Diagnose falsch gestellt.
Das allerdings ist ein heikles Thema. Denn vielen schulmedizinisch
ausgebildeten Therapeuten fällt es schwer, sich auf ein so völlig
anderes Diagnose- und Therapie-System wie das der Traditionellen
Chinesischen Medizin (TCM) einzulassen. Daher wird oft westliche
Diagnostik mit östlicher Behandlung - vor allem Akupunktur -
kombiniert. Legitim mag eine solche „Behandlungs-Mixtur“ dadurch
scheinen, dass auch in einigen Ausbildungen die Indikation von
Akupunkturpunkten hauptsächlich aus Sicht der westlichen Medizin erklärt
wird - also quasi nach dem Kochbuch-Schema: „Hier ist Punkt x, da muss
man reinstechen, wenn es da und da weh tut“. Völlig außer acht
gelassen wird in solchen „Ausbildungen“ die Bedeutung einer
umfassenden Diagnostik und der energetischen Wirkung der einzelnen
Akupunkturpunkte. Die direkte Folge ist, dass sich Fälle häufen, in
denen eine Akupunkturbehandlung kontraindiziert war oder falsch ausgeführt
wurde. Dazu zwei Beispiele:
- Bernd K., 45 Jahre alt, seit einigen Jahren Schlafstörungen und
Unruhezustände, kam in meine Praxis, nachdem er bereits sechs Monate
regelmäßig mit Akupunktur behandelt worden war und die Beschwerden
sich immer weiter verschlimmert hatten. Nach etwa vier Wochen, in denen
er Ernährung und Lebensgewohnheiten umstellte und mit Kräutern
therapiert wurde, konnte er wieder durchschlafen. Hier lag eine Erschöpfung
des Blutes und der Substanz zu Grunde. Die Behandlung mit Akupunktur hat
diesen Zustand noch verschlimmert.
- Katrin S., 30 Jahre, hat gerade ein Kind entbunden. Sie litt schon
einige Jahre an starken Kopfschmerzen. Gegen Ende der Stillzeit ließ
sie sich gegen diese Schmerzen akupunktieren. Dabei wurden nach ihrer
Aussage pro Sitzung zirka 30 Nadeln eingesetzt. Bei der dritten Sitzung
bekam sie leichte Krämpfe in den Händen und zu Hause dann einen
Krampfanfall. Sie fühlte sich unruhig und getrieben, litt an
Schlaflosigkeit und Haarausfall. Auch hier wurden Blut und Substanz
durch massive Akupunkturbehandlung geschwächt und das bei einer Frau,
deren Gesamtzustand durch Schwangerschaft und Stillzeit bereits
angegriffen war. Nach einer gezielten Kräuterbehandlung in Verbindung
mit Ruhe, um Blut und Substanz aufzubauen, beruhigten sich die Krämpfe
wieder.
Fazit: Mit Akupunktur lässt sich vieles erfolgreich behandeln. Dennoch
macht sie nur einen kleinen Teil (etwa 20 Prozent) am ganzheitlichen
Behandlungskonzept der TCM aus und sollte nur auf Grundlage einer klaren
Diagnostik von Qi und Blut angewandt werden. Diese wiederum muss deutlich getrennt werden von Diagnostik und Vorgehen aus
schulmedizinischer Sicht.
Was ist Qi?
Qi wird bei uns oft mit dem Begriff Energie gleichgesetzt. In der TCM
wird Qi als ein Energienebel oder Energiedampf beschrieben. Das heißt
als eine substantielle Energie, welche den Körper wärmt, bewegt, aber
auch nährt. Unterschieden wird zwischen vorgeburtlichem und
nachgeburtlichen Qi. Ersteres entspricht dem Potential an verdichtetem,
essentiellen Qi, das jeder Mensch von seinen Eltern mitbekommt. Diese
„vorgeburtliche“ Essenz macht unsere Konstitution und Persönlichkeit
aus. Sie kann nicht aufgefüllt werden, aber lässt sich durch Übungen
wie zum Beispiel Atemübungen, Qigong, Taiji und Yoga beeinflussen. Mit
dem ersten Atemzug und der ersten Nahrungsaufnahme werden daraus „nachgeburtliches“
Qi, Blut und Substanz entwickelt.
Qi wird eingelagert.
Im Laufe jeden Tages verbrauchen wir einen Teil unseres Qi. Der Rest
wird verdichtet und im Schlaf vor 24 Uhr als Substanz oder Essenz
eingelagert. Die Vereinigung von vorgeburtlicher und nachgeburtlicher
Essenz wird Nierenessenz genannt. Die Sammlung dieser Nierenessenz kann
man sich wie einen See vorstellen, der räumlich zwischen den Nieren
lokalisiert wird. Dieser See mit Nierenessenz wird im Normalfall durch
das Qi, das aus der Ernährung, Atmung und Lebensweise gewonnen wird,
immer wieder aufgefüllt.
