Geschichten


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Der Schmetterling

Eine wahre Geschichte 

Vor ein paar Tagen sah ich, ich glaube es war Dienstag oder Mittwoch, als ich mit meinem Hund die tägliche, abendliche Runde vollzog, einen Schmetterling in der Ecke zwischen einer Hauswand und dem Gehsteig sitzen.Ich blieb stehen, und sah ihn an. Ich dachte nach. Wenn er sich verirrt hatte, und ihn der Wind irgendwo dagegen geworfen hatte, und er hier abgestürzt war, so war das nun sein Ende.

Im Straßenstaub, fern von jeder Blüte, sichtbar für jeden, nach Futter jagendem Vogel  und erreichbar für jede auf einem zutretenden Fuß befindliche Schuhsohle saß er da und regte sich nicht.Ein unwürdiges Ende für dieses prachtvolle Wesen, das ich vielleicht sogar hatte tanzen sehen, über den blauen Blumen in der Mittagssonne.

Ich könnte ihn zu den nächsten Blumen bringen, so dass er dort sein Ende finden könne, überlegte ich.Ich nahm also meinen kleinen Notizblock heraus, den ich immer nebst einem kleinen Bleistift  in der Tasche bei meinem Handy stecken habe, und begann ihn mit einem Zettel, den ich schnell herausgerissen hatte, aufzunehmen.

Es funktionierte! Er bewegte seine Beinchen ein wenig, als wolle er mithelfen, von seinem schrecklichen Platz wegzukommen. Vorsichtig bog ich das kleine Papierblatt an den Kanten über ihm zusammen, um ihn nicht zu berühren, da dies todsicher sein tatsächliches Ende bedeuten würde, und um ihn auch vor dem Wind zu schützen, der ihn sofort wieder von Blatt gestreift hätte, wäre es flach ausgebreitet.

Ich trug ihn also vorsichtig über die Kreuzung, nicht achtend auf die mich streifenden Blicke der mir begegnenden Leute, und weiter di Straße entlang, zu den kleinen Rosenbeeten. Unterwegs fiel mir ein, dass es für ihn noch schöner sein müsste, wenn er bei seinen geliebten, blauen Blumen im Beet bei der Brücke sein könnte, wenn er schon sterben musste.

Daher ließ ich ihn nun doch nicht bei den Rosen, sondern bog dort in der Gasse gleich wieder rechts ein und begab mich auf den Weg zur Brücke. Der Schmetterling saß in seiner papiernen Hülle und wir indessen Millimeterweise in Richtung meines Zeigefingers gewandert, dessen Spitze sich zwischen den beiden Kanten des über dem Schmetterling Zusammengebogenen Papiers befand, um sie auseinander zu halten.

 Erschrocken sah ich, dass eine seiner Flügel mit dem oberen Rand an meinem  Finger  anlag. Jetzt hatte er sich sicher den Flügel beschädigt, und würde nicht mehr fliegen können, wenn das nicht bereits vorher schon passiert war. Ich zog nämlich auch in Betracht, dass er vielleicht von einem Kind gefangen worden war, das ihn an den Flügeln gefasst hatte, und er deshalb abgestürzt war.

An dem Platz mit den blauen Blumen, zu dem ich ihn jetzt trug, war es nämlich ein Leichtes, einen der flatternden Tänzer einzufangen, wenn er sich auf eine der Blüten gesetzt hatte, und die Flügel in der Sonne weit auseinander faltete.

Was ich schon gesehen hatte, als ich aufgehoben hatte, war, dass er genauso aussah, wie der Schmetterling, den ich fotografiert hatte. Er hatte die gleichen, schwarzen Flügelunterseiten, und mir kam vor, auch das gleiche Muster darauf. Ob es ein Zufall war? Ob es wirklich der gleiche Schmetterling war, der mir bereits einmal begegnet war? Hatte er nun nochmals meinen Pfad gekreuzt, damit ich ihn retten konnte?

Der Weg war jetzt zu Ende. Wir waren da, bei dem Beet mit den schönen, blauen Blumen. Ich band  den Hund mit der Leine an das nahe Geländer und stieg vorsichtig in die Zwischenräume zwischen den Blumen, um sie nicht zu beschädigen, denn mein Ziel lag mittendrin. In der Mitte angelangt, setzte ich den Schmetterling auf eine der blauen Blüten,  aber er war schon zu schwach geworden. Er konnte sich nicht daran festhalten, und fiel auf die darunter befindlichen, grünen Blätter der Blume.

Ich nahm ihn nochmals mit dem kleinen Stück Papier auf, und versuchte ein zweites Mal, ihn auf di Blüte zu setzen, damit er sich vielleicht stärken könne. Ich dachte, er würde vielleicht Nektar zu sich nehmen, wenn er das Zentrum der Blüte wahrnahm. Doch es gelang mir nicht. Der Schmetterling hatte zu wenig Kraft, um sich mit seinen schwachen Beinchen an der Blüte festzuhalten, und stürzte wieder tiefer, zwischen die Blumen, und blieb auf einem Blatt hängen, auf dem er so sitzen blieb, wie darauf gefallen war.

 Zweimal versuchte ich es noch, dann lies ich ihn schweren Herzens zwischen den grünen Blumenblättern sitzen. Wehmütig sah ich ihn an, und nahm Abschied. Er würde sterben. Aber er würde die letzte Zeit seines Lebens nicht auf dem Boden im Staub der Stadt, der er seine Schönheit geschenkt hatte, verbringen, sondern da, wo er am schönsten getanzt hatte, bei seinen geleibten, blauen Blumen. Vorsichtig verließ ich das Blumenbeet wieder.

