder durchführbar (Becker, 1993a).

pluralistische EVen

EV als gemeinsamer Kommunikationsraum für Interessengruppen
Eine pluralistische EV, die einen gemeinsamen Kommunikationsraum realisiert, wird derart organisiert, daß daran Vertreter von Gruppen beteiligt sind, die in ihrem Bereich und zur Vertretung ihrer Interessen das erforderliche Fachwissen und den Sachverstand haben. Mit Sachverstand ist hier Praxiserfahrung gemeint. Diese Personenmenge, die u.a. aus Politikern, Wissenschaftlern und Vertretern von Interessengruppen besteht, beginnt ein Streitgespräch. Ein mögliches Ziel der EV ist die Artikulierung neuer Probleme, welche die gesamte Gesellschaft oder einzelne Gruppen betreffen, sowie die Durchleuchtung von Themen mit hoher Priorität, um ggf. durch einen Lernprozeß Lösungsmöglichkeiten auszuarbeiten.

Weitere mögliche Anwendungsfelder für pluralistische EVen sind u.a.:

republikanische EVen
ESVen und bewußt nicht elektronische Abstimmungen stehen im Zentrum einer der bis heute umfassendsten Konzepte republikanischer E-Demokratie, nämlich die aus einem Forschungsprojekt der Havard University hervorgegangene Studie "The Electronic Commonwealth" von Abramson, Arterton und Orren. Anstelle des "Quick Fix" der elektronischen Plebiszite (dies betrifft auch die Anwendung von E-Abstimmungen in ESVen), den die Theoretiker aus normativen Gründen gegen die partizipatorische und plebiszitäre E-Demokratie ablehnen, bevorzugen sie ESVen, da diese ihrer Ansicht nach eher einem republikanischen bzw. kommunitaristischen Ideal entsprechen. In den republikanischen ESVen stehen die Dimensionen Information, Diskussion, Wahlen sowie die Konsensfindung im Vordergrund (Abramson/Arterton/Orren, 1988, Slaton, 1998). Die Hauptakteure republikanischer EVen sind Bürger und Politiker. Interessengruppen treten in den Hintergrund. Ziele der republikanischen ESVen sind u.a. Entwicklung von Gemeinsinn, Entfaltung der demokratischen Rechte, Verbreiterung des politischen Prozesses, Verbesserung der politischen Ergebnisse (Slaton, 1998, S. 329).

"If the poll symbolizes the plebiscitarian theory of participation, the town meeting symbolizes the communitarian conception. The endeavor is to use the new technologies to overcome the difficulty of practicing town meeting in an area as large as the nation-state" (Abramson/Arterton/Orren, 1988, S. 166).

Republikanische ESVen könnten nach der Ansicht von Arterton, Abramson und Orren folgende Funktionen besitzen (Arterton/Abramson/Orren, 1988, S. 277, S. 295):

Das ESV-System fördert im Gegensatz zu elektronischen Plebisziten eine Verlangsamung des politischen Prozesses, und ermöglicht mehr Bürger in Diskussionen, Dialogen, Debatten, Versammlungen zu integrieren.

partizipatorische EVen
Im partizipatorischen Konzept verbindet sich der Wunsch nach mehr direkter Demokratie innerhalb des politischen Systems und die Absicht, die ESVen für diese Zwecke nutzbar zu machen. Im Unterschied zum republikanischen Modell wird neben den Dimensionen politischer Beteiligung, Information, Diskussion, Wahlen und politische Aktivität auch das Abstimmen berücksichtigt.

"The citizens who participate are the decision-makers. The citizens debate among themselves. The person leading the meetings serves merely as a moderator. These town meetings conclude with a citizen vote and the majority vote becomes the law of the town" (Becker, 1993a, S. 15).

"Ever since the first authentic experiment on Electronic Town Meetings (The Minerva Project conducted by Amitai Etzioni in the early 1970s), each new one has tried to use one or several electronic media to enhance discussion and to empower citizens to arrive at a decision by voting on it. Thus, it is fair and accurate to define ETMs by having these essential qualities: (a) citizens vote on an issue after (b) information and discussion usually facilitated by electronic means" (Becker, 1999, S. 1).

                                                                                 Tabelle 5.7: Hauptunterschiede zwischen kompetitiven, republikanischen, partizipatorischen und
                                                                                                       pluralistischen E-Demokratie bei  Anwendung von EVen, ESVen und EBVen.
 

  Kompetitiv  Republikanisch Partizipatorisch Pluralistisch
Diskussion zwischen 
Interessengruppen
und Politikern
Nein  Zweitrangig  Zweitrangig  Erstrangig
Diskussion zwischen
Politikern und 
Bürgern
Vereinzelt
(EVen primär für den Wahlkampf)
Regelmäßig Regelmäßig  Vereinzelt 
Agenda-Setting durch
Volk mittels E-Abstimmung
Nein Nein  Ja  Nein 
Agenda-Setting durch
Volk mittels 
Konsens
Nein Ja Ja Nein
Einfluß von ESVen (mit Bevölkerung)
auf politischen Prozeß
Nein Möglich Möglich Nein
Kollektiv bindende 
Mehrheitsentscheide durch das Volk
in ESVen und EBVen
Nein Nein Ja Nein 

Bemerkung: Die plebiszitäre E-Demokratie setzt keine EVen ein, da keine Diskussion stattfindet.
 

5.9.3.4 E-Kommunikationsbaum (Communication Tree)

Ein Kommunikationsbaum (Communication Tree) ist eine hierarchische Gliederung von Knoten, die miteinander kommunizierende Prozesse darstellen. Jeder Knoten (außer der Wurzel) besitzt genau einen Knoten, der sich unmittelbar über ihm befindet und als sein direkter Vorgänger bezeichnet wird. Die Knoten unmittelbar unter einem Knoten werden als seine direkten Nachfolger genannt. Knoten ohne Nachfolger werden als Blätter bezeichnet. Damit läßt sich ein hierarchisches Kommunikationssystem zum Zweck der Information, Diskussion und Entscheidungsfindung realisieren.

Der Kommunikationsbaum ist nach Etzioni eine Institution der partizipatorischen und republikanischen E-Demokratie (vgl. Etzioni/Laudon/Lipson, 1975).