Die „Körper-Flamme“ verbrennt Substanz.
Vergleichbar ist dieses Bild mit einer Kerze. Das Wachs der Kerze
entspricht der Essenz und Substanz, dem „Yin“; die Flamme hingegen
dem Qi und der Wärme des Körpers, dem „Yang“. Diese „Körper-Flamme“
verbrennt ständig Wachs. Je stärker sie angeregt wird - etwa durch Stress, Alkohol, Drogen, exzessive Lebensweise, Schlafmangel oder
Akupunktur - desto mehr Substanz wird verbraucht. Ist die Kerze
heruntergebrannt, gibt es für die Lebensflamme keinen Brennstoff mehr
und wir sterben.
Das Versorgungssystem: die Meridiane.
Mit Qi versorgt wird der Körper durch ein Kanalsystem, dessen
Leitbahnen man Meridiane nennt. Auf diesen Meridianen liegen
Akupunkturpunkte, an denen das Qi gesammelt und weitergeschleust wird.
Gesundheit und Wohlbefinden eines Menschen hängen von Menge, Bewegung
und Fließgeschwindigkeit des Qi ab. Beschwerden hingegen sind immer der
Ausdruck eines Ungleichgewichts zwischen Qi, Blut, Meridianen und
Organen.
Genaue Diagnostik ist die Grundlage.
Ein einfaches Beispiel ist ein lokaler Schmerz, der durch einen Stoß
ausgelöst wird. Dabei wird ein Meridian zusammengequetscht. Es staut
sich Qi, und hinter dem Stau fließt wenig oder kein Qi. Das verursacht
den Schmerz.
Die Behandlungsmethode, die jeder dann instinktiv und spontan ausführt,
ist, den Bereich zu reiben, auszustreichen oder einfach die Hand
draufzulegen. Das regt den Qi-Fluß wieder an und lindert die Schmerzen.
Im Prinzip macht Akupunktur dasselbe, dank der fein abgestimmten
TCM-Diagnostik nur gezielter - und vor allem frühzeitiger.
Denn der Körper ist wie ein empfindliches Messinstrument, das lange
bevor Beschwerden auftreten Veränderungen anzeigt - man muss sie nur
erkennen und verstehen. So entstehen Stagnationen zum Beispiel nicht nur
durch mechanische Beeinflussung. Auch Energieformen wie Kälte, Hitze,
Wind und Feuchtigkeit können bewirken, daß das Qi falsch fließt oder
stockt, ebenso Stress, falsche Ernährung oder körperliche Fehl- oder
Überbelastungen.
Bei Wut steigt das Qi nach oben.
Dabei erzeugt jede dieser krankhaften Veränderungen des Qi- und
Blut-Flusses bestimmte körperliche und psychische Muster. Eingedrungene
Kälte zum Beispiel äußert sich durch Frösteln und die ersten
Anzeichen einer Erkältung wie eine laufende Nase mit klarem Sekret,
leichten Kopfschmerzen bis hin zu Gliederschmerzen. Ein anderes Muster
zeigt sich bei psychischen Ursachen: Entladen sich etwa lang angestaute
Emotionen in einem Wutanfall, steigt das Qi nach oben und macht einen
roten Kopf bis hin zu Kopfschmerzen.
In der Behandlung bestimmt der TCM-Therapeut mit verschiedenen
Diagnosetechniken die Ursachen der Beschwerden, um dann gezielt
eingreifen zu können - ob mit Kräutern oder mit Akupunktur. Ziel der
Behandlung ist in jedem Fall, das körperliche Gleichgewicht und das
Fließen von Qi und Blut wiederherzustellen.
Jeden Menschen individuell erfassen.
Auch wenn eine Anzahl von Menschen gleiche Schmerzen oder Beschwerden
haben, wird das diagnostische Bild auf Grundlage der TCM bei jedem
anders sein. Deshalb rate ich in meinen Ausbildungskursen, immer jeden
Menschen neu und individuell zu erfassen und sich nicht durch westliche
beschriebene Krankheitsbilder festlegen zu lassen. Ich sehe die
Behandlung nach der TCM als eine klar strukturierte und zielorientierte
Methode, nicht nur die Symptome, sondern auch den Ursprung einer
Erkrankung zu behandeln.
Der
Autor
Ralf Luthardt ist Heilpraktiker. Seine erste
Ausbildung in TCM mit dem Schwerpunkt Ernährung erhielt er 1975 bei
Ihor Maygutiak, weitere Ausbildungen beim Kebayoran College of
Traditional Acupuncture Jakarta, dem Avicenna Institut mit Claude
Diolosa und an der Chengdu University of Traditional Chinese Medicine in
der Volksrepublik China. Seit 1990 unterrichtet Ralf Luthardt
Traditionelle Chinesische Medizin: Ernährung, Akupunktur, spezielle
Kurse für Hebammen, Taiji und Qigong in Freiburg, Köln und Zürich
AKUPUNKTUR IN DER PRAXIS
Was passiert im Körper?
