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Der Apfel

Eines Tages merkte er, dass am Fensterrahmen der Lack gesprungen war und abzusplittern begann. Zuerst dachte er:" Wieso?" An den folgenden Tagen beobachtete er, dass eine kleine Beule aus Holz entstand, die grösser wurde. 'Ein wenig unheimlich', dachte er, sagte aber niemandem etwas davon. 
Er begann ernsthaft an seinem Verstand zu zweifeln, als er erkennen musste, dass ein kleiner Ast aus dem Fensterrahmen wuchs, der sonst normal und unverändert geblieben war. Er hielt sich nun hauptsächlich in diesem Raum auf. Er schob sogar sein Bett vor das Fenster, um nichts von dem Wachsen des seltsamen Keimes zu versäumen. Er hatte seit dem Entstehen der Beule niemanden mehr eingeladen, da er dieses seltsame Ereignis mit keinem Menschen teilen wollte. Der Ast bekam Knospen, Blätter und Blüten, die zart dufteten. Nach drei Wochen hing ein kleiner Apfel an dem Zweig. Er pflückte ihn und ass ihn auf. Der Ast fiel ab. Was blieb war ein Loch im Lack. Er besserte den Schaden aus.
Dann lud er seine Freunde ein..

Aus der Schachtel

Das kleine Mädchen

Es war einmal ein kleines Mädchen mit blondem Haar und blauen Augen. Jeden Morgen, wenn es aufwachte, dachte es:“ Ach, wär´ ich doch schon größer, als ich jetzt bin.“ Dann streckte und reckte sich das kleine Mädchen, weil es dachte, dadurch würde es größer werden.
Doch es wurde nicht größer, sondern kleiner.

Zuerst merkte dies niemand, denn das kleine Mädchen wurde nur langsam kleiner. Zuerst hörte es auf zu wachsen. Dieser Zustand dauerte eine Zeitlang an. Nach einiger Zeit wurden ihm seine Schuhe zu groß. Dann die Strümpfe, die Kleider und die Pullover. „Was ist das nur!“, sagte die Mutter verzweifelt. „Was ist das nur!“, sagte auch der Vater, genauso verzweifelt. Und die Grosseltern, Tanten und Onkel sagten das gleiche.

Die Mutter des kleinen Mädchens brachte das kleine Mädchen zum Arzt. Der Arzt fragte: “Was ist das nur?“, schüttelte seine ergrautes Haupt und runzelte sorgenvoll die Stirn. „Ja, wenn sie das nicht wissen...“ meinte die Mutter des kleinen Mädchens und führte das kleine Mädchen wieder nach Hause. „Wir müssen kleinere Sachen kaufen.“, sagte der Vater des kleinen Mädchens. „Ja, wir müssen kleinere Sachen kaufen.“, sagte auch die Mutter des kleinen Mädchens. „Ich brauche kleinere Sachen!“, rief das kleine Mädchen, und freute sich.

Sie gingen, und kauften kleinere Sachen. Eine kleine Hose, ein kleines Kleid, ein kleines Nachthemdchen, kleine Schuhe. „Ich brauche aber auch ein kleineres Bett und einen kleineren Sessel und einen kleineren Tisch!“, sagte das kleine Mädchen. „Ja, das brauchst du!“, sprach der Vater. Alle zogen sich wieder an und gingen zum Tischler.

Der Vater sagte: „Guten Tag, Herr Ebenholz! Wir brauchen kleinere Möbel für unser kleines Mädchen!“. „Ja, das brauchen wir!“, sagte die Mutter. „Der Tischlermeister sah stirnrunzelnd das kleine Mädchen an, und meinte: “Ja, das brauchen sie. “ Das kleine Mädchen sagte jetzt nichts, denn es hatte in einer Ecke des Geschäftsraumes eine kleine Sitzecke entdeckt: “ Die will ich!“, rief das kleine Mädchen. „Die will es!“, riefen die Eltern gleichzeitig, denn die Sitzgarnitur gefiel ihnen auch. „Die wollen sie!“ rief der Tischlermeister Ebenholz, nahm ein Stück Packpapier, und wickelte die Sitzecke hinein.

„Geht es so?“, fragte er. „Ja“, sagte der Vater des kleinen Mädchens. „Ja“, sagte auch die Mutter des kleinen Mädchens und lächelte freundlich. „Komm, sagte sie zu dem kleinen Mädchen, und wandte sich um. „Komm!“, sagte auch der Vater des kleinen Mädchens, und wandte sich ebenfalls um. „Ja, wo bist du denn?“, fragte Tischlermeister Ebenholz, und wandte sich nach allen Seiten um. Das kleine Mädchen kam nicht. Es war verschwunden.

