Cashel
20. Juni 1999
Um 90 Pfund erleichtert, mache ich mich auf nach Tipperary, von dem
nicht einmal mein Reiseführer etwas zu vermelden weiß außer dem Hinweis
auf das bekannte Soldatenlied aus dem ersten Weltkrieg. Da es ein
Reiseführer in Englisch ist, heißt das natürlich: Great War. Der Ort
(Stadt?) besteht im wesentlichen aus einer langen Hauptstraße mit einem
auch sonntags geöffnetem SuperValu. Ich halte nur kurz an, kaufe
Proviant und fahre weiter. Sollte es doch irgendetwas Sehenswertes
geben, ich habe es nicht gesehen. Cashel ist die nächste Etappe.
Wer je erwogen hat, einen Urlaub in Irland zu verbringen, kennt die
Sehenswürdigkeit des Ortes wenigstens vom Sehen her: den Rock of Cashel,
einen prächtigen Steinklotz mit Cormac´s Chapel, mit den Ruinen der dem
heiligen Patrick geweihten Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert, einem
Rundturm und Wohngebäuden in einem einzigen ununterscheidbaren Komplex
oben drauf, St. Patricks Cross nicht zu vergessen, bei Sonnenschein
strahlend in monumentalem Glanz. Cashel ist eines der beliebtesten
Postkartenmotive und ich möchte gerne für jedes Foto einen Schilling:
ich wäre der reichste Mann der Welt, beinahe. Zusätzlich versenden
Touristen jedes Jahr tausende von Ansichtskarten mit dem "Rock of Cashel".
Freilich, wie das so ist mit Ansichtskartenfotos, die Sehenswürdigkeit
ist immer bei schönem Wetter aufgenommen. Für mich aber scheint die
Sonne leider nur diesig, ich erinnere mich dafür an die Fotos, die ich
selbst auch schon gemacht habe (bei Sonnenschein). Das verdrießt mich,
was soll ich machen, ich bin jetzt einmal da in Cashel. Ich halte
Ausschau nach der in Richtung Clonmel auf der rechten Strassenseite
etwas versteckten Einfahrt in den Gratisparkplatz. Der Parkplatz ist
fast leer, ich fahre bis ans Ende, gehe an einer Bäckerei, aus der es
duftet, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft, durch eine Einfahrt
und komme auf die Hauptstraße, die N8 von Dublin nach Cork. An meiner
Nase donnert ein schwerer LKW vorbei, Parkplätze gäbe es genug, aber vor
mir sind schon andere dagewesen und haben ihr Auto abgestellt. Was
soll´s, ich habe meines in Sicherheit und brauche nur ein paar Meter
weit zu gehen.
Von meinem Standort kann ich hinter den Häusern auf der anderen
Straßenseite den Rock of Cashel nur erahnen, das macht aber nichts, denn
ich brauche ja nur den Touristen zu folgen, gibt es in Cashel doch nur
eine Sehenswürdigkeit, dort wollen alle hin.
Von der N8 biegt eine schmale Seitengasse nach Norden ab, ich folge ihr
und sehe unvermittelt den Felsen vor mir. Der Rock of Cashel ist
sehenswert von der Ferne, er ist aber genauso eindrucksvoll, wenn man an
seinem Fuße steht und zu der Mauer aufblickt, hinter der die Ruine der
Kathedrale und die wirklich einzigartige romanische Kirche zu sehen ist,
Cormac´s Chapel, die viel älter ist als die Kathedrale, dafür aber
vollkommen erhalten.

Ich komme an einer ehemaligen Kirche vorbei, die von einem Schweizer in
ein teures Restaurant umgebaut wurde (soll am Abend gut besucht sein,
nicht mein Revier freilich), ich achte mehr auf den Herrn, der an der
nächsten Straßengabelung steht und irische Melodien pfeift oder flötet
und mit einer Frau (seiner?) zwischendurch auf Deutsch redet, die
gekommen ist, die von den Touristen gespendeten Münzen einzusammeln.