Mit Akupunktur wird durch Stechen in die Akupunkturpunkte und
die Manipulation der Nadel (zum Beispiel Drehen) das Qi
aktiviert, sein Fluss reguliert und harmonisiert. Je nach
Beschwerden werden dabei Energiestagnationen zerstreut,
bestimmte Schleusen geöffnet und der Qi-Fluss beschleunigt oder
beruhigt.
Was fühlt man?
Optimal ist es, wenn man beim Einstich ein leichtes Kribbeln fühlt
- das „Dequi“-Gefühl, welches zeigt, dass der Akupunkteur
das Qi getroffen hat. Auch dumpfes Ziehen oder leichtes bis
starkes Elektrisieren können ein Zeichen von „Deqi“ sein.
Manche Patienten spüren sogar, wie sich dieses Gefühl im Körper
ausbreitet. Dabei beschreiben sie oft den genauen Verlauf des
Meridians, auf dem der entsprechende Punkt liegt.
Wie lange müssen die Nadeln „wirken“?
Die Wirkung von Akupunktur beruht ausschließlich auf der
Stichtechnik und der Manipulation der Nadeln. Ein Belassen der
Nadeln in den Akupunkturpunkten für 20 Minuten, wie es sehr häufig
angewandt wird, ist daher eigentlich nicht notwendig.
Andererseits hat das Liegen für einen bestimmten Zeitraum in
unserer bewegten Zeit auch einen harmonisierenden Einfluss auf
den Fluss des Qi.
Wie schnell ist eine Besserung spürbar?
Da der Fluss des Qi gezielt beeinflusst wird, sollte direkt
nach der Nadelung eine Veränderung spürbar sein. Meist stellt
sich spontan das Gefühl von Erleichterung und Verbesserung der
Beschwerden ein. Manchmal ist eine Veränderung nicht klar spürbar,
dann aber sollte zumindest von Behandlung zu Behandlung eine
Verbesserung feststellbar sein. Haben sich die Beschwerden nicht
innerhalb der ersten drei bis fünf Behandlungen verbessert oder
womöglich verschlimmert, sollte die Therapie neu überdacht
werden.
Können sich die Beschwerden „erst- verschlimmern“?
Erstverschlimmerungen wie in der Homöopathie gibt es
eigentlich nicht in der Akupunktur-Therapie, die ausgleichend
und harmonisierend wirken soll. Bestimmte Behandlungtechniken
allerdings können große „Qi-Stasen“ auflösen, so dass das
freigesetzte Qi für eine bestimmte Zeit Beschwerden verursacht.
Diese treten nur über einen begrenzten Zeitraum von Stunden
auf, und ein erfahrener Therapeut sollte im Vorfeld darauf
hinweisen.
Wie viele Nadeln werden gesetzt?
Für eine gezielte Akupunkturtherapie reichen normalerweise
weniger als zehn Nadeln aus. Mit jeder Nadel, die gesetzt wird,
wird auch etwas Qi und Substanz verbraucht. Wenn wir auf das
Bild der Kerze zurückkommen, ist jeder Nadelstich wie das
Blasen in die Flamme (Bewegung des Qi) der Kerze und dadurch
wird auch immer etwas vom Wachs (Substanz) verbrannt.
Ist Akupunktur für jeden empfehlenswert?
Menschen mit geschwächter Konstitution sollten nur mit großer
Vorsicht und Aufmerksamkeit genadelt werden. Hierunter fallen
vor allem Frauen während oder direkt nach der Schwangerschaft,
aber auch alte Menschen und Menschen nach einer langen erschöpfenden
Krankheit. Auch wenn Qi gebunden ist - etwa durch die Verdauung
oder starke emotionale Krisen - oder wenn der Qi- Fluss stark
beschleunigt ist wie durch körperliche Belastungen oder Alkohol
und Drogen, sollte nicht akupunktiert werden.
Kurzdiagnose vor jeder Sitzung
Faktoren wie das Wetter, die Jahreszeit, Stress, die
emotionale Situationen, Anspannung und Entspannung haben einen
Einfluss auf das Fließen von Qi und Blut. Deshalb ist es
wichtig, vor jeder Akupunkturbehandlung einen aktuellen Eindruck
vom Stand von Qi und Blut zu bekommen, um die Therapie daraufhin
abzustimmen. Meist reichen hierfür einige Fragen zum aktuellen
Befinden und das Tasten der Pulse aus.
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