Theoretisch kann der Kommunikationsbaum gemäß der pluralistischen E-Demokratie von einer Interessengruppe zur Entscheidungsfindung (in der betreffenden Organisation) eingesetzt werden. Auch wäre es denkbar, daß eine Partei das Verfahren für ihre eigene interne Entscheidungsfindung anwendet (kompetitive E-Demokratie). Diese Möglichkeiten werden hier aber nicht betrachtet.

Republikanischer E-Kommunikationsbaum
Etzioni konzipierte und testete den Kommunikationsbaum "Minerva" (Multiple Input Network for Evaluating Reactions, Votes and Attitutes (MK); Minerva bezeichnet überdies den Namen seiner verstorbenen Frau sowie die römische Göttin der politischen Weisheit) bereits in den frühen siebziger Jahren, der für Entscheidungen bei einer Teilnehmerzahl von wenigen hundert Individuen bis zu hunderten Millionen eingesetzt werden kann (Etzioni, 1972, Etzioni/Laudon/Lipson, 1975, Etzioni, 1992, Etzioni, 1997). Das Minerva-Verfahren wird im politischen Prozeß primär in der Phase der Entscheidungsfindung (Agenda-Setting, Sachthemen) eingesetzt.

Kritik an Etzioni: „Etzioni's claim that the new media can enable "millions of people [to] enter into dialogue with each other and their representatives" sounds absurd to Bryan and McClaughry: "A dialogue of millions?" they ask, "it would produce a din, not a democracy." [...]“ (London, 1994, S. 11).

Minerva basiert auf der soziologischen Prämisse, daß eine Differenzierung politischer Diskussionen auf mehreren Ebenen effektive Konsense hervorbringen kann. Damit eine dialoggestützte Politik bei Großgruppen in der Praxis funktioniert, setzt das MK-Verfahren auf mehrere Repräsentationsebenen. Nach vorherrschender und seit Edmund Burke bekannter Prämisse benötigt eine große Gruppe anstelle der direkten Repräsentation mindestens zwei oder sogar mehrere Repräsentationsebenen, um eine konsensorientierte Politik ausarbeiten zu können (Etzioni, 1992, S. 35).

"History has proved that large groups are unable to agree on policies by means of the kind of dialogue possible in a town meeting, where fewer than two thousand people tend to be involved. In a layered system the voters grant their elected representatives "mandates," a kind of generalized guidance that reflects what the voters seek" (Etzioni, 1992, S. 35).

Der Konsensprozeß beginnt mit der Einteilung der Teilnehmer in Kleingruppen gleicher Größe (z.B. N=15), damit eine effektive ESV-Diskussion erzielt werden kann. Nachdem die Diskussionszeit abgelaufen ist, bestimmt jede Gruppe durch eine Wahlentscheidung ihren Repräsentanten, der in die zweite höhere Diskussionsebene eintritt. Beim abgestuften MK-System übertragen die Wähler ihren gewählten Repräsentanten ein Mandat, in dem sich der Wille der Gruppe ausdrückt. Die Gruppen der untersten Ebene können zudem ihren Repräsentanten Handlungsanleitungen, Prioritäten (z.B. für Agenda), Wünsche und Richtungen vorgeben, die auf höherer Ebene detaillierter und spezifischer bearbeitet und ausgearbeitet werden. Auf der zweiten Ebene formieren sich wieder gleich große Kleingruppen. Diese bestimmen wiederum ihre Repräsentanten der nächsten Ebene. Der Konsensprozeß endet an der Spitze des Kommunikationsbaumes. In der republikanischen E-Demokratie wird versucht, auf jeder Ebene einen Konsens zu erzielen. Die Reduktion der Teilnehmer nimmt den Verlauf mathematischer Logarithmuskurven, so daß auch Millionen Teilnehmer im Cyberspace nach wenigen Ebenen der Diskussion auf eine Konsensentscheidungsgruppe reduziert werden können (z.B. Österreich: 8 Millionen Teilnehmer, Gruppengröße N=15 Personen, 6 Ebenen. Welt: 8 Milliarden Teilnehmer, N=20 Personen, 8 Ebenen).

"The structure of the MINERVA Tree is similar to the organization of party politics prior to a national election when issues and candidates are first debated in local political clubs, then discussed in state-wide conventions, and then voted upon in primaries, whose results in turn affect national party conventions. The national elections constitute the final ratification of the process. The MINERVA Communication Tree provides for an easier-to-operate, much more encompassing (in terms of number of potential participants and explicit mechanism for dialogue and position-formulation)" (Etzioni/Laudon/Lipson, 1975, S. 65).

Damit MK in der Praxis zufriedenstellend funktioniert, müssen die Kleingruppen ihren Repräsentanten im Rahmen des erteilten Mandates erlauben, auf der höheren Ebene in einen flexiblen Verhandlungsprozeß des Gebens und Nehmens einzutreten. Sonst käme es zu keinen politischen Beschlüssen, die von anderen Repräsentanten unterstützt werden. Falls die unterschiedlichen Mandate (oder die vertretenen Alternativen) keine Gemeinsamkeiten und Überlappungen aufweisen, kann die Konsensfindung scheitern. Dabei kann auch ein Widerspruch zum erteilten Mandat hervorgehen. Bei mehreren Ebenen ist entweder das Mandat sehr flexibel, dann ist es wahrscheinlich, daß das Ergebnis auf den oberen Ebenen nichts mehr mit dem Wunsch auf mindestens einer unteren Ebene zu tun hat, oder es ist relativ festgelegt, dann kann der Konsens auf höherer Ebene scheitern. Solange eine kritische Anzahl divergierender Kleingruppen keine Zugeständnisse macht und nicht von ihren festen Positionen in Richtung Konvergenz gehen will, resultiert entweder (1) eine Pattsituation oder (2) einige Repräsentanten der Spitze verlassen den Rahmens ihres Mandates. In beiden Situationen resultiert eine mangelhafte öffentliche Unterstützung und die Entfremdungsgefahr wächst.

Abbildung 5.3: Montage einer Minerva-EV
 

Partizipatorischer E-Kommunikationsbaum
Die aus diesem Minerva-Prozeß hervorgehende Entscheidung wird gemäß dem Mehrheitsprinzip der partizipatorischen E-Demokratie durch eine E-Abstimmung
aller Mitwirkenden ratifiziert. Das ist ein Hauptunterschied zur republikanischen E-Demokratie. Die Entscheidung (auf jeder Ebene des Kommunikationsbaumes) kann hier gemäß der Theorie entweder auf dem Mehrheitsprinzip oder auf dem Konsensprinzip beruhen (Vereinbarung über Entscheidungsregel vor Beginn der Entscheidung).