Kurz überlege ich meine Aussichten, einen Teil der Urlaubskosten auf
ähnliche Weise zu verdienen, aber mehr als Wiener Heurigenlieder traue
ich mir nicht zu und außerdem singe ich gerne, dafür aber schlecht. Ob
mich wer für´s Aufhören bezahlen würde? Bei den beiden Schulmädchen
weiter oben, die aus Leibeskräften mit krähenden Stimmen so falsch
dahersingen, daß es sogar mir auffällt, wäre ich dann bald soweit, fürs
Aufhören Geld zu spenden.
Statt dessen gehe geradeaus weiter, lasse die Abzweigung zum
gebührenpflichtigen Parkplatz rechts liegen. Auf asphaltiertem Weg
steige ich zur Eingangstür der Umfassungsmauer empor, begleitet von
jauchzenden Kindern, die wie die Wahnsinnigen auf dem Hang zwischen der
Straße und der Umfassungsmauer herumturnen. Wäre ich nochmals Kind,
würde ich wissen, was sie jauchzen lässt. So aber erfahre ich es nicht.
Ich zahle meinen Obolus am Eingang, dürfte mir dafür zunächst ein
kleines Museum anschauen, verweigere aber und trete auf die von der
Umfassungsmauer umschlossene Wiese hinaus. Draußen regnet es soeben
waagrecht aus einer einzigen Regenwolke über dem Felsen von Cashel. Ich
gehe daher doch ins Museum zurück, starre lustlos die Nachbildungen von
bronzezeitlichen Schwertern und von mittelalterlichen Steinkreuzen an
und hoffe, daß es zu regnen aufhört. Das tut es erstaunlich rasch, ja,
es wird wirklich schön. Ich geselle mich zu einer Gruppe von Touristen
aus Frankreich, die daher auf französisch belehrt werden und großäugig
dreinschauen. Ich verstehe kein Wort, bin auf mich selbst angewiesen und
besichtige dafür unbeleckt von allzu vielem historischen Ballast die
Kapelle von König Cormac, der sie 1134 weihen ließ. Groß ist sie nicht,
aber in rein romanischem Stil errichtet, in den letzten Jahren gänzlich
renoviert, innen wie außen. An der Fassade sieht man deutlich, wie viele
Mauerquader ausgetauscht worden sind. Wieviel wohl von der Kapelle des
Jahres 1134 noch wirklich übrig und nicht in den Jahrhunderten seither
ausgetauscht worden ist? Manche Fragen soll man nicht stellen.
Die Kathedrale selbst ist wesentlich größer, aber auch entsprechend
weniger eindrucksvoll; sie gehört in die Kategorie: "eine gesehen, alle
gesehen". Mehr als die Ruine der Kathedrale beeindruckt mich das
teilweise eingestürzte Wohngebäude, dessen eingefallene Außenmauer einen
guten Einblick in die ehemaligen Wohnräume gewährt. Am meisten
beeindruckt mich Kunstbanausen allerdings das ganze Ambiente, die weißen
Haufenwolken, die sonnenbeschienen Ruinen, das intensive Grün der Wiese,
mit weissen Grabsteinen längst schon zu Namen gewordener Menschen, an
die sich keiner mehr erinnert, die von niemandem geliebt oder gehasst
werden. Den Daten nach zu schließen, ist der Friedhof bis vor wenige
Jahrzehnte belegt worden, dennoch sind nur wenige Grabsteine vorhanden.
Seit dem 12. Jahrhundert müssen tausende von Menschen beerdigt worden
sein, muß es tausende von Grabsteinen, Grabkreuzen gegeben haben. Was
ist mit den Steinen geschehen? In Häuser eingebaut? Wahrscheinlich. Und
mit den Skeletten der Toten? Liegen sie immer noch unter der grünen
Wiese? Trampeln sozusagen die Touristen scherzend und lachend auf ihnen
herum? Wiederum: Manche Fragen soll man nicht stellen.
