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Die Geschichte der komplexen Zahlen

Die komplexe Zahlenebene

Ein wichtiger Schritt dazu stammt vom dänischen Landvermesser Caspar Wessel (1745 - 1818). Er reichte bei der Königlichen Dänischen Akademie der Wissenschaften eine Schrift mit dem Titel "On Directiones analytiske betegning" (Über die analytische Repräsentation der Richtung) ein, die 1799 veröffentlicht wurde. Seine Absicht war es, mit gerichteten Strecken genauso zu rechnen wie mit Zahlen.

Wessel erklärt zuerst, was er unter einer gerichteten Strecke versteht und wie solche Strecken addiert werden. Das entspricht genau der heute üblichen Vektoraddition. Als nächstes definiert er - zuerst nur für die Ebene -, wie zwei Strecken multipliziert werden. Dazu muss zuerst eine Einheitsstrecke festgelegt werden. Nun werden die Längen der beiden Strecken multipliziert, und das Produkt schließt mit der einen Strecke denselben Winkel ein wie die andere Strecke mit der Einheitsstrecke.

Wie kommt Wessel zu dieser Definition? Bei der Multiplikation von Zahlen gilt ja: ab : b = a : 1. Ebenso soll sich das Produkt zweier Strecken zu einem Faktor genauso verhalten wie der andere Faktor zur Einheit. Das "sich verhalten zu" bezieht Wessel sowohl auf die Länge der betreffenden Strecken als auch auf den Winkel zwischen ihnen.

Nun bezeichnet er die Einheitsstrecke mit +1, die entgegengesetzte Strecke mit -1 und eine dazu normale Linie gleicher Länge mit ε. Aus den Rechenregeln folgt dann, dass ε·ε = -1. Er hat also eine geometrische Interpretation für √-1 gefunden (das ε entspricht unserem i).

Wessel zeigt nun, dass eine Strecke der Länge 1, die mit der Einheitsstrecke den Winkel v einschließt, in der Form cos v + ε sin v geschrieben werden kann und dass man das Produkt zweier Strecken auch berechnen kann, indem man (cos v + ε sin v)·(cos u + ε sin u) nach den gewohnten Rechenregeln für Terme multipliziert. Er hat also tatsächlich eine geometrische Interpretation der imaginären Zahlen gefunden, die mit den üblichen Regeln der Algebra übereinstimmt. In der Folge erklärt er die Division imaginärer Zahlen und das Wurzelziehen und findet eine Beziehung, die der Eulerschen Formel entspricht.

Im zweiten Teil seiner Arbeit versuchte Wessel, die gefundenen Rechenregeln auf Strecken im Raum zu verallgemeinern. Dafür fand er aber keine zufriedenstellende Lösung. (Wie wir heute wissen, ist es nicht möglich, im dreidimensionalen Raum eine Multiplikation zu definieren, die den üblichen Rechenregeln entspricht.) Leider fand Wessels Schrift wenig Beachtung, weil er kein Fachmathematiker war. Sie wurde erst 100 Jahre später wiederentdeckt und ins Französische überstzt. Inzwischen hatten schon andere an dem Problem gearbeitet.

1806 erschien in Paris ein Aufsatz mit dem Titel "Essai sur une manière de représenter les quantités imaginaires dans les constructions géometriques" (Eine Weise, die imaginären Größen durch geometrische Konstruktionen darzustellen). Der Verfasser war nicht angegeben - wie man später herausfand, war es der Hobbymathematiker Jean-Robert Argand (1768 - 1822). Er stellte zuerst fest, dass auch negative Größen nur in bestimmten Zusammenhängen einen Sinn ergeben. Man kann nicht von 0 Pfund 1 Pfund wegnehmen, um -1 Pfund zu erhalten. Aber man kann positive und negative Zahlen als Richtungen auf einer Geraden interpretieren. Eine Zahl ist also durch ihren Absolutbetrag und ihre Richtung bestimmt. Will man jetzt das geometrische Mittel von +1 und -1 bestimmen, so führt das auf die Proportion +1 : x = x : -1 bzw. auf x = √-1. Diese Gleichung kann weder durch eine positive noch eine negative Zahl erfüllt werden. Argand interpretiert x aber als eine Richtung in der Ebene, zu der sich die positive Richtung so verhält wie sie sich zur negativen - daher muss sie auf beide senkrecht stehen. Er erklärt also, genau wie Wessel, "imaginäre" Zahlen als gerichtete Strecken und stellt fest, dass sie genauso "real" sind wie positive und negative Zahlen. Im französischen und englischen Sprachraum bezeichnet man die komplexe Zahlenebene noch heute als "Argand-Diagramm".

Zum endgültigen Durchbruch gelangte die geometrische Interpretation komplexer Größen erst durch Carl Friedrich Gauß (1777 - 1855). (Daher spricht man im deutschen Sprachraum von der Gaußschen Zahlenebene.) Schon in den "Disquisitiones Arithmeticae" (erschienen 1801) bewies er, dass ein regelmäßiges Siebzehneck mit Zirkel und Lineal konstrierbar ist, indem er zeigte, dass die Gleichung z17 = 1 in den komplexen Zahlen mit Hilfe von quadratischen Gleichungen lösbar ist. Wahrscheinlich hatte er schon damals eine Idee davon, dass komplexe Zahlen etwas mit Geometrie zu tun haben. Ganz klar spricht er das erst in seiner Arbeit zur Theorie biquadratischer Reste (1831) aus. Dort führt er die Bezeichnungen "i" für √-1 und "komplexe Zahl" für eine Zahl der Form a + bi ein. Er stellt fest, dass eine solche Zahl durch einen Punkt mit den Koordinaten a und b repräsentiert werden kann, und erklärt die Addition und Multiplikation wie seine Vorgänger, außerdem die Norm aČ + bČ. Schließlich meint er:

"Die angeblichen Schwierigkeiten der Theorie der imaginären Größen rühren zum Großteil von wenig geeigneten Bezeichnungen her. Wenn wir, wie es uns die Vorstellung von zwei Dimensionen nahelegt, diese Größen statt 'positiv, negativ, imaginär' etwa 'vorwärts, rückwärts, seitwärts' genannt hätten, so wäre Einfachheit an die Stelle von Verwirrung, Klarheit an die Stelle von Dunkelheit getreten."
(Theoria residuorum biquadraticorum, S. 105; Übersetzung von mir.)

In der Folge wurde es immer selbstverständlicher, mit komplexen Zahlen zu rechnen. Der irische Mathematiker William Rowan Hamilton (1805 - 1865) ging noch einen Schritt weiter und definierte die komplexen Zahlen ganz formal als Zahlenpaare. Weil jede komplexe Zahl a + bi einem Punkt der Gaußschen Zahlenebene entspricht und jeder Punkt durch seine Koordinaten festgelegt ist, reicht es, das Zahlenpaar (a, b) anzugeben. Jetzt müssen nur noch die Rechenregeln definiert werden:

(a, b) + (c, d) = (a+c, b+d)
(a, b)·(c, d) = (ac - bd, ad + bc)

Die Zahlen der Form (a, 0) entsprechen dabei einfach den reellen Zahlen; (0, 1) bezeichnet man mit i. Man überprüft dann leicht, dass (0, 1)·(0, 1) = (-1, 0); das entspricht genau der Forderung i·i = -1.

Hamilton versuchte auch, entsprechende Rechenregeln für Zahlentripel zu finden. Das gelang ihm nicht, aber er entdeckte dabei die Quaternionen - eine Art Verallgemeinerung der komplexen Zahlen auf vier Dimensionen. Das ist aber eine andere Geschichte.

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