Auch können die Repräsentanten gemäß der partizipatorischen E-Demokratie nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden: Die illusionäre Kontrolle, die der Bürger durch die Wahl von Volksvertretern ausübt, muß nach Burnheims Ansicht durch die reale Chance ersetzt werden, selbst zum aktiven Teilnehmer an der Ausarbeitung politischer Ideen gelost zu werden (Burnheim, 1989, S. 27). Die Zufallswahl wirkt so, daß jeder Teilnehmer die gleiche Chance hat, ausgewählt zu werden. Politischen Parteien wird damit die Möglichkeit genommen, durch Empfehlung bestimmter Kandidaten (nach entsprechender Mobilisierung ihrer Mitglieder) deren Auswahlwahrscheinlichkeit zu erhöhen. Auch können die Teilnehmer am MK-Verfahren als repräsentative Stichprobe bestimmt werden.

Der Kommunikationsbaum kann Etzioni zufolge auch eine Vermittlung nach unten über einen notwendigen Kompromiß unterstützen, um ggf. eine Mehrheit für die Entscheidung der Spitze zu gewinnen (Etzioni/Laudon/ Lipson, 1975).

Die abschließende elektronische Ratifizierung durch alle Beteiligten dient in der partizipatorischen E-Demokratie als Sicherheitsinstrument, um zu gewährleisten, daß

„The consensus arising from this communication tree can then be put, for final ratification, to a vote of all participants – first, to ensure that the process of scaling the tree did not distort the lower level members´ views, and second, to act as a restraint on the higher level representatives“ (Etzioni/Laudon/Lipson, 1975, S. 65).

Der US-Wissenschaftler Billy Vaughn Koen unternahm weitere Entwicklungen unter der Prämisse des Mehrheitsprinzips und des Konsensprinzips durch den Einsatz eines Kommunikationsbaumes (Koen, 1997). Sein EV-System - welches er als ETH (Electronic Town Hall) bezeichnet - basiert auf der Methode "Nominal Group Technique" (NGT).

Diese NGT-Methode wird im folgenden anhand des Agenda-Settings illustriert. Die Bevölkerung definiert dabei eine Themenrangfolge. Jede Kleingruppe diskutiert über ihre TZ wichtigsten Themen (z.B. TZ=10) und stimmt über die lokale Reihenfolge der Themen ab. Diese Gruppe kann sich beispielsweise im Wohnzimmer eines Gruppenmitgliedes treffen, um diese Aufgaben zu erfüllen. Die einzelnen lokalen Prioritätslisten müssen durch den jeweiligen Vorgänger-Knoten verknüpft werden. Diese Prozedur wird im folgenden demonstriert.

Abbildung 5.4: Vereinigung der lokalen Prioritäten eines Teilbaumes.

Die NGT-Methode beginnt damit, daß der Vorgänger-Knoten x die erste Kleingruppe  auffordert, ihr Thema der Tagesordnung mit höchster Priorität bekanntzugeben. Die Einheiten zeichnen dieses Thema  in einer gemeinsamen Liste auf. Dann überträgt die Einheit ihr Thema  mit höchster Priorität, welches noch nicht auf der gemeinsamen Liste steht. Dieser Prozeß wird schrittweise fortgesetzt, bis eine fixe Obergrenze OG von angenommenen Themen (z.B. OG=10) erreicht wurde.

Die Mitglieder der betreffenden Gruppen entscheiden dann die Rangordnung der Themen per E-Abstimmung. Nach der Auswertung der Stimmen wird das Resultat dieses Teilbaumes publiziert. Die Einheiten aller weiteren Teilbäume führen parallel analoge Protokollschritte aus. Die Einheiten der Teilbäume vereinigen wiederum ihre Teillisten nach dem NGT-Schema. Über die Prioritäten der endgültigen Liste können alle Teilnehmer nochmals eine Abstimmung abhalten.

"Obviously the time needed for a specific merging operation depends on the number of individual sites that must be merged, but since much of the work is done in parallel, the time undoubtedly scales less than linearly with the number of participants" (Koen, 1997, S. 4).

5.9.3.5 E-Nachbarschaftsversammlungen (ENV)

Die Nachbarschaftsversammlung ist eine Institution der republikanischen und der partizipatorischen E-Demokratie. Zunächst ist bei der Gemeinschaftsbildung an die Architektur der öffentlichen Räume zu denken. Öffentliche Plätze sind zugleich Orte, an denen sich die Menschen zu ihrem Vergnügen und in Freundschaft begegnen. Diskurs und Handeln haben dort ebenso einen Platz wie nüchterne Entscheidungen. Nachbarschaftsversammlungen brauchen Räume, Häuser, elektronische Wahlcafés, die ihren Auftrag fördern, nämlich Fremde zu versammeln und sie zu Nachbarn zu machen. Nachbarschaftsversammlungen können praktisch in allen Phasen des politischen Prozesses abgehalten werden, insbesondere bei der Diskussion (Konfrontation). Die Teilnahme an kommunitären Handlungen ist ohne IKT auf Gemeindeebene zu realisieren, da dort eine Vielzahl von Beteiligungsmöglichkeiten bereitgestellt werden können, um durch kommunale Projekte eine demokratische Basis zu fördern. Grundbaustein kommunitärer Gemeinschaften ist ein System kommunaler Bürgerbeteiligung, weil politisches Bewußtsein in der Nachbarschaft beginnt. Ausgangspunkt ist die Nachbarschaftsversammlung, in der die Bürger einer Kommune (wahrscheinlich 5.000, nicht mehr als 25.000) regelmäßig und in kurzen Abständen zusammenkommen (Basisgruppen), um zunächst über öffentliche Angelegenheiten zu beraten und von den Repräsentanten Rechenschaftspflicht einzufordern, später selbst Entscheidungen zu treffen und vor allem die politische Agenda zu bestimmen. Das gilt für Fragen auf allen Ebenen des Regierens.

Die Versammlung kann in der partizipatorischen E-Demokratie ein Ausgangspunkt von direkten E-Initiativen und E-Referenden sein. Die Leitung der Versammlung besteht aus Protokollführer, Vorsitzendem und Vermittler. Der Vermittler hat kein Stimmrecht und übt die Funktion eines Richters aus, der die Diskussionen moderiert und für die Einhaltung der festgelegten Verfahrensregeln sorgt. Dieses Amt sollte Barber zufolge ein gut ausgebildeter Staatsbeamter ausüben (Barber, 1994, S. 245).