Als ich am nächsten Tag wieder von zu Hause weg gegangen war, fiel mir der Schmetterling wieder ein. Beim Blumenbeet machte ich wieder halt, hängte den Hund ans Geländer und balancierte wieder vorsichtig  zwischen den Blumen hin zum Beet mit den blauen Blüten. Sie stehen verhältnismäßig dicht, und ich musste sie mit der Hand ein wenig auseinander drücken, um zwischen die Blumen hineinsehen zu können. Meine Blicke streiften den Boden, ich erwartete, den Schmetterling auf der Erde liegen zu sehen, denn dahin musste er gestürzt sein, wenn er sich nicht mehr auf den Blättern hatte halten können. Ich sah ihn aber nicht.

Ob ich an der falschen Stelle nachsah? Ich untersuchte nun einen etwas größeren Umkreis, doch da lag nirgends ein toter Schmetterling auf der Erde zwischen den Blumenstängeln!

Eine Freude durchströmte mich plötzlich: Er hatte überlebt! Er hatte mutig bis zum Morgen durchgehalten und war fort geflogen! Der Schmetterling hatte, gestärkt durch die Ruhe der Nacht, im Licht des Tages den Heimweg gefunden. 

Und sie dachte an den Wind 

der durch ihr Har zauste, wenn sie über die Weiden schritt, nie müde werdend im Tänzeln, und sie dachte dem Sommer, der warm und mit seinen Sonnenfingern ihren Rücken streifte, während sie den Zaun entlang schritt. Und sie dachte an die wiederkäuenden Kühe, die dumm blickend am Hügel standen, mit runden Augen, nicht verstehend und doch so unendlich zufrieden mit ihrer Welt, weil sie nicht wussten, nichts wussten, und sie dachte an den Himmel, der blau und klar über ihr sich bog, wenn sie im Feld stand, und die Garben band. Daran dachte sie während der Eiswind im Gehen an ihr rüttelte und sie fast umwarf, während die Last auf ihrem Rücken immer schwere wurde, und sie den Schal schon nicht mehr über Kinn und Wangen hinaufzog, weil es sinnlos war, sich verstecken zu wollen, vor der schneidenden, gnadenlosen Kälte, die bis ins Innerste ihrer Knochen drang, stetig, mit einer boshaften, stählernen Geduld.  "Ich muss weitergehen, muss weitergehen", dachte sie verzweifelt, und sie setzte einen Fuß vor den andern, stetig, stemmte sich gegen den Sturm, biss die Zähne zusammen, um sich zu fühlen, um zu wissen, dass sie noch da war, noch am Leben war, auch wenn sie ihre Füße schon längst nicht mehr fühlen konnte. Ihr Haar, das unter dem Kopftuch hervorlugte, war gefroren und auch die Wimpern, doch sie wusste es nicht. Sie wusste nur, sie würde das Haus erreichen, sie musste das Haus erreichen, weil da jemand war, der auf sie wartete. So ging sie, und ging und ging, bis sie den hellen Schein sah, nach der letzten Wegbiegung.  Sie atmete nicht auf, und kein Funken Freude glomm in ihr. Sie setzte weiter Fuß vor Fuß bis sie in der Türe stand, die sie irgendwie geöffnet hatte, und fast unhörbar sagte sie  in die helle, warme Stube hinein: "Ich bin da.". Dann brach sie zusammen.

2004 

Der Urgroßvater des Erzählers stimmte einen seltsamen monotonen Singsang an, der aus Bruchstücken der alten, längst vergessenen Sprache  bestehend, welche die Ahnen vor langer Zeit gekannt hatten. Er schaukelte seinen Oberkörper leise  ein wenig im Rhythmus der Melodie hin und her und seine Augen begannen sich zu beleben und sein kleines, altes verhutzeltes Gesicht begann zu leuchten. "Hei!", sang er mit dünner Stimme und er hob seine Arme so hoch er konnte über seinen Kopf und schwang sie hin und her und man  konnte darin das schrille Wiehern der Hengste in den Pferdeherden der weiten Ebene, das Blöken der kleinen Lämmer hinter den Gattern, das Rauschen des Windes und den überirdisch klingenden Gesang der Nachtigall fühlen. Nach dem dritten 'Hei' hatte sich seine Kraft erschöpft.  Er sank wieder in sich zusammen er kehrte zu seinem leiernden, monotonen  Singsang zurück. Er nahm zwei Holzstücke und klopfte mit dem einen auf das andere, damit der Rhythmus des alten, vergessenen Liedes etwas deutlicher würde und der Großvater und der Vater des Erzählers und auch der Erzähler selber erhoben nun auch ihre Stimmen und begannen das alte Lied zu singen, während sie mit ihren Holzstücken den Rhythmus klopften.

So ging dieser Tag zu Ende, noch viele andere würden diesem folgen bis zum letzten ihrer Tage, um den sie wohl wussten.

Und noch viele Geschichten würden dieser einen folgen,  denn diese kamen und gingen, wie es ihnen beliebte. Einmal waren es die Schatten, die  sich dunkel und schwarz aufbäumten, dann wieder die Sonnenstrahlen, die klingend und klimpernd zu sprechen begannen. 

Die Geschichten waren da, man musste  sie einfach nur erzählen.

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