An der Westseite der Umfassungsmauer blicke ich auf die Ruine der
Hore-Abbey hinunter. Sie ist zum beliebten Fotomotiv geworden, seit vor
Jahrzehnten ein Heft der Zeitschrift Merian ein klassisch gewordenes
Foto der Abtei auf dem Titelbild zeigte. Einige Jahre später habe ich
dann eine Mauer überklettert, bin zur Hore-Abbey spaziert, über eine mit
Kuhdreck übersäte Wiese und war dort der einzige Besucher. Heutzutage
gibt es von der Straße her eine Schwingtür für Menschen, für Kühe
unpassierbar, einen betonierten Fußweg zur Abtei und ich bin auch nicht
der einzige Besucher, sondern darf mir den Gesang eines Chores von bunt
gekleideten Amerikanerinnen anhören, welche, in alle Farben des
Regenbogens gekleidet, wahrhaftig "Näher mein Gott zu Dir ..... etc."
auf Deutsch singen. Immerhin, die Abtei selbst ist unverändert und im
Kirchenschiff, über das die weißen Wolken ziehen und Krähen kreischend
fliegen, ist von ihrem Gesang nichts mehr zu hören. Inmitten der Ruinen
des Klosters stehend, erweisen sie sich nicht anders als andere Ruinen
von Klöstern in Irland; wirklich anders ist nur die Sicht vom Rock of
Cashel hinunter auf die weite Ebene von Tipperary mit den Abteiruinen im
Vordergrund. Umgekehrt, von der Hore-Abbey ist der Anblick auf den Rock
of Cashel weit weniger eindrucksvoll; die Westfront des Felsens ist
eindeutig nicht die Schokoladeseite. Den Ausflug hätte ich mir sparen
können. Ich entdecke einen Fußsteig, der zum Felsen hinaufführt, ein
kürzerer, wenn auch anscheinend inoffizieller Weg. Ich klettere den mit
Grasbändern durchzogenen Felsen hinauf zur Umfassungsmauer, übersteige
diese und gehe inmitten einer Gruppe deutscher Touristen in die Stadt
hinunter, wo die Touristen in einen wartenden Autobus verladen und neuen
Erlebnissen entgegengekarrt werden.
Ich hingegen lasse mir Zeit, folge der Hauptstraße durch den Ort,
betrachte die Auslagen der Geschäfte zu beiden Seiten und hoffe, daß
jetzt niemand glaubt, das dauere lange. Cashel ist ein kleines Nest,
zwei Straßenkreuzungen und rechts und links Häuser, das ist der
historische Baubestand. Umgeben ist das alles von einigen Häuserzeilen
mit den immer gleichen Reihenhäusern. Natürlich gibt es auch ein Castle,
nahezu unerkennbar umgebaut und als Hotel geführt, einen ehemaligen
Bischofspalast, als Hotel geführt, wahrscheinlich auch nicht billig.
Einen Supermarkt gibt es auch, ich decke dort meinen Bedarf, kaufe
Zeitungen. Mein Parkplatz scheint mir als Schlafplatz nicht so günstig,
ich fahre zum gebührenpflichtigen Parkplatz unterhalb des Felsens -
gebührenpflichtig aber nur bei Ausfahrt vor 18 Uhr abends und nach 9 Uhr
vormittags. Seltsame Regelung, mir nützt sie, ich werde über Nacht
gratis parken. Ich bin auch nicht der Einzige, zwei Wohnmobile parken
auch. Außer als Parkplatz wird der Platz auch dazu benützt, Neulingen
die ersten Fahrversuche zu ermöglichen. Am Abend kurven daher einige
aufgeregte Jünglinge und Maiden auf dem Parkplatz herum, lassen den
Motor aufheulen und abwechselnd wieder absterben, bewegen sich ruckartig
vor und zurück und werden es schon noch lernen. Meinem Auto bleiben sie
ferne, das genügt mir. Zum Abschluss mache ich noch ein Foto vom Felsen
bei Sonnenuntergang:

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