Um die Zersplitterung und die Isolierung der Nachbarschaftsversammlungen zu verhindern, müssen diese mit IKT ausgestattet und miteinander vernetzt werden. Die Fortsetzung des Dialogs auf höherer Ebene kann durch (1) gewählte oder (2) durch Losentscheid bestimmte Mitglieder erfolgen (partizipatorisch).
 

Abbildung 5.5: Sprechen in der E-Nachbarschaftsversammlung (Montage).

Auf die Frage, ob ein solches Projekt an mangelndem öffentlichen Interesse scheitern muß, da die privaten Interessen der Wahrnehmung öffentlicher Rechte entgegenstehen, antwortet Barber, daß die Menschen nur dort die Beteiligung verweigern, wo Politik nicht zählt. Die Bürger sind apathisch, weil sie machtlos sind und nicht machtlos, weil sie apathisch sind (Barber, 1994, S. 246). Es gibt für Barber keinen Beleg dafür, daß eine Bevölkerung, welche Macht erhält, sich weigerte zu partizipieren (vgl. Barber, 1994, S. 246).
 

Tabelle 5.8: Hauptunterschiede zwischen republikanischen und partizipatorischen E-Demokratie bei Anwendung von ENVen.
 
  Republikanisch Partizipatorisch
Diskussion zwischen
Politikern und 
Bürgern
Regelmäßig Regelmäßig 
Agenda-Setting durch
Volk mittels E-Abstimmung
Nein Ja 
Agenda-Setting durch
Volk mittels 
Konsens
Ja Ja
Einfluß von ENVen (mit Bevölkerung)
auf politischen Prozeß
Möglich Möglich
Konsensentscheide
durch das Volk
Ja Ja
Methode(n) zur Bestimmung der Volksvertreter Wahlen Zufallsprinzip,
Wahlen
Direkte E-Initiative
initiieren 
Nein Ja
Kollektiv bindende
Mehrheitsentscheide durch das Volk
in ENVen
Nein Ja

Kritik
Allerdings können Nachbarschaftsversammlungen auch negative Folgen haben. Slaton führt als Beispiel eine Untersuchung über physische Nachbarschaftsversammlungen in Vermont an (Mansbridge, 1983). Bürger gaben folgende Gründe an, weshalb sie an der Versammlung entweder nicht teilnahmen oder sich nicht zu Wort meldeten: „(1) feeling inarticulate and lacking the verbal and legal skills of others; (2) fearing ridicule if they make a mistake; (3) being bullied by those with more power (for example, a lawyer telling a farmer to shut up or he would have a lawsuit filed against him); (4) feeling the real decisions are made in private caucuses outside the assembly; (5) fearing personal criticism if disagreement is expressed; (6) fearing that enemies would be made; (7) experiencing headaches of other physical symptoms due to the stress of participation; (8) disliking the constant arguing; (9) being ignored if they bring up matters others do not want to discuss“ (Slaton 1992, S. 199). Nach der angesprochenen Studie gab es Anhaltspunkte, daß die Befürchtungen reale Grundlagen haben.
 

5.9.3.6 E-Bürgerforen

Das Konzept des offenen Forums (Macpherson, 1997) läßt sich über E-Massenmedien, Internet sowie über persönliche Kontakte bekannt machen und zielt darauf ab, ein umfassendes System der Bürgerbeteiligung zu realisieren, welches alle Felder des politischen Diskurses abdeckt. Die plebiszitäre E-Demokratie setzt als einzige Theorie keine Foren ein.

Ein offenes Forum ist ein Kommunikationsraum, der die Anwendungen der IKT miteinander kombiniert und traditionelle Medien zur Erreichung einer größeren Öffentlichkeit integriert. In der Anfangsphase werden wichtige soziale Themen identifiziert. Dabei kommt es zur Organisation eines Forenbaumes, der aus Wurzelthemen (T, PT) besteht, die wiederum in Subthemen (S) zu differenzieren sind. T bezeichnet die Themen mit durchschnittlicher und PT mit hoher Priorität der Wurzel. Ein Subthema kann auf weitere Ebenen in beliebige Unterthemen aufgeteilt werden. Das offene Forum sammelt Bürger-Inputs und identifiziert verallgemeinerungsfähige Interessen, die zu einem politischen Entscheidungsproblem avancieren können.


 

Abbildung 5.6: Organisation des Forenbaums.

Dieses Interaktionssystem ermöglicht

Zur Identifikation von Prioritätsthemen lassen sich E-Umfragen durchführen, die auf das Gebiet eines Bezirks, Stadt, Region, Landes bezogen werden können. Nach dem Aufbau des Interaktionssystems dient das Forum auch als Ort für Ankündigungen, zum Vorschlagen und Diskutieren neuer Themen, zur Erläuterung von allgemeinen und feldübergreifenden Gebieten. Jedes Forum kann themenspezifisch durch Vernetzung über die Struktur und Funktionsweise der korrespondierenden politischen Institution (Parlament, Verwaltung, etc.) sowie durch Bürgerinformationsdienste mit Hintergrunds- und Bildungsmaterialien, Experteninformationen usw. bedient werden. Das offene Forum entwickelt sich zum virtuellen Ort, der es den Bürgern ermöglicht, neue Themen einzubringen, Berichte aus dem Arbeitsprozeß anderer Foren zu rezipieren und ggf. dringende Angelegenheiten einzubringen. Um relevante Entscheidungen durchzuführen, kommt das E-Wahlsystem zum Einsatz. Wenn im Forum eine Debatte in eine bestimmte Richtung weist, ist es erforderlich, weiterführende Schlußfolgerungen zu entwickeln und zu publizieren. Auch müssen Fragen an Abgeordnete und Parlamente adressierbar sein und die Behörden haben relevante Informationen über Rechnernetze freizugeben. Für diejenigen Themen, welche (a) die Bürgerschaft per E-Wahl selektiert (partizipatorisch) oder (b) welche hohe Priorität (HP) aufweisen, können ENVen, ESVen und Bürger-Panels organisiert werden, um einen Entscheidungsprozeß von unten auszulösen.