23.03 , Donnerstag, 14.Oktober 1999

 

Der König

Der König saß in seinem prunkvollen Schlafgemach und schmollte. Alles drehte sich um seine beiden Töchter. Niemand zollte ihm die Aufmerksamkeit, die ihm, wie er meinte, gebührte. Er nahm einen seiner, vor vielen Jahren von seiner Amme gestrickten Schmusepolster und warf ihn trotzig gegen die, mit dunkelrotem Brokat bezogene Wand. Der Polster prallte mit einem leisen Geräusch auf und fiel wieder auf sein Doppelhimmelbett. „Umsonst!“ rief er, und nahm den Polster noch einmal zur Hand und warf ihn gegen die gegenüberliegende Wand. Hiezu musste er sich schon wesentlich mehr anstrengen. Er hatte weiter ausholen und mehr Kraft in den Wurf legen müssen, damit der Polster die andere Wand hatte erreichen können. Diesmal fiel er auf den Boden. Genauer gesagt, auf den Teppich aus Persien, den er von König Alimusa ben Karu del doma ni lo Kabul als Gastgeschenk erhalten hatte, als er vor Jahren zu dessen 42 Geburtstag dort eingeladen gewesen war.

Der Schmusepolster lag nun auf dem Teppich. Der König blickte ihn böse an. Auf einmal war ihm, als hörte er eine leise Stimme: “Sagaradadu, su su, luhumu zulu..“ Erschreckt fuhr ein die Höhe und sah um sich. Da! Er hörte das Gleiche noch einmal:“ Sagaradadu, suu suu, luhumu zuluu!“
„Wer ist da?“ , rief er und sprang aus dem Bett, in dem er gesessen war. Es blieb still. Er bückte sich und sah unter sein Bett. Da war nichts. Er ging zum Schrank und öffnete die Tür. Auch hier nichts. Ihm wurde unheimlich zumute. „Was ist für ein dummer Scherz! Zeig dich, Unhold! Du wagst es dich hier zu verstecken und mir Angst einzujagen? Das wird dir nicht wohl bekommen! Ich werde dich finden!“

Der König warf alle seine Polster, Decken und auch das Bettlaken auf den Boden. „Es kann nur in der Matratze sein!“, dachte er. Dann kramte er hektisch in seiner Nachttischlade und nahm das dort für Notfälle aufbewahrte Stanleymesser heraus, und begann eine Matratze nach der anderen aufzuschlitzen. Natürlich war nichts darin außer den Metallfedern und dem weichen Material, das sich in Federkernmatratzen eben findet. Der König kratzte sich den Kopf. Die Angelegenheit beunruhigte ihn zutiefst. In seinem Prunkgemach sah es nun aus, wie auf einem Schlachtfeld.

Wie ein Blitz schoss ein Gedanke durch seinen Kopf. „Die Tapetentür!“, rief er laut und stürmte in die Ecke, wo sich diese befand. Er erstarrte. Die Tür war nicht da. Er rückte seine Brille zurecht und begann an der Wand herum zu tasten, als ob sie dadurch sichtbar werden könnte. An der Stelle, an der sich, so lange er denken konnte, die kleine Tapetentür befunden hatte, war nur dunkelrote Brokattapete und sonst nichts.

Keine Ritze, kein Spalt, kein goldener Knauf, nur Wand. Er stöhnte qualvoll auf und raufte sich das Haar, so dass es ihm zu Berge stand. Ihm wurde siedendheiß vor Angst. Er riss sich verzweifelt den Schlafrock vom Körper und suchte mit seinem Blick den hölzernen Herrendiener, auf den er seine Kleidung deponierte, nachdem er sich ihrer entledigt hatte.

Was er insgeheim befürchtet hatte, war Wirklichkeit geworden: Auch der Herrendiener war weg, mitsamt seinem Gewand. Ehe er fassen konnte, was mit ihm geschah, wurde das große Doppelfenster von einem gewaltigen Windstoss aufgerissen. Eine ungeheurer Sog erfasste ihn und riss ihn zum Fenster hinaus ins jaulende Heulen des tobenden Sturms. Ein irrer Schrei löste sich aus seiner Kehle als er sah, dass er im Begriff war, mit urgewaltiger Wucht hinunter auf den Boden geschleudert zu werden.
Er schrie und schrie. Er schrie noch immer, als er aufwachte und sah, dass er in seinem Bett lag.
Der Kammerdiener trat ins Zimmer:“ Sir?“, frage er mit emotionsloser Stimme und sah ihn gelangweilt an.

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