"Politische Foren im Internet schaffen neue Ebenen, die konstruktiv zur Positionsfindung oder Problemlösung genutzt werden können. Dies wird in den Versuchen, eigene, moderierte news-groups im WWW anzubieten, deutlich und ließe sich über eine Erhöhung der Anzahl weiter ausbauen" (Neymanns, 1996, S. 83).

Da davon auszugehen ist, daß für eine Vielzahl von Gemeinden solche Foren erforderlich sind, wird eine eindeutige Forenbezeichnung benötigt, um diese geographisch zuordnen zu können. Zur Erreichung einer internationalen Vernetzung der Bürgerforen gewinnt ein globales Verzeichnis mit Übersetzungen der einzelnen Forennamen und eine einheitliche Namensgebung strategische Bedeutung.

Tabelle 5.9: Hauptunterschiede zwischen kompetitiven, republikanischen, partizipatorischen und pluralistischen E-Demokratie bei Anwendung von Foren.
 
  Kompetitiv  Republikanisch Partizipatorisch Pluralistisch
Diskussion zwischen 
Interessengruppen
und Bürgern
Nein Zweitrangig  Zweitrangig  Erstrangig
Diskussion zwischen
Politikern und 
Bürgern
Vereinzelt
(unverbindlich) 
Regelmäßig
(bindend/unverbindlich)
Regelmäßig 
(bindend/unverbindlich)
Vereinzelt
(unverbindlich) 
Agenda-Setting durch
Volk mittels E-Abstimmung
Nein Nein Ja Nein
Agenda-Setting durch
Volk mittels 
Konsens
Nein Ja Ja Nein
Agenda-Setting durch
Interessengruppe(n)
Nein Möglich Möglich Ja
Wirkung auf polit.
Prozeß
Nein Möglich Möglich Nein 

5.9.3.7 E-Referenden und E-Initiativen

Im folgenden werden direktdemokratische Verfahren definiert, die in der Schweizer Demokratie (1.-5.) eingesetzt werden (nationale Ebene/Kantonsebene/Gemeindeebene) (Schmidt, 1995, S. 259). Diese Verfahren stellen eine mögliche Anwendung eines E-Wahlsystems in der plebiszitären und partizipatorischen E-Demokratie dar.

Zudem ist zu bemerken, daß das angestrebte Projekt einer Gesetzesinitiative auf der Bundesebene der Schweiz bisher nicht realisiert wurde. Doch stehen den schweizerischen Bürgern in den Kantonen und Gemeinden weitere direktdemokratische Instrumente offen. Auf Kantonsebene sind die direktdemokratischen Institutionen noch weiter ausgebaut als auf Bundesebene. Dort gibt es neben der Gesetzesinitiative auch ein Finanzreferendum. In der Mehrzahl der Kantone sind Ausgabenbeschlüsse der Regierungen, wenn sie einen bestimmten Betrag übersteigen, dem obligatorischen Referendum unterworfen (d.h. diese sind dem Volk automatisch zur direkten Abstimmung vorzulegen). In einigen Kantonen wurde auch ein fakultatives Finanzreferendum eingeführt, wodurch das Volk die Ausgabenbeschlüsse zur direkten Abstimmung bringen kann. Auch gibt es einen Volksentscheid über Steuervorlagen. Somit entscheiden die schweizerischen Bürger über viele Angelegenheiten der öffentlichen Infrastruktur, der öffentlich finanzierten Bauvorhaben, der Finanzierung von Schulen, Krankenhäusern und über weitere wichtige Angelegenheiten.

Tabelle 5.10: Hauptunterschiede zwischen partizipatorischen und plebiszitären E-Demokratie bei der Anwendung von bindenden E-Initiativen und E-Referenden.
 
  Partizipatorisch Plebiszitär
Diskussion Lange öffentliche Diskussion Praktisch keine öffentliche Diskussion 
Information Sachliche Information Sachliche Informationen möglich

Geschwindigkeit

o Langsame Entscheidungen

o Verzögerungsmechanismen
o viel Zeit zum Nachdenken

o Schnelle Entscheidungen

o eher geringe
   Verzögerungszeiten 

Fakultatives E-Referendum
Das fakultative E-Referendum hat die Eigenschaft eines Vetos. Gesetze, die vom Parlament verabschiedet wurden und allgemeinverbindliche Beschlüsse des Bundes (z.B. unbefristete Gesetze) können zur E-Abstimmung gebracht werden. Voraussetzung für die E-Abstimmung ist eine E-Initiative (E-Volksbegehren), die mindestens eine Anzahl von GRMIN an notwendigen digitalen Signaturen innerhalb einer Zeitspanne von ZGR Tagen erreicht. Durch das fakultative E-Referendum hat der Demos die Möglichkeit, gegen einen abgeschlossenen parlamentarischen Entscheidungsprozeß Schritte einzuleiten. Das Gesetz tritt nur dann in Kraft, wenn die Mehrheit der Bürger der Vorlage zustimmt. Dieses Sicherheitsventil dient der Bürgerschaft zur Verhinderung der Implementierung bereits entschiedener Projekte. Gesellschaftliche Gruppen, die dem Gesetzesvorhaben diametral gegenüberstehen, haben die Chance, mit einem fakultativen Referendum zu drohen. Infolgedessen können Gesetzgeber, Parlamentarier und Initiatoren in Diskussionen eintreten, damit ein Kompromiß verhandelt und das E-Referendum abgewendet wird. In diesem Fall entsteht eine temporäre (elektronische) Verhandlungsdemokratie, die wiederum Integrationsleistungen vollbringen kann. Der Output des politischen Systems wird letztlich durch dieses Instrument der Kontrolle des Volkes unterworfen.

E-Staatsvertragsreferendum
Das Vertragsreferendum ist eine Abstimmung über internationale Verträge mit unterschiedlicher rechtlicher Relevanz (Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit, zu supranationalen Gemeinschaften (wie EU), etc.). Das sind internationale Verträge, die

Obligatorisches E-Referendum
Dem obligatorischen Referendum unterstehen alle Verfassungsänderungen sowie bestimmte, sich nicht auf die Verfassung stützende allgemeinverbindliche dringliche Beschlüsse, d.h. notstandartige gesetzliche Regulierungen des Bundes mit befristeter Dauer (siehe z.B. Schweiz während der Wirtschaftskrise in den 30er Jahren). Solche dringlichen Beschlüsse werden nach einer fixen Zeitspanne, nachdem sie in Kraft getreten sind, wieder zur E-Abstimmung vorgelegt. Sie treten außer Kraft, wenn sie abgelehnt werden. Das Referendum verlangt die doppelte Mehrheit vom Volk und den Bundesländern.

E-Verfassungsinitiative
Die E-Verfassungsinitiative erlaubt eine Teilrevision (partielle Modifikation) der Verfassung. Vorbedingung ist wieder ein E-Volksbegehren, daß GR1MIN elektronische Signaturen erhält. Dadurch können Bürger die Aufhebung, Änderung, oder Neuschaffung eines Verfassungsartikels in Form eines ausformulierten Entwurfs oder einer allgemeinen Anregung verlangen. Wenn die notwendigen Unterschriften erzielt werden, diskutieren Parlament und Regierung über den Vorschlag zur Verfassungsänderung. Gegebenenfalls kann Regierung und Parlament einen Gegenvorschlag ausarbeiten, wenn dafür eine einfache Mehrheit im Parlament gefunden wird. Der Vorschlag (und ggf. der Gegenvorschlag) wird dem Volk zur Abstimmung vorgelegt.

Durch eine erfolgreiche E-Initiative können GR2MIN Stimmberechtigte auch die vollständige Revision der Verfassung verlangen. Befürwortet die Mehrheit der Bürger eine Totalrevision, dann haben die Repräsentanten und Experten diese Aufgabe durchzuführen.

Wird eine erfolgreiche allgemeine Anregung einer partiellen E-Verfassungsinitiative in das repräsentative System übertragen, so stimmen die Repräsentanten darüber ab. Wenn die Repräsentanten mit der Anregung einverstanden sind, dann arbeiten sie die Teilrevision im Sinne der Initiatoren aus. Stimmen die Repräsentanten der Anregung nicht zu, ist die Frage der Teilrevision durch eine direkte E-Abstimmung zu lösen. Eine Stimmenmehrheit erzwingt die Ausarbeitung der Vorlage durch die Repräsentanten. Diese benötigt wiederum die 2/3 Mehrheit des Volkes (in der Schweiz ist dafür nur die doppelte Mehrheit von Volk und Kantonen notwendig), um in Kraft zu treten. Gegebenenfalls sind also für die Form der Anregung zwei Abstimmungen nötig. Bei einer E-Initiative in Form eines ausgearbeiteten Entwurfes können folgende Schritte erfolgen:

E-Gesetzgebungsinitiative
Nachdem die Initiative eine fixe Anzahl von E-Signaturen erreicht hat, wird über den Gesetzesentwurf abgestimmt. Das Entscheidungssystem ermöglicht also die Durchführung eines direkten Gesetzgebungsprozesses (d.h. Aufhebung/Änderung/Neuschaffung eines Gesetzes). Individuen, Gruppen, Organisationen können im Rahmen von politischen Online-Diskussionen aktuelle Themen beraten und Initiativen vorbereiten. Ausgearbeitete E-Initiativen lassen sich aufgrund polydirektionaler Kommunikationsmöglichkeiten mit/ohne Unterstützung durch traditionelle Massenmedien auf nationaler Ebene in Sekundenbruchteilen verbreiten und den Bürger zur Unterschrift motivieren. Jede E-Initiative, die einen Schwellenwert von digitalen Signaturen überschritten hat, ist schließlich berechtigt, die Forderung als Input in das politische System zur weiterführenden Behandlung zu übertragen. Eine bestimmte Anzahl von Signaturen vermag unter bestimmten Bedingungen und nach ausreichender Deliberation (partizipatorisch) die Qualifikationsschwelle für ein E-Referendum zu erreichen. Die Gesetzgebung benötigt eine Mehrheit aller Bürger sowie die Zustimmung von drei Viertel der Bundesländer (trifft auf föderale Staaten zu).

Schutzmaßnahmen
Jeder Prozeß der direkten Demokratie sollte Schutzmaßnahmen beinhalten, um den potentiellen negativen Folgen von Mehrheitsentscheidungen entgegenzuwirken. Diese schließen die Erfüllung der nachstehenden Punkte ein:


5.9.3.8 Repräsentative Bürgerversammlungen

Der Nachteil repräsentativer Bürgerversammlungen liegt darin, daß nicht alle Bürger an Diskussionsprozessen partizipieren können. Sie werden hingegen vor negativen Auswirkungen großer Nachbarschaftsversammlungen geschützt.

Televote
Eine empirisch erprobte Technik für beratende Umfragen ist das vom amerikanischen Psychologen Vincent Campell erfundene Televote-Verfahren, das u.a. für folgende Bereiche eingesetzt werden kann:

"The purpose of the Televote Design was to create an innovative system of civic communication that could lead to the implementation of effective methods of citizen participation. Campell received a National Science Foundation grant in 1973 to provide a means for involving parents and students in the determination of public school policy in San Jose, California" (Slaton, 1992, S. 118).

Christa Slaton sieht die Möglichkeiten des Televoting primär in der partizipatorischen E-Demokratie (Dimensionen: Information, Diskussion, Abstimmung) (Slaton, 1992). Weiterentwicklungen und Experimente des Televote-Verfahrens wurden von den amerikanischen Politikwissenschaftlern Becker, Slaton und Chadwick ab dem Jahr 1978 vorgenommen. Drei Grundannahmen stehen beim Televote-System im Vordergrund:

"...we sought to obtain in-depth, thoughtful opinion from a more informed representative sample of the population that could serve as a useful guide for representatives who are inundated with pressures from well-organized, wealthy, and/or powerful special interests. Televote was seen as a useful means to communicate the views of citizenry (by way of scientific random sampling) to the representatives and to provide a clearer view of the entire range of citizen opinions than they receive from conventional polling techniques" (Slaton, 1992, S. 184).

Televote basiert auf einem Telephonwahlsystem und läuft folgendermaßen ab:

Die Kombination der E-Wahl mit anderen politischen Aktivitäten im Format ESVen führt die Teilnehmer an zusätzliche Informationsquellen, Diskussionen und Debatten heran. Dadurch wird eine Bildungsfunktion bereitgestellt.

Der Algorithmus bringt keine übereilten Entscheidungen hervor, da dem Wähler genügend Bedenkzeit zur Verfügung gestellt wird. Öffentliche Resonanz gewinnt der Ansatz auch durch Diskussionen in öffentlichen und privaten E-Massenmedien (Radio/Fernsehen), bei denen die Teilnehmer anrufen und Gespräche mit Außenstehenden führen können. Die E-Abstimmung beendet die Debatten. TV-Sendungen, welche die Diskussionen vermitteln, können durch Dokumentarspiele, Computer-Graphiken und Animation attraktiver gemacht werden. Der Einsatz von Prominenten trägt dazu bei, ein größeres Publikum zu erreichen. Werden die zu treffenden Entscheidungen innerhalb der Familie diskutiert, dann ist aufgrund eines erlernten partizipatorischen Verhaltens ein Entwickeln in Richtung eines demokratischen Verhaltens möglich.

In acht Jahren (1978-1985) haben Slaton und Becker 12 Forschungsprojekte durchgeführt bzw. beraten: Sieben staatliche Televoten in Hawaii, zwei Bezirks-Televoten auf Honolulu, ein Gemeinde-Televotum in Waimanalo (Hawaii), sowie Televoten als eine Hauptkomponente in elektronischen Stadtversammlungen auf der Bezirksebene in Honolulu und in Los Angeles sowie auf nationaler Ebene in Neuseeland. Bei jedem Projekt wurden verschiedene Hypothesen überprüft und eine breite Palette von Themen einbezogen. Zu den angenommenen Anwendungsfeldern für E-Wahlen gehörten Fragen der Staatsverfassung, öffentliches Agenda-Setting für zukünftige Televoten und Fragen der Legislative, des Staatshaushaltsplans, der Verkehrsplanung, Gesundheitsvorsorge, der nachhaltigen Zukunftsplanung und Bildungsinitiativen. Die repräsentativen Zufallsstichproben umfaßten 400-1000 Bürger. Die Erkenntnisse aus den Experimenten zur Demokratietransformation gingen in die 1995 gegründete "Electronic Town Meeting Company (ETMCo)" ein (Firmeninhaber Larry Greene).

Die Kritik von Arterton und Abramson (Arterton, 1987, Arterton/Abramson/Orren, 1988) an den Televote-Experimenten verkennt zwar die Tatsache, daß sich das Projekt weiterentwickelt und zahlreiche Kritikpunkte wie die Frage nach dem Setzen der Agenda aufgenommen und gelöst hat (Slaton, 1992), doch bleibt die Frage nach der Sicherstellung der Unabhängigkeit der Organisatoren offen. Televote ist kein sich selbstorganisierender Prozeß partizipationswilliger Bürger, sondern bleibt darauf angewiesen, von einer möglichst unabhängigen Institution durchgeführt zu werden. Allgemein können die Telewahlen von akademischen, kommerziellen, regierungs- oder bürgerkontrollierten Operationsbasen abgehalten werden.

Deliberative Umfrage
Fishkin entwickelte ein deliberatives Umfragesystem, um die Demokratie der Stadtversammlungen an die Erfordernisse des Nationalstaates anzupassen. Fishkin geht von der Prämisse aus, daß konventionelle Meinungsumfrageresultate sich zumeist aus Inputs von uninteressierten, inaktiven und uninformierten Bürgern zusammensetzen. Die Kombination von Meinungsumfragen und Massenmedien läßt sich auch als informelles direktdemokratisches Element interpretieren, das Meinungen schlecht informierter Bürger widerspiegelt. Die Meinungen gut informierter Bürger konnten bisher nur defizitär abgefragt werden. Zur Lösung des Problems fordert Fishkin die Anwendung einer deliberativen Umfrage. Dabei wird eine Gruppe aus der Menge der Wahlberechtigten nach dem Zufallsprinzip ausgewählt (repräsentative Stichprobe). Dadurch sind die Mitwirkungschancen für jeden Bürger gleichwahrscheinlich und auch den sozialen Unterschichten steht die Teilnahme offen. Die gewählte Gruppe versammelt sich an einem Ort, um politische Themen mit/ohne Politiker zu diskutieren. Vor dem Ende der deliberativen Umfrage wird eine Entscheidung in Form einer Umfrage bzw. Wahl gefällt. Außerdem sind Diskussionen über Massenmedien einem breitem Publikum vermittelbar. Dadurch läßt sich ein repräsentativer Mikrokosmos einer Nation aufzeichnen:

"It provides a statistical model of what the electorate would think if, hypothetically, all voters had the same opportunities that are offered to the sample in the deliberative poll" (Fishkin, 1991, S. 4).

Gegenwärtig erscheint die Deliberation aller Stimmbürger für Fishkin wegen der Organisationsproblematik unpraktikabel. Fishkin zitiert in der Auseinandersetzung mit der repräsentativen Demokratie eine Prognose von Robert Dahl (Dahl, 1989), wonach eine neue Polyarchieform (Polyarchie II) entsteht: Angesichts der Zunahme der Problemkomplexität gewinnen vermehrt Experten Einfluß auf den politischen Prozeß. Die durch den Wahlakt legitimierten Politiker treten aufgrund von Inkompetenz in den Hintergrund. Die Bedrohung für die Demokratie besteht darin, daß zunehmend Experten die Politik dominieren, wodurch die Vorstellung der Bürgersouveränität allmählich zielgerichtet zerstört wird. Um das Problem zu beheben, setzen Dahl und Fishkin zunächst nicht auf die Verstärkung direktdemokratischer Elemente, sondern auf gut informierte Bürgergruppen, die Input-Impulse in das politische System senden. Gerade die deliberative Umfrage bietet sich zur Lösung des Komplexitätsproblems an. Sie kann auf jede politische Frage sowie auf jeder Ebene des Regierens (lokal, regional, national, international) bei der Entscheidungsvorbereitung und beim Agenda-Setting dienen.

Der Algorithmus wird in der partizipatorischen E-Demokratie eingesetzt (Dimensionen: Information, Diskussion, Abstimmung) und läuft folgendermaßen ab:

Der Algorithmus verzichtet in seiner Standardvariante auf den Einsatz direkt-demokratischer Elemente, weil deliberative Umfragen keinen Entscheidungscharakter aufweisen. Die Rückkoppelung an das politische System erfolgt über E-Massenmedien, wodurch Rückwirkungen auf das Wahlverhalten möglich sind. Einigen konventionellen Umfragen, die auf das politischen System Druck ausübten, konnten etablierte Politiker bisher widersprechen, indem sie sich auf die unreflektierte Auswertung und die eigene Sachkompetenz beriefen. Deliberative Umfragen erschweren das Herstellen von Widerspruch, da sie von der Annahme ausgehen, eine qualifizierte Bürgermeinung unter der Bedingung Information und Diskussion darzustellen. Lokal begrenze deliberative Umfragen sind kostengünstiger, weil die Teilnehmer nicht große Distanzen zurücklegen müssen. Auch bindet das Verfahren die lokale Öffentlichkeit an den politischen Prozeß.

Wird die deliberative Umfrage in Form einer EV abgehalten, so müssen die Bürger ein E-Votum abgeben. Die Gruppengröße des Minipopulus sollte Robert Dahl zufolge etwa 1000 Personen betragen. Dahl fordert, daß ein Minipopulus eine statistisch repräsentative Diskussionsgruppe bildet (Dahl, 1989), die über ein spezifisches politisches Thema in einem Zeitraum von mehr als einem Jahr diskutiert. Wegen der langen Diskussionszeit (und aufgrund der möglichen Netzkommunikation) könnten die Teilnehmer ihr tägliches Leben ungehindert weiterführen. Das Minipopulus-Verfahren läßt sich mit den täglichen Verpflichtungen des Bürgers in Einklang bringen, so daß eine gleichmäßig aufgeteilte Deliberationszeit den Bürger nicht überfordert. Allerdings macht Dahl keine präzisen Angaben über die praktische Durchführung der elektronischen Interaktion.

"Dieses Verfahren kann also sowohl im Kontext von Wahlen als auch in jedem anderen politischen Entscheidungsprozeß – und zwar auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene Anwendung finden" (Fishkin, 1998, S. 352).

Die deliberative Umfrage ist in der Minimalvariante kein selbstorganisierender Prozeß aktiver Bürger, sondern eine Zufallauswahl, die gegebenenfalls aktive Bürger nicht in den Meinungsbildungsprozeß einbezieht. Demgegenüber besitzt der Algorithmus das Potential bei einer steigenden Bürgerzahl politisches Interesse zu mobilisieren. Von zentraler Bedeutung ist die Auswahl derjenigen Organisationen und Personen, die

Der kritische Faktor der deliberativen Umfrage bleibt der Agenda-Setting-Prozeß und die Auswahl der Experten, da letztere Informationen zur Verfügung stellen (Experten sind zumeist machtgebunden).

Dabei ist die Sicherstellung der Unabhängigkeit der Organisatoren bedeutsam, da sie aufbereitete Informationen in die Diskussion einbringen, somit die Wirklichkeitsebene, auf der sich Argumentation und Interpretation vollziehen, beeinflussen können. Ebenso sollte eine Überwachung des Agenda-Setting-Prozesses sowie die Verifizierung der Neutralität der Informationen durch unabhängige Dritte erfolgen. Fishkin analysierte den politischen Erziehungscharakter einiger Pilotprojekte der deliberativen Umfrage (Fishkin, 1998).

"Wir können zeigen, daß die Teilnehmer an einer derartigen Umfrage besser informiert sind über die jeweiligen Fragen (wie durch verschiedenen Informations-Items gemessen werden kann), daß sie zu einer konsequenteren Haltung finden, und Übereinstimmung zwischen ihren Werten und ihren politischen Präferenzen besteht" (Fishkin, 1998, S. 348).

Fishkin bezeichnet seine deliberative Umfrage als eine Methode, um Macht zurück zur Bürgerschaft zu bringen, unter der Bedingung, daß Bürger über ihre Machtausübung nachdenken. Kritisch für die computervermittelte Deliberation sind soziale Kontrollen, die rationalen Diskurs sicherstellen. In der konventionellen Face-to-Face-Deliberation ist ein Zwang zur Rechtfertigung gegeben, während dies im Internet nicht notwendigerweise gegeben ist. Beispielsweise entzieht sich ein Teilnehmer durch Ausloggen der Verantwortung.
 

5.9.3.9 Kommunikationsgenossenschaften (Civic Communications Cooperative (CCC))

Der Einsatz von elektronischen Bürgerversammlungen erfordert für Barber zusätzlich die Einrichtung von Kommunikationsgenossenschaften (Barber, 1994). Diese sind für die partizipatorische und republikanische E-Demokratie notwendig, da sie den Bürger vor Manipulationsversuchen schützen wollen. Jene Organisation würde die Hauptverantwortung sowohl für den konstruktiven Einsatz der neuen Telekommunikationstechnologie übernehmen als auch für den Schutz des Einzelnen vor Mißbrauch der Medien durch den privaten und öffentlichen Sektor sorgen. Ihre Mitglieder würden von mehreren verschiedenen Wählergremien aus Regierungs- und Nichtregierungskreisen gewählt. So könnten ihnen auch von Nachbarschaftsversammlungen bestimmte Delegierte angehören. Der entscheidende Auftrag der CCC wäre die Unterstützung und Garantie des demokratischen Einsatzes der Telekommunikation. Sie würde private Medienunternehmen nicht verdrängen, sondern parallel zu ihnen arbeiten. Ihre Kompetenzbereiche schließen nachstehende Gebiete ein:

Der private Mediensektor steht außerhalb der Regelungskompetenz der CCC. Deren Aufgabe bleibt die Regelung und Gestaltung der eigenen Programme. CCC gestaltet vor allem da, wo der privat-kommerzielle Sektor mangels Profiterwartung untätig bleibt. Bürgergenossenschaften wirken der Gefahr der Monopolisierung und Kanalisierung politischer Kommunikation durch charismatische Demagogen oder durch einflußreiche Interessengruppen entgegen, da implementierte Sicherheitsmaßnahmen sowie Aufklärungskampagnen eingesetzt werden. Ein öffentlich zugängliches und kostenloses Bürgerinformationssystem unter der Regie der CCC würde ein möglichst umfassendes Angebot an Informationen unterbreiten.

Eine Vorsichtsmaßnahme gegen ein Abweichen der CCC von ihren spezifischen Funktionen wäre die Einrichtung eines Überwachungskomitees im Parlament (Barber, 1994).

Mit neutraler Moderation und individueller Begrenzung der Redezeiten sollte ein breites Spektrum von Meinungen und Argumenten in jede ESV eingehen. Auch können Bürger aus anderen Regionen und Nationen in ESVen zur Moderation oder Diskussion eingeladen werden. Deliberative Umfragen stellen eine weitere korrigierende Kraft dar, um irrationale Standpunkte zu relativieren. Ein wesentlicher Baustein ist ein System von "Checks And Balances", das diese Institution auszuarbeiten hat, um Manipulationssicherheit zu garantieren.